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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

ob er einen Leutnant, einen Hauptmann, einen Stabsoffizier, einen Militärarzt oder
einen Militärbeamten vor sich hat. Bis jetzt war das nicht möglich, wenn der
Offizier den Mantel trug; denn der Mantel verdeckte alle Abzeichen, uxd man
konnte nur an dem mehr oder weniger verwitterten Gesicht den Dienstgrad un¬
gefähr erraten. Daß diese Unsicherheit schon oft Veranlassung zu Mißverständnissen
und Weiterungen gegeben hat, weiß jeder, der Soldat gewesen ist. In andern Armeen
haben sich diese Mantelabzeichen vortrefflich bewahrt, und mau versteht nicht, wie die
Presse gegen eine gute und gesunde Neuerung Front machen kann. Aber genorgelt
muß werden, und da kommt denn eine Zeitung auf das geradezu kindische Bedenken,
daß die Achselstücke auf dem Mantel durch deu Regen leiden wurden, daß der Mantel
ja gerade deshalb getragen würde, die Achselstücke auf dem Waffenrock zu schützen,
und daß der arme Leutnant unmöglich noch vier oder fünf Mark für neue Abzeichen
ausgeben konnte! -- Auch der gute und vernünftige Gedanke, daß der Mantel am
Rücken weit und bequem und mit eiuer Längsfalte versehen sein müsse, will den
Nörglern nicht einleuchten. Und dabei könnten sie sich jeden Tag auf der Straße
überzeugen, wie unmilitärisch und widerwärtig die neue Mode der knapp anliegenden
Mäntel und Paletots aussieht, wie unpraktisch diese sind, und wie der Gurt an den,
Rücken dieser engen Mäntel vollständig zwecklos geworden ist. Es ist ein wahrer
Segen, daß gegen diese Verhunzung der Uniform eingeschritten wird. Der Kriegs¬
minister aber wird sich durch dieses Preßgeschrei hoffentlich nicht ins Bockshorn jagen
lassen und im Reichstage den Militärnörglern, die keine rechte Freude am Heere mehr
aufkommen lassen wollen, eine geharnischte Abfertigung erteilen.


König und Prophetin.

Es sind ganz eigentümliche psychologische Zeugnisse,
die Ludwig Geiger in seinem Buch über Bettine von Arnim und König
Friedrich Wilhelm IV. (Literarische Anstalt, Frankfurt a. M, 1902) den
Archiven entnommen hat und durch verbindenden Text erläutert der Beurteilung
vorlegt. Beide ein paar enthusiastische, begeisterungsfähige Naturen, die, wie der
König selbst es ausspricht, von dem Gemeinen und Alltäglichen nichts wissen wollen --
die aber doch einander innerlich fremd sind und bleiben. Das lehrt der interessante
Briefwechsel, der hier zum erstenmal veröffentlicht wird, aufs neue. Er umfaßt
ein reichliches Jahrzehnt und ist vorwiegend politisch gefärbt. Von den literarischen
Beziehungen fesseln am meisten die schwungvollen Briefdithyramben, die der Ver¬
öffentlichung des merkwürdigen Königsbuches vorausgehen. Denn sie zeigen den
innigsten Zusammenhang mit diesen Poetischen Improvisationen. Die leichte, luftige
Form des Briefes ist Bettinen eben für ihre überquellenden Gedanken das einzig
genehme Gefäß. So erklärt sich auch der auffallende Mangel künstlerischer Kom¬
position in ihren Werken. Sie redet, wies ihr der Geist oder vielmehr das Herz
gebeut, fortreißend und sprunghaft, bald plaudernd wie ein Kind, bald schwärmerisch
wie ein liebendes Weib, bald flammend wie eine -- Prophetin! Ja, zukunfts¬
freudig ist sie wie selten eine. Als Befreierin fühlt sie sich berufen, und als ideale
Vertreterin des Volkes tritt sie an die Stufen des Thrones, das Wort erhebend
für politische, religiöse und soziale Probleme. Denn in dem König sieht sie des
Volkes strahlenden Genius, der es stärken und erleuchten soll zu kühner Tat. So
wird ihr das Königsbuch eine Art Selbstbefreiung, ein heiliges Vermächtnis. Die
neuen Briefe sind also der schönste Kommentar für das Verständnis dieses Werkes,
das Bettinens Verehrer Stahr wegen seiner visionären Sprache nicht unzutreffend
als "Lieder ohne Worte" charakterisierte. Und gerade weil der äußere Erfolg den
Erwartungen ebensowenig wie der innere entsprach, sei an einen begeisterten Lobes¬
hymnus Gutzkows erinnert, der von dem Buch wie berauscht war und uuter der
Devise "Diese Kritik gehört Bettinen" versicherte: "Im Kristallglase ihrer stilistischen
Schönheiten, mit all den wunderlichen, eingeschliffnen Blumen ihrer gewohnten Dnr-
stellungsweise kredenzt die anmutige Zauberin uns diesmal . . . reine, frische Quell¬
flut, reines, kristallhelles Naß vom Börne der Natur, aus der Zisterne der gesunden


