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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Aus dem Spreewalde

Nachwelt, daß sie init ihrem Gatten "sechsundzwanzig Jahre in vergnügter Ehe"
gelebt hat -- und doch war sie nicht seine erste Liebe. Denn das Kirchenbuch beginnt
mit der Angabe, daß sich Otto Hieronymus von Stutternheim am 6. Januar 1652
mit Anna Maria von Leipzigin auf Beerwalde hatte kopulieren lassen. Die Pfarrer
von Ogrossen haben fast alle der löblichen Sitte gehuldigt, in den Pfarrakten eine
kurze Selbstbiographie zu hinterlassen. Darunter zeichnet sich der lateinische Lebens¬
lauf des Pfarrers Starcke aus, eines alten Grimmensers, der zu Napoleons Zeit
hier wirkte. Er schließt mit dem Jahre 1813, doch ist 1817 ein aMitÄwöntuw
ssrius hinzugefügt, das mit den Worten beginnt: ?s,trig. einen! Äiviss, v volo <zuoä
illas alni aräöntissillw in Laxoniam rs^lam rsäii.

In und um Ogrossen wird schon längst kein slawisch mehr gesprochen, aber
an Erinnerungen an die Slawenzeit fehlt es nicht. In der ganzen Gegend von
Altdöbern bis hierher und wohl auch weiterhin können die Eingebornen kein an¬
lautendes h aussprechen, sie sagen also: "Der err alte seine and über dich." Auch
kommen hier die aufgeschlitztem Bäume vor, mit denen es folgende Bewandtnis hat.
Ist ein Kind schwer erkrankt, so wird unter bestimmten Zeremonien in der Nacht
ein junger Baum in der Mitte aufgeschlitzt, doch so, daß die Krone unversehrt
bleibt. Der Spalt wird nun auseinandergedehnt, und das Kind wird hindurch¬
gesteckt. Die Sitte hängt wohl mit dem uralten germanisch-slawischen Baumkultus
zusammen. Man denkt sich den Baum beseelt und meint nun, daß er seine gesunde
Lebenskraft bei der Zeremonie mit der kranken des Kindes vertausche. So hängen
ja die Waldhäusler des Erzgebirges gern den Kreuzschnabel ins kleine Stübchen und
meinen, daß die Gebrechen der Insassen auf den armen Vogel übergehn. Der
aufgeschlitzte Baum dient auch als Orakel. Geht er ein, so ist das ein schlimmes
Zeichen für die Lebensdauer des durchgestecktem Kindes. Wächst er trotz der schweren
Verwundung weiter, so hat auch das Kind ein langes Leben. Der Pfarrer zeigte
uns einen solchen aufgeschlitztem Baum im Schloßparke, eine Weide, die sich aber
trotzdem weiterentwickelt hatte.

Auch die Kirche des benachbarten Dorfes Gabler soll eine Erinnerung aus
heidnischer Zeit bewahren. Es ist nämlich in der Außenwand ein aus schwarzem
Stein gehauener Kopf eines slawischen Götzen eingemauert, der als der letzte Rest
eines Tempels des Czernebog aufgefaßt wird. Hat der rätselhafte Kopf wirklich
diesen Ursprung, so liegt die bei der Erhaltung und Einmauerung befolgte Absicht
klar zutage: man wollte die Slawen in die Christenkirche locken, indem man sie
an die Stelle des frühern Tempels baute und sogar dem Slaweugotte ein Plätzchen
an der Außenmauer gönnte. So ist z. B. in Rom über einem alten Heiligtum
aus republikanischer Zeit ein Mithräum und über diesem wieder die Krypta der
Kirche San Elemente errichtet worden.

