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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Der mitteleuropäische wirtschaftsverein

sie eine Kolonialmacht geworden, ihr Einfluß im Stillen Ozean ist ununter¬
brochen im Steigen, die Vorhersagung, daß mit zunehmend größerer Volks¬
zahl ihre Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse zurückgehn müsse, ist durch
die wachsende Intensität des dortigen Bodenbaues Lügen gestraft worden,
und daß die Vereinigten Staaten heute das erste Eisen- und Stahlland der
Welt sind, ist allgemein bekannt, und nicht weniger sind es die sich daraus
ergebenden Folgen für ihren allgemeinen industriellen Aufschwung. Die
Steigerung der Fabrikatausfuhr wird von Amerika aus systematisch in großem
Stile gefördert und organisiert, wir haben sie sich mehr als verdoppeln sehen
in den letzten fünf Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, wir werden dieses
gewaltige Wachstum wiederkehren und sich selbst überbieten sehen. Dabei ein
innerer Markt, der räumlich so groß wie Europa, aber von einer Einheitlich¬
keit ist, die man in Europa kaum jemals erreichen wird.

Aber gerade hier kann und muß das Bemühen ansetzen, politische und
wirtschaftliche Schranken, die zu eng gezogen sind, zu vermindern. Es werden
immer noch genug Unterschiede übrig bleiben, aber die schädlichsten können un¬
schädlich gemacht werden. Es handelt sich nicht bloß um die gemeinsame Abwehr
dieser "amerikanischen Gefahr." Gegenüber der künstlichen Züchtung von In¬
dustrien durch das "nationale System" der politischen Ökonomie, das in jedem
kleinen Lande jede Spezialität haben will und die Staaten voneinander ab¬
schließt, muß eine gesunde Arbeitsteilung angestrebt werden, die den gegebnen
Verhältnissen entspricht. Verstärkte Konkurreuzkraft, verminderte Produktions¬
kosten, Sicherheit des innern Marktes, diese Vorteile des großen Wirtschafts¬
gebiets sollten die mitteleuropäischen Länder einander, und ihren Produzenten
so gut wie ihren Konsumenten, schaffen.

Diese Einsicht klingt ja auch ganz vernehmlich aus all den neuern
deutschen Schriften über Nordamerika. Es macht keinen Unterschied, ob ein
Geldmann wie Goldberger oder ein Dichter wie Potenz die Vereinigten
Staaten von Amerika schildert: der weite Raum, die "weiträumiger Gedanken"
der amerikanischen Staatsmänner und Unternehmer erregen ihre Bewunderung,
und sie fragen sich: Wie könnte Alteuropa seinen Raum nutzen? Wie könnte
schädliches engräumiges Denken geheilt werden?

Wir verdanken es den seit Jahren mit bewußter Energie fortgesetzten Be¬
mühungen des Breslauer Professors der Staatswissenschaft, Julius Wolf, daß
sich endlich eine Reihe von einflußreichen Geschäftsmännern, Politikern und
Gelehrten auf ein Programm geeinigt hat, das ans dem Wege eines engern
wirtschaftlichen Zusammenschlusses der mitteleuropäischen Länder vorwärts führen
könnte.

Julius Wolf ist als geborner Österreicher, der auch in der Schweiz gelebt
und gewirkt hat, wohlvertraut mit den Ländern Mitteleuropas, die hier zuerst
in Betracht kommen. Er hat seit Jahren ihre wirtschaftliche Annäherung in
besonnener Weise vertreten, bald in Zeitschriften und Zeitungen, bald in Vor¬
trägen in politischen oder Interessentenkreisen. In der seit 1898 von ihm
herausgegebnen Zeitschrift für Sozialwissenschaft haben auch andre diesen Ge¬
danken erörtert; besonders möchte ich auf Sartorius von Waltershausens


Der mitteleuropäische wirtschaftsverein

sie eine Kolonialmacht geworden, ihr Einfluß im Stillen Ozean ist ununter¬
brochen im Steigen, die Vorhersagung, daß mit zunehmend größerer Volks¬
zahl ihre Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse zurückgehn müsse, ist durch
die wachsende Intensität des dortigen Bodenbaues Lügen gestraft worden,
und daß die Vereinigten Staaten heute das erste Eisen- und Stahlland der
Welt sind, ist allgemein bekannt, und nicht weniger sind es die sich daraus
ergebenden Folgen für ihren allgemeinen industriellen Aufschwung. Die
Steigerung der Fabrikatausfuhr wird von Amerika aus systematisch in großem
Stile gefördert und organisiert, wir haben sie sich mehr als verdoppeln sehen
in den letzten fünf Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, wir werden dieses
gewaltige Wachstum wiederkehren und sich selbst überbieten sehen. Dabei ein
innerer Markt, der räumlich so groß wie Europa, aber von einer Einheitlich¬
keit ist, die man in Europa kaum jemals erreichen wird.

Aber gerade hier kann und muß das Bemühen ansetzen, politische und
wirtschaftliche Schranken, die zu eng gezogen sind, zu vermindern. Es werden
immer noch genug Unterschiede übrig bleiben, aber die schädlichsten können un¬
schädlich gemacht werden. Es handelt sich nicht bloß um die gemeinsame Abwehr
dieser „amerikanischen Gefahr." Gegenüber der künstlichen Züchtung von In¬
dustrien durch das „nationale System" der politischen Ökonomie, das in jedem
kleinen Lande jede Spezialität haben will und die Staaten voneinander ab¬
schließt, muß eine gesunde Arbeitsteilung angestrebt werden, die den gegebnen
Verhältnissen entspricht. Verstärkte Konkurreuzkraft, verminderte Produktions¬
kosten, Sicherheit des innern Marktes, diese Vorteile des großen Wirtschafts¬
gebiets sollten die mitteleuropäischen Länder einander, und ihren Produzenten
so gut wie ihren Konsumenten, schaffen.

