Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.Herbert Spencers System von Vererbung ab; aber die ersten Organismen können die ihrigen doch nicht So weit unser Philosoph. Seine biolo^los,! oder oonstitutional nuits sind Herbert Spencers System von Vererbung ab; aber die ersten Organismen können die ihrigen doch nicht So weit unser Philosoph. Seine biolo^los,! oder oonstitutional nuits sind <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0590" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/293387"/> <fw type="header" place="top"> Herbert Spencers System</fw><lb/> <p xml:id="ID_3367" prev="#ID_3366"> von Vererbung ab; aber die ersten Organismen können die ihrigen doch nicht<lb/> ererbt haben. Außerdem lehnt er die Urzeugung ab, leugnet also, daß sich<lb/> die ersten Organismen aus der unorganischen Welt könnten entwickelt haben,<lb/> und versperrt sich so selbst der an sich zulässigen Annahme, daß jene Bewegungs¬<lb/> richtungen auf die Einwirkung der Umgebung als ihren letzten Grund könnten<lb/> zurückgeführt werden. Spencer antwortet darauf (S. 702 ff. des ersten Bandes<lb/> der Ausgabe von 1898): Der Rezensent hätte recht, wenn man notwendiger¬<lb/> weise einen ersten Organismus annehmen müßte, wenn das Leben an einem<lb/> bestimmten Punkte anfinge, wenn es eine deutlich erkennbare Linie gäbe, die<lb/> den einfachsten Organismus von der organischen Materie schiebe (wo kommt<lb/> die her vor dem Organismus? Wir kennen keine organische Materie, die<lb/> außerhalb eines Organismus entstünde; die paar organischen Verbindungen,<lb/> die es in der Retorte herzustellen gelungen ist, sind noch keine organische<lb/> Materie; auch die aus Organismen gewonnenen Stoffe, wie Eiweiß und<lb/> Zucker, hören, vom Organismus getrennt, sofort auf, organische Materie zu<lb/> sein). Die Evolutionshypothese schließe stillschweigend die Verneinung einer<lb/> solchen Grenze ein (und ist deshalb in dieser Form, weil willkürlich und dog¬<lb/> matisch, unannehmbar). Auch werde die Verneinung desto mehr durch die<lb/> Tatsachen gerechtfertigt, je besser wir sie kennen lernen. Er führt aber keine<lb/> andre Tatsache an, als die wir schon kennen: die außerordentliche Komplexität<lb/> der biologischen Einheiten. Eine Proteinmolekel könne tausend isomere Formen<lb/> annehmen; die Zahl der verschiednen Verbindungen, die ein so vielgestaltiges<lb/> Wesen eingehn könne, lasse sich gar nicht in Zahlen ausdrücken. Eine durch<lb/> solche Verbindung entstandne Molekel nun, die in Komplexität und Struktur<lb/> vielleicht die Proteinmolekel um so viel übertrifft wie diese eine unorganische<lb/> Molekel, möge die eigentümliche Einheit einer besondern Art von Organismen<lb/> sein. Infolge ihres Baues müsse sie einen hohen Grad von Plastizität haben<lb/> und für umbildende Einflüsse äußerst empfänglich sein. Demzufolge vermöchten<lb/> solche Molekeln eine unbegrenzte Zahl verschiedner organischer Strukturen zu<lb/> bilden. Jeder Organismus einer bestimmten Art habe nun seine eigne Art<lb/> solcher Einheiten, die sich mit dem Organismus entwickeln, den sie bilden, mit<lb/> feiner Differenzierung selbst differenzieren und durch dieselben Vorgänge, die<lb/> einen Organismus in verschiedne Arten umbilden, selbst in verschiedne Arten<lb/> umgebildet werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_3368" next="#ID_3369"> So weit unser Philosoph. Seine biolo^los,! oder oonstitutional nuits sind<lb/> wohl als Gebilde zu denken, die in Struktur und Größe zwischen der Molekel<lb/> und der Zelle stehn. Daß die Bestandteile des Organismus einen hohen Grad<lb/> von Vildsamkeit und Umwmidlungsfühigkeit haben müssen, leuchtet ein, und<lb/> die Erklärung, die er von diesen Eigenschaften gibt, dürfte richtig sein. Aber<lb/> so wenig aus höchst bildsamen Ton durch zufällige Erschütterungen jemals<lb/> eine Bismarckbüste hervorgeht, eben so wenig können einige Billionen Molekeln<lb/> bloß darum, weil sie höchst bildsam, vielgestaltig und kombinationsfähig sind,<lb/> für sich allein, ohne daß jemand ihr Zusammenwirken leitet, einen lebendigen<lb/> Bismarck oder auch nur einen Laubfrosch, einen Regenwurm fertig bringen.<lb/> Und nun stelle man sich einen reichgegliederten Organismus vor und bedenke,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0590]
