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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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George ^>and
von in. I. Minckwitz

s ist oft nachgewiesen worden, daß die literarischen Selbstporträts
! bedeutender Persönlichkeiten viel an Ähnlichkeit zu wünschen übrig
lassen. Vertrauliche Mitteilungen, Memoiren, briefliche Ergüsse,
insbesondre feierlich abgelegte reumütige Geständnisse muß man
!auch von den berühmtesten Bußfertigen mit Vorsicht annehmen.
Denn niemand kennt sich selbst. Dagegen enthalten zum Ersatze die Werke
hervorragender Schriftsteller ungetrübte Reflexe echter Augenblicksstimmungen.
Sobald sich ein aufmerksamer Leser in die innerste Art eines Autors vertieft,
wird er ungeahnte Schätze heben und mit ihrer Hilfe die Lücken der Biographien
ausfüllen können.

Über George Sand (Aurore Dupin 1804 bis 1876) ist viel geschrieben
worden. Es fehlt weder an Material zu ihrer Lebensbeschreibung noch an be¬
deutenden französischen und ausländischen Interpreten ihres Genies. Aber die
Fülle ihrer Werke und der freimütig darin aufgespeicherten Lebensansichten er¬
möglicht, ja berechtigt zu einer noch schärfern Beleuchtung ihres Charakters und
ihrer geistigen Anlagen. Einige bekannte Daten ihrer Biographie werden unsrer
Betrachtung gelegentlich als Anhaltspunkte dienen. Im Jahre 1822 vermählte
sich die achtzehnjährige Aurore Dupin mit dem ehemaligen Obersten Baron
Dudevcint. Diese Ehe entbehrte bald jeder Harmonie, und ein 1834 ange¬
strengter, ärgerliches Aufsehen erregender Ehescheidungsvrvzeß sicherte der jungen
Frau schließlich neben der seit einigen Jahren fest behaupteten individuellen
Freiheit die gesetzlich anerkannte wirtschaftliche Unabhängigkeit. An diesem Wende¬
punkt ihres Lebens liegt eine Frage nahe: Wie hat sich George Sand, wenigstens
nachträglich, ihre Handlungsweise bewußt zurechtgelegt? Man muß bedenken,
daß Aurore nach dem Tode der feingebildeten Großmutter auf Veranlassung
ihrer Mutter mit einer gewissen Passivität in die Ehe getreten war. In welt¬
fremder Verkennung der Wichtigkeit dieses Schrittes reichte sie einem ungeliebten
Manne die Hand. Als Mutter zweier Kinder verließ sie das Haus des Gatten,
ohne jemals Reue über dieses Wagnis zu empfinden. Niemals hat sich wohl
in ihrer Seele, ganz im Gegensatze zu Madame Stael, der Wunsch nach einem
neuen Ehebunde geregt. An ein pekuniär sorgenfreies Dasein gewöhnt, nahm
sie unerschrocken den Kampf um ein selbständiges Leben auf. Solche eigen¬
mächtigen Umgestaltungen des Frauenlebens gelten für unerhört. Dieses trotzig
begehrte Sichausleben im Weltstrudel einer überdies Mutter gewordnen Gattin
scheint auf den ersten Blick einen Mangel sittlicher Kraft zu bekunden. Aber
George Sand zimmerte sich schon vor Ibsens Nora eine der Bedeutung ihrer
Persönlichkeit angemessene Lebenstheorie zurecht, indem sie namentlich am Anfang,




George ^>and
von in. I. Minckwitz

s ist oft nachgewiesen worden, daß die literarischen Selbstporträts
! bedeutender Persönlichkeiten viel an Ähnlichkeit zu wünschen übrig
lassen. Vertrauliche Mitteilungen, Memoiren, briefliche Ergüsse,
insbesondre feierlich abgelegte reumütige Geständnisse muß man
!auch von den berühmtesten Bußfertigen mit Vorsicht annehmen.
Denn niemand kennt sich selbst. Dagegen enthalten zum Ersatze die Werke
hervorragender Schriftsteller ungetrübte Reflexe echter Augenblicksstimmungen.
Sobald sich ein aufmerksamer Leser in die innerste Art eines Autors vertieft,
wird er ungeahnte Schätze heben und mit ihrer Hilfe die Lücken der Biographien
ausfüllen können.

