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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Zwei Seelen

ich wieder. Später stellte sich heraus, daß er ebenso wie seine Frau in das Ge¬
heimnis unsrer Herzen eingeweiht gewesen war, es jedoch entweder für unsinnig
gehalten hatte, sich an fremder Liebestorheit den Humor zu verderben, oder aber,
was wahrscheinlicher ist, auch mit uns nach einem Grundsatz verfuhr, den er ein¬
mal seine silberne Lebensregel genannt hatte: man dürfe unerwünschten Verhält¬
nissen nicht ängstlich ausweichen, sondern müsse sie in einem fröhlichen Lachen er¬
säufen. War dies seine Meinung, so behandelte er uns gewiß auf eine kluge
Weise und verhalf uns zu einem unbefangnen Verkehr. Er würde vielleicht auch
Recht behalten haben, gäbe es nicht eine Grenze, über die auch die größte Klug¬
heit nicht hinüberzugreifen vermag.

So waren jetzt auf dem Weidhofe fröhliche Tage angebrochen, denen glückliche
Abende, woran auch ich zuweilen teilnahm, folgten. Ich sah Maria auch häufig
von ferne, wenn sie etwa mit ihren Leuten über die Wiesen zur Arbeit ging, und
erkannte sie dann schon, wenn ihre Gestalt kaum etwas mehr als ein dunkler Punkt
war, der sich über eine grüne Fläche hinbewegte. Ihr Herankommen und all¬
mähliches Größerwerden zu beobachten war dann für mich das schönste und
wunderbarste Morgeuschauspiel. Aus dem Punkte wurde nach und nach ein Mensch,
und der Mensch verwandelte sich in das allerfreundlichste Menschenbild, das wenn
es unter den Fenstern, hinter denen ich saß, angelangt war, immer einen Augen¬
blick verweilte und dann mit einem hellen Lächeln vorüberschwebte. Darauf saß
ich den Tag über meiner Arbeit und wartete auf den Sonnenuntergang, wo sich
dasselbe Schauspiel, jedoch in umgekehrter Weise wiederholte, und also die liebe
Gestalt aus dem Waldesdunkel hervorkam, freundlich an mir vorüberzog, weit und
weiter ging und endlich in den Abendschatten versank. Wurde mir dabei schwer
zumute, und mußte ich mit Schmerzen ringen, so Preßte ich die Hand gegen das
Herz: brenne, aber bewahre deine Glut. Es gelang mir auch vor Maria ruhig
und mit Hellem Antlitz zu erscheinen. Ich brauchte mir keine Vorhaltungen zu
machen, und auch die andern, wenn sie überhaupt die Absicht hatten, fanden keine
Ursache, trennend zwischen uns zu treten.

Die Wochen vergingen, und schon sprach man auf dem Weidhofe von der
Heimreise der liebgewonnenen Gäste, da stieg ein Tag über uns auf, so strahlend
wie noch keiner. Mit einer stillen Morgenröte, in der sich die Erde aus ihren:
Schlummer löste, hob er an und führte Glanz über Glanz herauf. Die hohen
Berge reckten sich frei und stolz in der Sonnenflnt, und silberne Nebel wehten
über den taufeuchten Wiesen. Ich hatte Maria mehrere Tage nicht gesehen, aber
an diesem Morgen kam sie wieder daher. Weil aber die leichten Schleier, so zart
und durchsichtig sie waren, den Wiesenpfad verdeckten, so erblickte ich sie erst, als
sie schon dicht unter unserm Hause, rosig wie die Frühe selbst, aus dem Nebel
hervortrat. Die Erde war so schön, das ferne Land schwebte in blauem Duft, auf
jedem Blatt und an jedem schwankenden Halm blitzte ein Tautropfen, und jubelnd
fang die Lerche in den Lüften, da konnte auch Maria nicht wie sonst still vorüber¬
gehn, sondern jauchzte freudig auf, und die andern, die mit ihr waren, und mancher,
der das in seinem Hanse hörte und neugierig hervorkam, stimmte fröhlich ein.
Darauf, als die letzten Stimmen im Walde, in dessen Hallen das lichte Morgen¬
bild hineingezogen war, verklangen, breitete sich über dem Tale eine wundersame
und fast unbegreifliche Stille aus. Und doch war es nicht eigentlich still, viel¬
mehr flogen die Schwalben unaufhörlich zwitschernd hin und her, das Notschwänzchen
verstummte nicht einen Augenblick, der Brunnen murmelte bedächtig, und in tiefen
Tönen rauschte der Bach in seinem verborgnen Bett; vom Walde her läuteten
einzelne Herdenglocken, die Kiuder sangen und plauderten um das Haus her, und
über der Flur war ein beständiges Summen und Zirpen, aber das alles schwebte
doch nur wie ein Hauch durch die Größe und Weite dieser gewaltigen Welt. Be¬
klommen und bedrückt saß ich in diesem Glanz und in dieser Stille, und es war
mir ums Herz, als balle sich ein Gewitter über mir zusammen, und doch stieg