Herbert Spencers System
von Vererbung ab; aber die ersten Organismen können die ihrigen doch nicht
ererbt haben. Außerdem lehnt er die Urzeugung ab, leugnet also, daß sich
die ersten Organismen aus der unorganischen Welt könnten entwickelt haben,
und versperrt sich so selbst der an sich zulässigen Annahme, daß jene Bewegungs¬
richtungen auf die Einwirkung der Umgebung als ihren letzten Grund könnten
zurückgeführt werden. Spencer antwortet darauf (S. 702 ff. des ersten Bandes
der Ausgabe von 1898): Der Rezensent hätte recht, wenn man notwendiger¬
weise einen ersten Organismus annehmen müßte, wenn das Leben an einem
bestimmten Punkte anfinge, wenn es eine deutlich erkennbare Linie gäbe, die
den einfachsten Organismus von der organischen Materie schiebe (wo kommt
die her vor dem Organismus? Wir kennen keine organische Materie, die
außerhalb eines Organismus entstünde; die paar organischen Verbindungen,
die es in der Retorte herzustellen gelungen ist, sind noch keine organische
Materie; auch die aus Organismen gewonnenen Stoffe, wie Eiweiß und
Zucker, hören, vom Organismus getrennt, sofort auf, organische Materie zu
sein). Die Evolutionshypothese schließe stillschweigend die Verneinung einer
solchen Grenze ein (und ist deshalb in dieser Form, weil willkürlich und dog¬
matisch, unannehmbar). Auch werde die Verneinung desto mehr durch die
Tatsachen gerechtfertigt, je besser wir sie kennen lernen. Er führt aber keine
andre Tatsache an, als die wir schon kennen: die außerordentliche Komplexität
der biologischen Einheiten. Eine Proteinmolekel könne tausend isomere Formen
annehmen; die Zahl der verschiednen Verbindungen, die ein so vielgestaltiges
Wesen eingehn könne, lasse sich gar nicht in Zahlen ausdrücken. Eine durch
solche Verbindung entstandne Molekel nun, die in Komplexität und Struktur
vielleicht die Proteinmolekel um so viel übertrifft wie diese eine unorganische
Molekel, möge die eigentümliche Einheit einer besondern Art von Organismen
sein. Infolge ihres Baues müsse sie einen hohen Grad von Plastizität haben
und für umbildende Einflüsse äußerst empfänglich sein. Demzufolge vermöchten
solche Molekeln eine unbegrenzte Zahl verschiedner organischer Strukturen zu
bilden. Jeder Organismus einer bestimmten Art habe nun seine eigne Art
solcher Einheiten, die sich mit dem Organismus entwickeln, den sie bilden, mit
feiner Differenzierung selbst differenzieren und durch dieselben Vorgänge, die
einen Organismus in verschiedne Arten umbilden, selbst in verschiedne Arten
umgebildet werden.
So weit unser Philosoph. Seine biolo^los,! oder oonstitutional nuits sind
wohl als Gebilde zu denken, die in Struktur und Größe zwischen der Molekel
und der Zelle stehn. Daß die Bestandteile des Organismus einen hohen Grad
von Vildsamkeit und Umwmidlungsfühigkeit haben müssen, leuchtet ein, und
die Erklärung, die er von diesen Eigenschaften gibt, dürfte richtig sein. Aber
so wenig aus höchst bildsamen Ton durch zufällige Erschütterungen jemals
eine Bismarckbüste hervorgeht, eben so wenig können einige Billionen Molekeln
bloß darum, weil sie höchst bildsam, vielgestaltig und kombinationsfähig sind,
für sich allein, ohne daß jemand ihr Zusammenwirken leitet, einen lebendigen
Bismarck oder auch nur einen Laubfrosch, einen Regenwurm fertig bringen.
Und nun stelle man sich einen reichgegliederten Organismus vor und bedenke,
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