Über George Sand (Aurore Dupin 1804 bis 1876) ist viel geschrieben
worden. Es fehlt weder an Material zu ihrer Lebensbeschreibung noch an be¬
deutenden französischen und ausländischen Interpreten ihres Genies. Aber die
Fülle ihrer Werke und der freimütig darin aufgespeicherten Lebensansichten er¬
möglicht, ja berechtigt zu einer noch schärfern Beleuchtung ihres Charakters und
ihrer geistigen Anlagen. Einige bekannte Daten ihrer Biographie werden unsrer
Betrachtung gelegentlich als Anhaltspunkte dienen. Im Jahre 1822 vermählte
sich die achtzehnjährige Aurore Dupin mit dem ehemaligen Obersten Baron
Dudevcint. Diese Ehe entbehrte bald jeder Harmonie, und ein 1834 ange¬
strengter, ärgerliches Aufsehen erregender Ehescheidungsvrvzeß sicherte der jungen
Frau schließlich neben der seit einigen Jahren fest behaupteten individuellen
Freiheit die gesetzlich anerkannte wirtschaftliche Unabhängigkeit. An diesem Wende¬
punkt ihres Lebens liegt eine Frage nahe: Wie hat sich George Sand, wenigstens
nachträglich, ihre Handlungsweise bewußt zurechtgelegt? Man muß bedenken,
daß Aurore nach dem Tode der feingebildeten Großmutter auf Veranlassung
ihrer Mutter mit einer gewissen Passivität in die Ehe getreten war. In welt¬
fremder Verkennung der Wichtigkeit dieses Schrittes reichte sie einem ungeliebten
Manne die Hand. Als Mutter zweier Kinder verließ sie das Haus des Gatten,
ohne jemals Reue über dieses Wagnis zu empfinden. Niemals hat sich wohl
in ihrer Seele, ganz im Gegensatze zu Madame Stael, der Wunsch nach einem
neuen Ehebunde geregt. An ein pekuniär sorgenfreies Dasein gewöhnt, nahm
sie unerschrocken den Kampf um ein selbständiges Leben auf. Solche eigen¬
mächtigen Umgestaltungen des Frauenlebens gelten für unerhört. Dieses trotzig
begehrte Sichausleben im Weltstrudel einer überdies Mutter gewordnen Gattin
scheint auf den ersten Blick einen Mangel sittlicher Kraft zu bekunden. Aber
George Sand zimmerte sich schon vor Ibsens Nora eine der Bedeutung ihrer
Persönlichkeit angemessene Lebenstheorie zurecht, indem sie namentlich am Anfang,


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[0480] [Abbildung] George ^>and von in. I. Minckwitz s ist oft nachgewiesen worden, daß die literarischen Selbstporträts ! bedeutender Persönlichkeiten viel an Ähnlichkeit zu wünschen übrig lassen. Vertrauliche Mitteilungen, Memoiren, briefliche Ergüsse, insbesondre feierlich abgelegte reumütige Geständnisse muß man !auch von den berühmtesten Bußfertigen mit Vorsicht annehmen. Denn niemand kennt sich selbst. Dagegen enthalten zum Ersatze die Werke hervorragender Schriftsteller ungetrübte Reflexe echter Augenblicksstimmungen. Sobald sich ein aufmerksamer Leser in die innerste Art eines Autors vertieft, wird er ungeahnte Schätze heben und mit ihrer Hilfe die Lücken der Biographien ausfüllen können. Über George Sand (Aurore Dupin 1804 bis 1876) ist viel geschrieben worden. Es fehlt weder an Material zu ihrer Lebensbeschreibung noch an be¬ deutenden französischen und ausländischen Interpreten ihres Genies. Aber die Fülle ihrer Werke und der freimütig darin aufgespeicherten Lebensansichten er¬ möglicht, ja berechtigt zu einer noch schärfern Beleuchtung ihres Charakters und ihrer geistigen Anlagen. Einige bekannte Daten ihrer Biographie werden unsrer Betrachtung gelegentlich als Anhaltspunkte dienen. Im Jahre 1822 vermählte sich die achtzehnjährige Aurore Dupin mit dem ehemaligen Obersten Baron Dudevcint. Diese Ehe entbehrte bald jeder Harmonie, und ein 1834 ange¬ strengter, ärgerliches Aufsehen erregender Ehescheidungsvrvzeß sicherte der jungen Frau schließlich neben der seit einigen Jahren fest behaupteten individuellen Freiheit die gesetzlich anerkannte wirtschaftliche Unabhängigkeit. An diesem Wende¬ punkt ihres Lebens liegt eine Frage nahe: Wie hat sich George Sand, wenigstens nachträglich, ihre Handlungsweise bewußt zurechtgelegt? Man muß bedenken, daß Aurore nach dem Tode der feingebildeten Großmutter auf Veranlassung ihrer Mutter mit einer gewissen Passivität in die Ehe getreten war. In welt¬ fremder Verkennung der Wichtigkeit dieses Schrittes reichte sie einem ungeliebten Manne die Hand. Als Mutter zweier Kinder verließ sie das Haus des Gatten, ohne jemals Reue über dieses Wagnis zu empfinden. Niemals hat sich wohl in ihrer Seele, ganz im Gegensatze zu Madame Stael, der Wunsch nach einem neuen Ehebunde geregt. An ein pekuniär sorgenfreies Dasein gewöhnt, nahm sie unerschrocken den Kampf um ein selbständiges Leben auf. Solche eigen¬ mächtigen Umgestaltungen des Frauenlebens gelten für unerhört. Dieses trotzig begehrte Sichausleben im Weltstrudel einer überdies Mutter gewordnen Gattin scheint auf den ersten Blick einen Mangel sittlicher Kraft zu bekunden. Aber George Sand zimmerte sich schon vor Ibsens Nora eine der Bedeutung ihrer Persönlichkeit angemessene Lebenstheorie zurecht, indem sie namentlich am Anfang,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/480>, abgerufen am 22.07.2024.