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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Alkohol und Idealismus

blitzt, daß er wieder geliebt werde -- zwei Freunde, die in lauer Sommer¬
nacht auf der Gartenbank ruhn Brust an Brust und das Innerste ihrer Seelen
austauschen -- der Wandrer, dem der Frühling bis ins innerste Mark hinein
strömt, und dessen Seele in das wonnige Weben zerfließt -- der Knabe, der
am Waldrande liegend Kleists Hermannsschlacht liest und den ersten großen,
von der Schule nicht vergällten Eindruck von einem Kunstwerke der Poesie
empfängt: das sind die Glücklichen, die es erleben, wie die Sehnsucht zum
Ziele fliegt.

Solche Zustände sind Geschenke des Himmels; wer sie erlebt, dem ist das
Leben gnädig gewesen, und in stillem Heimweh wartet er auf neue Erweisungen
solcher Gnade.

Aber ist nicht dem Heimweh ein Mittel gegeben, sie herbei zu zwingen?
Warum anders nennen wir sie seelische Trunkenheit, reden wir von einem
Liebesrausche, von einem Rausche musischer Begeisterung, als deshalb, weil
die Wirkung des Weins auf die Seele den Wirkungen ähnlich sieht, die die
Erreger geistiger Bewegungen im Gemüte hervorrufen?

Hier ist der Punkt, wo sich Alkohol und Idealismus berühren.

Der Alkohol vermehrt die Pulsschlüge uno die Atemzüge, beschleunigt
die Strömung des Blutes, gibt ein wohltuendes Gefühl der Wärme. Durch
all dies erhöht er das Lebensgefühl. Er steigert die Empfindung und ver¬
mindert zugleich die Selbstbeherrschung und die Kraft der Überlegung. Hier¬
durch nimmt er Befangenheit und Angst: er ist der Sorgenbrecher. Er ver¬
engert den Horizont der geistigen Umschau, sodaß für das Bewußtsein nur
noch die gesteigerten Gefühle vorhanden sind. So versetzt er in einen seelischen
Zustand, bei dem es dein Menschen vorkommt, als ob seine Seele sich empor¬
gehoben habe über alle Hemmungen des Lebens in die Höhen des Da¬
seins, wo der Mensch in ungetrübter Frende sich selbst genießt und die innere
Freiheit hat, über alles, was ihn sonst schreckt und ängstigt, zu lächeln.

Das ist denn auch die Ursache, warum gerade idealistisch gerichtete
Menschen geneigt sind -- viel mehr als die nüchternen Naturen --, zum
Weine zu greifen, wenn sie etwas erleben, was nach ihrer Wertung es ver¬
dient, durch ein gesteigertes Gefühl gefeiert zu werden. Es liegt darin ein
Werturteil über die Bedeutung der Stunde, also ein echt idealistischer Zug.
In dem Wunsche, das gehörige Maß seelischer Erregung zu empfangen, tut
man das gleiche, was die Hausfrau tut, wenn sie in den Tagen des Über¬
gangs vom Frühherbst zum Spätherbst einbeizen läßt in der Besorgnis, es
möchte die eigne Körperwärme der Hausgenossen nicht zureichen.

Wenn sich drei Freunde in einer fremden Stadt unverhofft begegnen,
wird gerade der Idealist unter ihnen den Vorschlag machen, das Wiedersehen
bei einer Flasche Wein zu feiern. Wenn bei einem Hochzeitsmahle die ein¬
ander fremden Teilnehmer in vorsichtigem Tischgespräch Anknüpfungen suchen,
wird gerade der Idealist den Augenblick herbeisehnen, wo die leise Wirkung
des ersten Glases Champagner die Wangen der Damen rötet und Rede und
Gegenrede lebendiger, freier, wärmer macht. Was er in solchen Stunden
scheut und haßt, nämlich die farblose blutleere Nüchternheit, die werktägige


Alkohol und Idealismus

blitzt, daß er wieder geliebt werde — zwei Freunde, die in lauer Sommer¬
nacht auf der Gartenbank ruhn Brust an Brust und das Innerste ihrer Seelen
austauschen — der Wandrer, dem der Frühling bis ins innerste Mark hinein
strömt, und dessen Seele in das wonnige Weben zerfließt — der Knabe, der
am Waldrande liegend Kleists Hermannsschlacht liest und den ersten großen,
von der Schule nicht vergällten Eindruck von einem Kunstwerke der Poesie
empfängt: das sind die Glücklichen, die es erleben, wie die Sehnsucht zum
Ziele fliegt.

Solche Zustände sind Geschenke des Himmels; wer sie erlebt, dem ist das
Leben gnädig gewesen, und in stillem Heimweh wartet er auf neue Erweisungen
solcher Gnade.

Aber ist nicht dem Heimweh ein Mittel gegeben, sie herbei zu zwingen?
Warum anders nennen wir sie seelische Trunkenheit, reden wir von einem
Liebesrausche, von einem Rausche musischer Begeisterung, als deshalb, weil
die Wirkung des Weins auf die Seele den Wirkungen ähnlich sieht, die die
Erreger geistiger Bewegungen im Gemüte hervorrufen?

Hier ist der Punkt, wo sich Alkohol und Idealismus berühren.

Der Alkohol vermehrt die Pulsschlüge uno die Atemzüge, beschleunigt
die Strömung des Blutes, gibt ein wohltuendes Gefühl der Wärme. Durch
all dies erhöht er das Lebensgefühl. Er steigert die Empfindung und ver¬
mindert zugleich die Selbstbeherrschung und die Kraft der Überlegung. Hier¬
durch nimmt er Befangenheit und Angst: er ist der Sorgenbrecher. Er ver¬
engert den Horizont der geistigen Umschau, sodaß für das Bewußtsein nur
noch die gesteigerten Gefühle vorhanden sind. So versetzt er in einen seelischen
Zustand, bei dem es dein Menschen vorkommt, als ob seine Seele sich empor¬
gehoben habe über alle Hemmungen des Lebens in die Höhen des Da¬
seins, wo der Mensch in ungetrübter Frende sich selbst genießt und die innere
Freiheit hat, über alles, was ihn sonst schreckt und ängstigt, zu lächeln.