Aus solchen Betrachtungen wurden wir, als wir von Ogrossen um die Mittags¬
zeit auf der Straße nach Vetschau weiterführen, durch ganze Scharen von Land¬
leuten aufgeschreckt, die in Gesellschaft von Kühen und Kälber, hier und da auch
mit einem mutig dreinschauenden jungen Bullen heimwärts zogen. Demnach mußte
wohl an diesem Tage in Vetschau einer der berühmten Viehmärkte abgehalten werden,
auf denen die Bedeutung der Stadt teilweise beruht. Und in der Tat: die obere
Hälfte der Stadt mit Einschluß des Marktes war noch bei unsrer Ankunft mit be¬
haglich wiederkäuenden Rindern, die untere Hälfte mit muntern Rossen erfüllt. An
der Tür des Rathauses stand oder lehnte vielmehr der Gemeindediener, mit sanft
schwimmenden Augen unter der kriegerischen Pickelhaube hervorschauend, und mit
einem satten Schmunzeln unter dem martialisch gesträubten Schnurrbart, die Beine
gekrümmt unter der Last des Bauches, der aus den Anschwemmungen unzähliger
solcher Viehmärkte entstanden war, und schaute erhaben auf das Getümmel der
Spreewaldbauern und der in ihrer bunten Tracht erschienenen Bäuerinnen, die mit
kundigem Griffe die Wampe einer Kuh oder eines Öchsleins befühlten. Herrlich
anzusehen war besonders eine stattliche Vierzigerin in rotem Rock, schwarzem Sammet-


Aus dem Spreewalde

Nachwelt, daß sie init ihrem Gatten „sechsundzwanzig Jahre in vergnügter Ehe"
gelebt hat — und doch war sie nicht seine erste Liebe. Denn das Kirchenbuch beginnt
mit der Angabe, daß sich Otto Hieronymus von Stutternheim am 6. Januar 1652
mit Anna Maria von Leipzigin auf Beerwalde hatte kopulieren lassen. Die Pfarrer
von Ogrossen haben fast alle der löblichen Sitte gehuldigt, in den Pfarrakten eine
kurze Selbstbiographie zu hinterlassen. Darunter zeichnet sich der lateinische Lebens¬
lauf des Pfarrers Starcke aus, eines alten Grimmensers, der zu Napoleons Zeit
hier wirkte. Er schließt mit dem Jahre 1813, doch ist 1817 ein aMitÄwöntuw
ssrius hinzugefügt, das mit den Worten beginnt: ?s,trig. einen! Äiviss, v volo <zuoä
illas alni aräöntissillw in Laxoniam rs^lam rsäii.

In und um Ogrossen wird schon längst kein slawisch mehr gesprochen, aber
an Erinnerungen an die Slawenzeit fehlt es nicht. In der ganzen Gegend von
Altdöbern bis hierher und wohl auch weiterhin können die Eingebornen kein an¬
lautendes h aussprechen, sie sagen also: „Der err alte seine and über dich." Auch
kommen hier die aufgeschlitztem Bäume vor, mit denen es folgende Bewandtnis hat.
Ist ein Kind schwer erkrankt, so wird unter bestimmten Zeremonien in der Nacht
ein junger Baum in der Mitte aufgeschlitzt, doch so, daß die Krone unversehrt
bleibt. Der Spalt wird nun auseinandergedehnt, und das Kind wird hindurch¬
gesteckt. Die Sitte hängt wohl mit dem uralten germanisch-slawischen Baumkultus
zusammen. Man denkt sich den Baum beseelt und meint nun, daß er seine gesunde
Lebenskraft bei der Zeremonie mit der kranken des Kindes vertausche. So hängen
ja die Waldhäusler des Erzgebirges gern den Kreuzschnabel ins kleine Stübchen und
meinen, daß die Gebrechen der Insassen auf den armen Vogel übergehn. Der
aufgeschlitzte Baum dient auch als Orakel. Geht er ein, so ist das ein schlimmes
Zeichen für die Lebensdauer des durchgestecktem Kindes. Wächst er trotz der schweren
Verwundung weiter, so hat auch das Kind ein langes Leben. Der Pfarrer zeigte
uns einen solchen aufgeschlitztem Baum im Schloßparke, eine Weide, die sich aber
trotzdem weiterentwickelt hatte.