Zwei Seelen

ich wieder. Später stellte sich heraus, daß er ebenso wie seine Frau in das Ge¬
heimnis unsrer Herzen eingeweiht gewesen war, es jedoch entweder für unsinnig
gehalten hatte, sich an fremder Liebestorheit den Humor zu verderben, oder aber,
was wahrscheinlicher ist, auch mit uns nach einem Grundsatz verfuhr, den er ein¬
mal seine silberne Lebensregel genannt hatte: man dürfe unerwünschten Verhält¬
nissen nicht ängstlich ausweichen, sondern müsse sie in einem fröhlichen Lachen er¬
säufen. War dies seine Meinung, so behandelte er uns gewiß auf eine kluge
Weise und verhalf uns zu einem unbefangnen Verkehr. Er würde vielleicht auch
Recht behalten haben, gäbe es nicht eine Grenze, über die auch die größte Klug¬
heit nicht hinüberzugreifen vermag.

So waren jetzt auf dem Weidhofe fröhliche Tage angebrochen, denen glückliche
Abende, woran auch ich zuweilen teilnahm, folgten. Ich sah Maria auch häufig
von ferne, wenn sie etwa mit ihren Leuten über die Wiesen zur Arbeit ging, und
erkannte sie dann schon, wenn ihre Gestalt kaum etwas mehr als ein dunkler Punkt
war, der sich über eine grüne Fläche hinbewegte. Ihr Herankommen und all¬
mähliches Größerwerden zu beobachten war dann für mich das schönste und
wunderbarste Morgeuschauspiel. Aus dem Punkte wurde nach und nach ein Mensch,
und der Mensch verwandelte sich in das allerfreundlichste Menschenbild, das wenn
es unter den Fenstern, hinter denen ich saß, angelangt war, immer einen Augen¬
blick verweilte und dann mit einem hellen Lächeln vorüberschwebte. Darauf saß
ich den Tag über meiner Arbeit und wartete auf den Sonnenuntergang, wo sich
dasselbe Schauspiel, jedoch in umgekehrter Weise wiederholte, und also die liebe
Gestalt aus dem Waldesdunkel hervorkam, freundlich an mir vorüberzog, weit und
weiter ging und endlich in den Abendschatten versank. Wurde mir dabei schwer
zumute, und mußte ich mit Schmerzen ringen, so Preßte ich die Hand gegen das
Herz: brenne, aber bewahre deine Glut. Es gelang mir auch vor Maria ruhig
und mit Hellem Antlitz zu erscheinen. Ich brauchte mir keine Vorhaltungen zu
machen, und auch die andern, wenn sie überhaupt die Absicht hatten, fanden keine
Ursache, trennend zwischen uns zu treten.

Die Wochen vergingen, und schon sprach man auf dem Weidhofe von der
Heimreise der liebgewonnenen Gäste, da stieg ein Tag über uns auf, so strahlend
wie noch keiner. Mit einer stillen Morgenröte, in der sich die Erde aus ihren:
Schlummer löste, hob er an und führte Glanz über Glanz herauf. Die hohen
Berge reckten sich frei und stolz in der Sonnenflnt, und silberne Nebel wehten
über den taufeuchten Wiesen. Ich hatte Maria mehrere Tage nicht gesehen, aber
an diesem Morgen kam sie wieder daher. Weil aber die leichten Schleier, so zart
und durchsichtig sie waren, den Wiesenpfad verdeckten, so erblickte ich sie erst, als
sie schon dicht unter unserm Hause, rosig wie die Frühe selbst, aus dem Nebel
hervortrat. Die Erde war so schön, das ferne Land schwebte in blauem Duft, auf
jedem Blatt und an jedem schwankenden Halm blitzte ein Tautropfen, und jubelnd
fang die Lerche in den Lüften, da konnte auch Maria nicht wie sonst still vorüber¬
gehn, sondern jauchzte freudig auf, und die andern, die mit ihr waren, und mancher,
der das in seinem Hanse hörte und neugierig hervorkam, stimmte fröhlich ein.
Darauf, als die letzten Stimmen im Walde, in dessen Hallen das lichte Morgen¬
bild hineingezogen war, verklangen, breitete sich über dem Tale eine wundersame
und fast unbegreifliche Stille aus. Und doch war es nicht eigentlich still, viel¬
mehr flogen die Schwalben unaufhörlich zwitschernd hin und her, das Notschwänzchen
verstummte nicht einen Augenblick, der Brunnen murmelte bedächtig, und in tiefen
Tönen rauschte der Bach in seinem verborgnen Bett; vom Walde her läuteten
einzelne Herdenglocken, die Kiuder sangen und plauderten um das Haus her, und
über der Flur war ein beständiges Summen und Zirpen, aber das alles schwebte
doch nur wie ein Hauch durch die Größe und Weite dieser gewaltigen Welt. Be¬
klommen und bedrückt saß ich in diesem Glanz und in dieser Stille, und es war
mir ums Herz, als balle sich ein Gewitter über mir zusammen, und doch stieg