Maßgebliches und Unmaßgebliches

ob er einen Leutnant, einen Hauptmann, einen Stabsoffizier, einen Militärarzt oder
einen Militärbeamten vor sich hat. Bis jetzt war das nicht möglich, wenn der
Offizier den Mantel trug; denn der Mantel verdeckte alle Abzeichen, uxd man
konnte nur an dem mehr oder weniger verwitterten Gesicht den Dienstgrad un¬
gefähr erraten. Daß diese Unsicherheit schon oft Veranlassung zu Mißverständnissen
und Weiterungen gegeben hat, weiß jeder, der Soldat gewesen ist. In andern Armeen
haben sich diese Mantelabzeichen vortrefflich bewahrt, und mau versteht nicht, wie die
Presse gegen eine gute und gesunde Neuerung Front machen kann. Aber genorgelt
muß werden, und da kommt denn eine Zeitung auf das geradezu kindische Bedenken,
daß die Achselstücke auf dem Mantel durch deu Regen leiden wurden, daß der Mantel
ja gerade deshalb getragen würde, die Achselstücke auf dem Waffenrock zu schützen,
und daß der arme Leutnant unmöglich noch vier oder fünf Mark für neue Abzeichen
ausgeben konnte! — Auch der gute und vernünftige Gedanke, daß der Mantel am
Rücken weit und bequem und mit eiuer Längsfalte versehen sein müsse, will den
Nörglern nicht einleuchten. Und dabei könnten sie sich jeden Tag auf der Straße
überzeugen, wie unmilitärisch und widerwärtig die neue Mode der knapp anliegenden
Mäntel und Paletots aussieht, wie unpraktisch diese sind, und wie der Gurt an den,
Rücken dieser engen Mäntel vollständig zwecklos geworden ist. Es ist ein wahrer
Segen, daß gegen diese Verhunzung der Uniform eingeschritten wird. Der Kriegs¬
minister aber wird sich durch dieses Preßgeschrei hoffentlich nicht ins Bockshorn jagen
lassen und im Reichstage den Militärnörglern, die keine rechte Freude am Heere mehr
aufkommen lassen wollen, eine geharnischte Abfertigung erteilen.


König und Prophetin.

Es sind ganz eigentümliche psychologische Zeugnisse,
die Ludwig Geiger in seinem Buch über Bettine von Arnim und König
Friedrich Wilhelm IV. (Literarische Anstalt, Frankfurt a. M, 1902) den
Archiven entnommen hat und durch verbindenden Text erläutert der Beurteilung
vorlegt. Beide ein paar enthusiastische, begeisterungsfähige Naturen, die, wie der
König selbst es ausspricht, von dem Gemeinen und Alltäglichen nichts wissen wollen —
die aber doch einander innerlich fremd sind und bleiben. Das lehrt der interessante
Briefwechsel, der hier zum erstenmal veröffentlicht wird, aufs neue. Er umfaßt
ein reichliches Jahrzehnt und ist vorwiegend politisch gefärbt. Von den literarischen
Beziehungen fesseln am meisten die schwungvollen Briefdithyramben, die der Ver¬
öffentlichung des merkwürdigen Königsbuches vorausgehen. Denn sie zeigen den
innigsten Zusammenhang mit diesen Poetischen Improvisationen. Die leichte, luftige
Form des Briefes ist Bettinen eben für ihre überquellenden Gedanken das einzig
genehme Gefäß. So erklärt sich auch der auffallende Mangel künstlerischer Kom¬
position in ihren Werken. Sie redet, wies ihr der Geist oder vielmehr das Herz
gebeut, fortreißend und sprunghaft, bald plaudernd wie ein Kind, bald schwärmerisch
wie ein liebendes Weib, bald flammend wie eine — Prophetin! Ja, zukunfts¬
freudig ist sie wie selten eine. Als Befreierin fühlt sie sich berufen, und als ideale
Vertreterin des Volkes tritt sie an die Stufen des Thrones, das Wort erhebend
für politische, religiöse und soziale Probleme. Denn in dem König sieht sie des
Volkes strahlenden Genius, der es stärken und erleuchten soll zu kühner Tat. So
wird ihr das Königsbuch eine Art Selbstbefreiung, ein heiliges Vermächtnis. Die
neuen Briefe sind also der schönste Kommentar für das Verständnis dieses Werkes,
das Bettinens Verehrer Stahr wegen seiner visionären Sprache nicht unzutreffend
als „Lieder ohne Worte" charakterisierte. Und gerade weil der äußere Erfolg den
Erwartungen ebensowenig wie der innere entsprach, sei an einen begeisterten Lobes¬
hymnus Gutzkows erinnert, der von dem Buch wie berauscht war und uuter der
Devise „Diese Kritik gehört Bettinen" versicherte: „Im Kristallglase ihrer stilistischen
Schönheiten, mit all den wunderlichen, eingeschliffnen Blumen ihrer gewohnten Dnr-
stellungsweise kredenzt die anmutige Zauberin uns diesmal . . . reine, frische Quell¬
flut, reines, kristallhelles Naß vom Börne der Natur, aus der Zisterne der gesunden