Auch die Kirche des benachbarten Dorfes Gabler soll eine Erinnerung aus
heidnischer Zeit bewahren. Es ist nämlich in der Außenwand ein aus schwarzem
Stein gehauener Kopf eines slawischen Götzen eingemauert, der als der letzte Rest
eines Tempels des Czernebog aufgefaßt wird. Hat der rätselhafte Kopf wirklich
diesen Ursprung, so liegt die bei der Erhaltung und Einmauerung befolgte Absicht
klar zutage: man wollte die Slawen in die Christenkirche locken, indem man sie
an die Stelle des frühern Tempels baute und sogar dem Slaweugotte ein Plätzchen
an der Außenmauer gönnte. So ist z. B. in Rom über einem alten Heiligtum
aus republikanischer Zeit ein Mithräum und über diesem wieder die Krypta der
Kirche San Elemente errichtet worden.

Aus solchen Betrachtungen wurden wir, als wir von Ogrossen um die Mittags¬
zeit auf der Straße nach Vetschau weiterführen, durch ganze Scharen von Land¬
leuten aufgeschreckt, die in Gesellschaft von Kühen und Kälber, hier und da auch
mit einem mutig dreinschauenden jungen Bullen heimwärts zogen. Demnach mußte
wohl an diesem Tage in Vetschau einer der berühmten Viehmärkte abgehalten werden,
auf denen die Bedeutung der Stadt teilweise beruht. Und in der Tat: die obere
Hälfte der Stadt mit Einschluß des Marktes war noch bei unsrer Ankunft mit be¬
haglich wiederkäuenden Rindern, die untere Hälfte mit muntern Rossen erfüllt. An
der Tür des Rathauses stand oder lehnte vielmehr der Gemeindediener, mit sanft
schwimmenden Augen unter der kriegerischen Pickelhaube hervorschauend, und mit
einem satten Schmunzeln unter dem martialisch gesträubten Schnurrbart, die Beine
gekrümmt unter der Last des Bauches, der aus den Anschwemmungen unzähliger
solcher Viehmärkte entstanden war, und schaute erhaben auf das Getümmel der
Spreewaldbauern und der in ihrer bunten Tracht erschienenen Bäuerinnen, die mit
kundigem Griffe die Wampe einer Kuh oder eines Öchsleins befühlten. Herrlich
anzusehen war besonders eine stattliche Vierzigerin in rotem Rock, schwarzem Sammet-