Das ist denn auch die Ursache, warum gerade idealistisch gerichtete
Menschen geneigt sind — viel mehr als die nüchternen Naturen —, zum
Weine zu greifen, wenn sie etwas erleben, was nach ihrer Wertung es ver¬
dient, durch ein gesteigertes Gefühl gefeiert zu werden. Es liegt darin ein
Werturteil über die Bedeutung der Stunde, also ein echt idealistischer Zug.
In dem Wunsche, das gehörige Maß seelischer Erregung zu empfangen, tut
man das gleiche, was die Hausfrau tut, wenn sie in den Tagen des Über¬
gangs vom Frühherbst zum Spätherbst einbeizen läßt in der Besorgnis, es
möchte die eigne Körperwärme der Hausgenossen nicht zureichen.

Wenn sich drei Freunde in einer fremden Stadt unverhofft begegnen,
wird gerade der Idealist unter ihnen den Vorschlag machen, das Wiedersehen
bei einer Flasche Wein zu feiern. Wenn bei einem Hochzeitsmahle die ein¬
ander fremden Teilnehmer in vorsichtigem Tischgespräch Anknüpfungen suchen,
wird gerade der Idealist den Augenblick herbeisehnen, wo die leise Wirkung
des ersten Glases Champagner die Wangen der Damen rötet und Rede und
Gegenrede lebendiger, freier, wärmer macht. Was er in solchen Stunden
scheut und haßt, nämlich die farblose blutleere Nüchternheit, die werktägige


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[0270] Alkohol und Idealismus blitzt, daß er wieder geliebt werde — zwei Freunde, die in lauer Sommer¬ nacht auf der Gartenbank ruhn Brust an Brust und das Innerste ihrer Seelen austauschen — der Wandrer, dem der Frühling bis ins innerste Mark hinein strömt, und dessen Seele in das wonnige Weben zerfließt — der Knabe, der am Waldrande liegend Kleists Hermannsschlacht liest und den ersten großen, von der Schule nicht vergällten Eindruck von einem Kunstwerke der Poesie empfängt: das sind die Glücklichen, die es erleben, wie die Sehnsucht zum Ziele fliegt. Solche Zustände sind Geschenke des Himmels; wer sie erlebt, dem ist das Leben gnädig gewesen, und in stillem Heimweh wartet er auf neue Erweisungen solcher Gnade. Aber ist nicht dem Heimweh ein Mittel gegeben, sie herbei zu zwingen? Warum anders nennen wir sie seelische Trunkenheit, reden wir von einem Liebesrausche, von einem Rausche musischer Begeisterung, als deshalb, weil die Wirkung des Weins auf die Seele den Wirkungen ähnlich sieht, die die Erreger geistiger Bewegungen im Gemüte hervorrufen? Hier ist der Punkt, wo sich Alkohol und Idealismus berühren. Der Alkohol vermehrt die Pulsschlüge uno die Atemzüge, beschleunigt die Strömung des Blutes, gibt ein wohltuendes Gefühl der Wärme. Durch all dies erhöht er das Lebensgefühl. Er steigert die Empfindung und ver¬ mindert zugleich die Selbstbeherrschung und die Kraft der Überlegung. Hier¬ durch nimmt er Befangenheit und Angst: er ist der Sorgenbrecher. Er ver¬ engert den Horizont der geistigen Umschau, sodaß für das Bewußtsein nur noch die gesteigerten Gefühle vorhanden sind. So versetzt er in einen seelischen Zustand, bei dem es dein Menschen vorkommt, als ob seine Seele sich empor¬ gehoben habe über alle Hemmungen des Lebens in die Höhen des Da¬ seins, wo der Mensch in ungetrübter Frende sich selbst genießt und die innere Freiheit hat, über alles, was ihn sonst schreckt und ängstigt, zu lächeln. Das ist denn auch die Ursache, warum gerade idealistisch gerichtete Menschen geneigt sind — viel mehr als die nüchternen Naturen —, zum Weine zu greifen, wenn sie etwas erleben, was nach ihrer Wertung es ver¬ dient, durch ein gesteigertes Gefühl gefeiert zu werden. Es liegt darin ein Werturteil über die Bedeutung der Stunde, also ein echt idealistischer Zug. In dem Wunsche, das gehörige Maß seelischer Erregung zu empfangen, tut man das gleiche, was die Hausfrau tut, wenn sie in den Tagen des Über¬ gangs vom Frühherbst zum Spätherbst einbeizen läßt in der Besorgnis, es möchte die eigne Körperwärme der Hausgenossen nicht zureichen. Wenn sich drei Freunde in einer fremden Stadt unverhofft begegnen, wird gerade der Idealist unter ihnen den Vorschlag machen, das Wiedersehen bei einer Flasche Wein zu feiern. Wenn bei einem Hochzeitsmahle die ein¬ ander fremden Teilnehmer in vorsichtigem Tischgespräch Anknüpfungen suchen, wird gerade der Idealist den Augenblick herbeisehnen, wo die leise Wirkung des ersten Glases Champagner die Wangen der Damen rötet und Rede und Gegenrede lebendiger, freier, wärmer macht. Was er in solchen Stunden scheut und haßt, nämlich die farblose blutleere Nüchternheit, die werktägige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/270>, abgerufen am 25.08.2024.