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[0066] Maßgebliches und Unmaßgebliches ob er einen Leutnant, einen Hauptmann, einen Stabsoffizier, einen Militärarzt oder einen Militärbeamten vor sich hat. Bis jetzt war das nicht möglich, wenn der Offizier den Mantel trug; denn der Mantel verdeckte alle Abzeichen, uxd man konnte nur an dem mehr oder weniger verwitterten Gesicht den Dienstgrad un¬ gefähr erraten. Daß diese Unsicherheit schon oft Veranlassung zu Mißverständnissen und Weiterungen gegeben hat, weiß jeder, der Soldat gewesen ist. In andern Armeen haben sich diese Mantelabzeichen vortrefflich bewahrt, und mau versteht nicht, wie die Presse gegen eine gute und gesunde Neuerung Front machen kann. Aber genorgelt muß werden, und da kommt denn eine Zeitung auf das geradezu kindische Bedenken, daß die Achselstücke auf dem Mantel durch deu Regen leiden wurden, daß der Mantel ja gerade deshalb getragen würde, die Achselstücke auf dem Waffenrock zu schützen, und daß der arme Leutnant unmöglich noch vier oder fünf Mark für neue Abzeichen ausgeben konnte! — Auch der gute und vernünftige Gedanke, daß der Mantel am Rücken weit und bequem und mit eiuer Längsfalte versehen sein müsse, will den Nörglern nicht einleuchten. Und dabei könnten sie sich jeden Tag auf der Straße überzeugen, wie unmilitärisch und widerwärtig die neue Mode der knapp anliegenden Mäntel und Paletots aussieht, wie unpraktisch diese sind, und wie der Gurt an den, Rücken dieser engen Mäntel vollständig zwecklos geworden ist. Es ist ein wahrer Segen, daß gegen diese Verhunzung der Uniform eingeschritten wird. Der Kriegs¬ minister aber wird sich durch dieses Preßgeschrei hoffentlich nicht ins Bockshorn jagen lassen und im Reichstage den Militärnörglern, die keine rechte Freude am Heere mehr aufkommen lassen wollen, eine geharnischte Abfertigung erteilen. König und Prophetin. Es sind ganz eigentümliche psychologische Zeugnisse, die Ludwig Geiger in seinem Buch über Bettine von Arnim und König Friedrich Wilhelm IV. (Literarische Anstalt, Frankfurt a. M, 1902) den Archiven entnommen hat und durch verbindenden Text erläutert der Beurteilung vorlegt. Beide ein paar enthusiastische, begeisterungsfähige Naturen, die, wie der König selbst es ausspricht, von dem Gemeinen und Alltäglichen nichts wissen wollen — die aber doch einander innerlich fremd sind und bleiben. Das lehrt der interessante Briefwechsel, der hier zum erstenmal veröffentlicht wird, aufs neue. Er umfaßt ein reichliches Jahrzehnt und ist vorwiegend politisch gefärbt. Von den literarischen Beziehungen fesseln am meisten die schwungvollen Briefdithyramben, die der Ver¬ öffentlichung des merkwürdigen Königsbuches vorausgehen. Denn sie zeigen den innigsten Zusammenhang mit diesen Poetischen Improvisationen. Die leichte, luftige Form des Briefes ist Bettinen eben für ihre überquellenden Gedanken das einzig genehme Gefäß. So erklärt sich auch der auffallende Mangel künstlerischer Kom¬ position in ihren Werken. Sie redet, wies ihr der Geist oder vielmehr das Herz gebeut, fortreißend und sprunghaft, bald plaudernd wie ein Kind, bald schwärmerisch wie ein liebendes Weib, bald flammend wie eine — Prophetin! Ja, zukunfts¬ freudig ist sie wie selten eine. Als Befreierin fühlt sie sich berufen, und als ideale Vertreterin des Volkes tritt sie an die Stufen des Thrones, das Wort erhebend für politische, religiöse und soziale Probleme. Denn in dem König sieht sie des Volkes strahlenden Genius, der es stärken und erleuchten soll zu kühner Tat. So wird ihr das Königsbuch eine Art Selbstbefreiung, ein heiliges Vermächtnis. Die neuen Briefe sind also der schönste Kommentar für das Verständnis dieses Werkes, das Bettinens Verehrer Stahr wegen seiner visionären Sprache nicht unzutreffend als „Lieder ohne Worte" charakterisierte. Und gerade weil der äußere Erfolg den Erwartungen ebensowenig wie der innere entsprach, sei an einen begeisterten Lobes¬ hymnus Gutzkows erinnert, der von dem Buch wie berauscht war und uuter der Devise „Diese Kritik gehört Bettinen" versicherte: „Im Kristallglase ihrer stilistischen Schönheiten, mit all den wunderlichen, eingeschliffnen Blumen ihrer gewohnten Dnr- stellungsweise kredenzt die anmutige Zauberin uns diesmal . . . reine, frische Quell¬ flut, reines, kristallhelles Naß vom Börne der Natur, aus der Zisterne der gesunden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/66>, abgerufen am 03.07.2024.