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[0872] Zwei Seelen ich wieder. Später stellte sich heraus, daß er ebenso wie seine Frau in das Ge¬ heimnis unsrer Herzen eingeweiht gewesen war, es jedoch entweder für unsinnig gehalten hatte, sich an fremder Liebestorheit den Humor zu verderben, oder aber, was wahrscheinlicher ist, auch mit uns nach einem Grundsatz verfuhr, den er ein¬ mal seine silberne Lebensregel genannt hatte: man dürfe unerwünschten Verhält¬ nissen nicht ängstlich ausweichen, sondern müsse sie in einem fröhlichen Lachen er¬ säufen. War dies seine Meinung, so behandelte er uns gewiß auf eine kluge Weise und verhalf uns zu einem unbefangnen Verkehr. Er würde vielleicht auch Recht behalten haben, gäbe es nicht eine Grenze, über die auch die größte Klug¬ heit nicht hinüberzugreifen vermag. So waren jetzt auf dem Weidhofe fröhliche Tage angebrochen, denen glückliche Abende, woran auch ich zuweilen teilnahm, folgten. Ich sah Maria auch häufig von ferne, wenn sie etwa mit ihren Leuten über die Wiesen zur Arbeit ging, und erkannte sie dann schon, wenn ihre Gestalt kaum etwas mehr als ein dunkler Punkt war, der sich über eine grüne Fläche hinbewegte. Ihr Herankommen und all¬ mähliches Größerwerden zu beobachten war dann für mich das schönste und wunderbarste Morgeuschauspiel. Aus dem Punkte wurde nach und nach ein Mensch, und der Mensch verwandelte sich in das allerfreundlichste Menschenbild, das wenn es unter den Fenstern, hinter denen ich saß, angelangt war, immer einen Augen¬ blick verweilte und dann mit einem hellen Lächeln vorüberschwebte. Darauf saß ich den Tag über meiner Arbeit und wartete auf den Sonnenuntergang, wo sich dasselbe Schauspiel, jedoch in umgekehrter Weise wiederholte, und also die liebe Gestalt aus dem Waldesdunkel hervorkam, freundlich an mir vorüberzog, weit und weiter ging und endlich in den Abendschatten versank. Wurde mir dabei schwer zumute, und mußte ich mit Schmerzen ringen, so Preßte ich die Hand gegen das Herz: brenne, aber bewahre deine Glut. Es gelang mir auch vor Maria ruhig und mit Hellem Antlitz zu erscheinen. Ich brauchte mir keine Vorhaltungen zu machen, und auch die andern, wenn sie überhaupt die Absicht hatten, fanden keine Ursache, trennend zwischen uns zu treten. Die Wochen vergingen, und schon sprach man auf dem Weidhofe von der Heimreise der liebgewonnenen Gäste, da stieg ein Tag über uns auf, so strahlend wie noch keiner. Mit einer stillen Morgenröte, in der sich die Erde aus ihren: Schlummer löste, hob er an und führte Glanz über Glanz herauf. Die hohen Berge reckten sich frei und stolz in der Sonnenflnt, und silberne Nebel wehten über den taufeuchten Wiesen. Ich hatte Maria mehrere Tage nicht gesehen, aber an diesem Morgen kam sie wieder daher. Weil aber die leichten Schleier, so zart und durchsichtig sie waren, den Wiesenpfad verdeckten, so erblickte ich sie erst, als sie schon dicht unter unserm Hause, rosig wie die Frühe selbst, aus dem Nebel hervortrat. Die Erde war so schön, das ferne Land schwebte in blauem Duft, auf jedem Blatt und an jedem schwankenden Halm blitzte ein Tautropfen, und jubelnd fang die Lerche in den Lüften, da konnte auch Maria nicht wie sonst still vorüber¬ gehn, sondern jauchzte freudig auf, und die andern, die mit ihr waren, und mancher, der das in seinem Hanse hörte und neugierig hervorkam, stimmte fröhlich ein. Darauf, als die letzten Stimmen im Walde, in dessen Hallen das lichte Morgen¬ bild hineingezogen war, verklangen, breitete sich über dem Tale eine wundersame und fast unbegreifliche Stille aus. Und doch war es nicht eigentlich still, viel¬ mehr flogen die Schwalben unaufhörlich zwitschernd hin und her, das Notschwänzchen verstummte nicht einen Augenblick, der Brunnen murmelte bedächtig, und in tiefen Tönen rauschte der Bach in seinem verborgnen Bett; vom Walde her läuteten einzelne Herdenglocken, die Kiuder sangen und plauderten um das Haus her, und über der Flur war ein beständiges Summen und Zirpen, aber das alles schwebte doch nur wie ein Hauch durch die Größe und Weite dieser gewaltigen Welt. Be¬ klommen und bedrückt saß ich in diesem Glanz und in dieser Stille, und es war mir ums Herz, als balle sich ein Gewitter über mir zusammen, und doch stieg

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/872>, abgerufen am 24.08.2024.