Diese Einsicht klingt ja auch ganz vernehmlich aus all den neuern
deutschen Schriften über Nordamerika. Es macht keinen Unterschied, ob ein
Geldmann wie Goldberger oder ein Dichter wie Potenz die Vereinigten
Staaten von Amerika schildert: der weite Raum, die „weiträumiger Gedanken"
der amerikanischen Staatsmänner und Unternehmer erregen ihre Bewunderung,
und sie fragen sich: Wie könnte Alteuropa seinen Raum nutzen? Wie könnte
schädliches engräumiges Denken geheilt werden?

Wir verdanken es den seit Jahren mit bewußter Energie fortgesetzten Be¬
mühungen des Breslauer Professors der Staatswissenschaft, Julius Wolf, daß
sich endlich eine Reihe von einflußreichen Geschäftsmännern, Politikern und
Gelehrten auf ein Programm geeinigt hat, das ans dem Wege eines engern
wirtschaftlichen Zusammenschlusses der mitteleuropäischen Länder vorwärts führen
könnte.

Julius Wolf ist als geborner Österreicher, der auch in der Schweiz gelebt
und gewirkt hat, wohlvertraut mit den Ländern Mitteleuropas, die hier zuerst
in Betracht kommen. Er hat seit Jahren ihre wirtschaftliche Annäherung in
besonnener Weise vertreten, bald in Zeitschriften und Zeitungen, bald in Vor¬
trägen in politischen oder Interessentenkreisen. In der seit 1898 von ihm
herausgegebnen Zeitschrift für Sozialwissenschaft haben auch andre diesen Ge¬
danken erörtert; besonders möchte ich auf Sartorius von Waltershausens


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[0265] Der mitteleuropäische wirtschaftsverein sie eine Kolonialmacht geworden, ihr Einfluß im Stillen Ozean ist ununter¬ brochen im Steigen, die Vorhersagung, daß mit zunehmend größerer Volks¬ zahl ihre Ausfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse zurückgehn müsse, ist durch die wachsende Intensität des dortigen Bodenbaues Lügen gestraft worden, und daß die Vereinigten Staaten heute das erste Eisen- und Stahlland der Welt sind, ist allgemein bekannt, und nicht weniger sind es die sich daraus ergebenden Folgen für ihren allgemeinen industriellen Aufschwung. Die Steigerung der Fabrikatausfuhr wird von Amerika aus systematisch in großem Stile gefördert und organisiert, wir haben sie sich mehr als verdoppeln sehen in den letzten fünf Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, wir werden dieses gewaltige Wachstum wiederkehren und sich selbst überbieten sehen. Dabei ein innerer Markt, der räumlich so groß wie Europa, aber von einer Einheitlich¬ keit ist, die man in Europa kaum jemals erreichen wird. Aber gerade hier kann und muß das Bemühen ansetzen, politische und wirtschaftliche Schranken, die zu eng gezogen sind, zu vermindern. Es werden immer noch genug Unterschiede übrig bleiben, aber die schädlichsten können un¬ schädlich gemacht werden. Es handelt sich nicht bloß um die gemeinsame Abwehr dieser „amerikanischen Gefahr." Gegenüber der künstlichen Züchtung von In¬ dustrien durch das „nationale System" der politischen Ökonomie, das in jedem kleinen Lande jede Spezialität haben will und die Staaten voneinander ab¬ schließt, muß eine gesunde Arbeitsteilung angestrebt werden, die den gegebnen Verhältnissen entspricht. Verstärkte Konkurreuzkraft, verminderte Produktions¬ kosten, Sicherheit des innern Marktes, diese Vorteile des großen Wirtschafts¬ gebiets sollten die mitteleuropäischen Länder einander, und ihren Produzenten so gut wie ihren Konsumenten, schaffen. Diese Einsicht klingt ja auch ganz vernehmlich aus all den neuern deutschen Schriften über Nordamerika. Es macht keinen Unterschied, ob ein Geldmann wie Goldberger oder ein Dichter wie Potenz die Vereinigten Staaten von Amerika schildert: der weite Raum, die „weiträumiger Gedanken" der amerikanischen Staatsmänner und Unternehmer erregen ihre Bewunderung, und sie fragen sich: Wie könnte Alteuropa seinen Raum nutzen? Wie könnte schädliches engräumiges Denken geheilt werden? Wir verdanken es den seit Jahren mit bewußter Energie fortgesetzten Be¬ mühungen des Breslauer Professors der Staatswissenschaft, Julius Wolf, daß sich endlich eine Reihe von einflußreichen Geschäftsmännern, Politikern und Gelehrten auf ein Programm geeinigt hat, das ans dem Wege eines engern wirtschaftlichen Zusammenschlusses der mitteleuropäischen Länder vorwärts führen könnte. Julius Wolf ist als geborner Österreicher, der auch in der Schweiz gelebt und gewirkt hat, wohlvertraut mit den Ländern Mitteleuropas, die hier zuerst in Betracht kommen. Er hat seit Jahren ihre wirtschaftliche Annäherung in besonnener Weise vertreten, bald in Zeitschriften und Zeitungen, bald in Vor¬ trägen in politischen oder Interessentenkreisen. In der seit 1898 von ihm herausgegebnen Zeitschrift für Sozialwissenschaft haben auch andre diesen Ge¬ danken erörtert; besonders möchte ich auf Sartorius von Waltershausens

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/265>, abgerufen am 25.08.2024.