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[0232] Aus dem Spreewalde Nachwelt, daß sie init ihrem Gatten „sechsundzwanzig Jahre in vergnügter Ehe" gelebt hat — und doch war sie nicht seine erste Liebe. Denn das Kirchenbuch beginnt mit der Angabe, daß sich Otto Hieronymus von Stutternheim am 6. Januar 1652 mit Anna Maria von Leipzigin auf Beerwalde hatte kopulieren lassen. Die Pfarrer von Ogrossen haben fast alle der löblichen Sitte gehuldigt, in den Pfarrakten eine kurze Selbstbiographie zu hinterlassen. Darunter zeichnet sich der lateinische Lebens¬ lauf des Pfarrers Starcke aus, eines alten Grimmensers, der zu Napoleons Zeit hier wirkte. Er schließt mit dem Jahre 1813, doch ist 1817 ein aMitÄwöntuw ssrius hinzugefügt, das mit den Worten beginnt: ?s,trig. einen! Äiviss, v volo <zuoä illas alni aräöntissillw in Laxoniam rs^lam rsäii. In und um Ogrossen wird schon längst kein slawisch mehr gesprochen, aber an Erinnerungen an die Slawenzeit fehlt es nicht. In der ganzen Gegend von Altdöbern bis hierher und wohl auch weiterhin können die Eingebornen kein an¬ lautendes h aussprechen, sie sagen also: „Der err alte seine and über dich." Auch kommen hier die aufgeschlitztem Bäume vor, mit denen es folgende Bewandtnis hat. Ist ein Kind schwer erkrankt, so wird unter bestimmten Zeremonien in der Nacht ein junger Baum in der Mitte aufgeschlitzt, doch so, daß die Krone unversehrt bleibt. Der Spalt wird nun auseinandergedehnt, und das Kind wird hindurch¬ gesteckt. Die Sitte hängt wohl mit dem uralten germanisch-slawischen Baumkultus zusammen. Man denkt sich den Baum beseelt und meint nun, daß er seine gesunde Lebenskraft bei der Zeremonie mit der kranken des Kindes vertausche. So hängen ja die Waldhäusler des Erzgebirges gern den Kreuzschnabel ins kleine Stübchen und meinen, daß die Gebrechen der Insassen auf den armen Vogel übergehn. Der aufgeschlitzte Baum dient auch als Orakel. Geht er ein, so ist das ein schlimmes Zeichen für die Lebensdauer des durchgestecktem Kindes. Wächst er trotz der schweren Verwundung weiter, so hat auch das Kind ein langes Leben. Der Pfarrer zeigte uns einen solchen aufgeschlitztem Baum im Schloßparke, eine Weide, die sich aber trotzdem weiterentwickelt hatte. Auch die Kirche des benachbarten Dorfes Gabler soll eine Erinnerung aus heidnischer Zeit bewahren. Es ist nämlich in der Außenwand ein aus schwarzem Stein gehauener Kopf eines slawischen Götzen eingemauert, der als der letzte Rest eines Tempels des Czernebog aufgefaßt wird. Hat der rätselhafte Kopf wirklich diesen Ursprung, so liegt die bei der Erhaltung und Einmauerung befolgte Absicht klar zutage: man wollte die Slawen in die Christenkirche locken, indem man sie an die Stelle des frühern Tempels baute und sogar dem Slaweugotte ein Plätzchen an der Außenmauer gönnte. So ist z. B. in Rom über einem alten Heiligtum aus republikanischer Zeit ein Mithräum und über diesem wieder die Krypta der Kirche San Elemente errichtet worden. Aus solchen Betrachtungen wurden wir, als wir von Ogrossen um die Mittags¬ zeit auf der Straße nach Vetschau weiterführen, durch ganze Scharen von Land¬ leuten aufgeschreckt, die in Gesellschaft von Kühen und Kälber, hier und da auch mit einem mutig dreinschauenden jungen Bullen heimwärts zogen. Demnach mußte wohl an diesem Tage in Vetschau einer der berühmten Viehmärkte abgehalten werden, auf denen die Bedeutung der Stadt teilweise beruht. Und in der Tat: die obere Hälfte der Stadt mit Einschluß des Marktes war noch bei unsrer Ankunft mit be¬ haglich wiederkäuenden Rindern, die untere Hälfte mit muntern Rossen erfüllt. An der Tür des Rathauses stand oder lehnte vielmehr der Gemeindediener, mit sanft schwimmenden Augen unter der kriegerischen Pickelhaube hervorschauend, und mit einem satten Schmunzeln unter dem martialisch gesträubten Schnurrbart, die Beine gekrümmt unter der Last des Bauches, der aus den Anschwemmungen unzähliger solcher Viehmärkte entstanden war, und schaute erhaben auf das Getümmel der Spreewaldbauern und der in ihrer bunten Tracht erschienenen Bäuerinnen, die mit kundigem Griffe die Wampe einer Kuh oder eines Öchsleins befühlten. Herrlich anzusehen war besonders eine stattliche Vierzigerin in rotem Rock, schwarzem Sammet-

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/232>, abgerufen am 23.07.2024.