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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Biologische Lchik und Politik

wie die Arbeitbienen. Ein Reich der Gerechtigkeit, wo es keine Ungerechtigkeit
gibt, ein Reich der vollendeten Anpassung oder, wie man ehedem lieber sagte,
der vollkommnen Harmonie und des ewigen Friedens, dessen Bürger durch
die Anpassung ihre Persönlichkeit nicht einbüßen, kann, wenn es überhaupt
möglich ist, nur unter ganz andern Daseinsbedingungen gedacht werden, von
denen wir keine Vorstellung haben; der christliche Glaube verlegt es deshalb
mit Recht ins Jenseits.

Carreri behauptet, die Gerechtigkeit sei schon verwirklicht in der Welt
und sei es immer gewesen (S. 362 bis 363). Wenn er die Schilderung der Lage
kleiner lombardischer Ackerbausklaven läse, die nach Nummer 248 der Frank¬
furter Zeitung die Ärzte entwerfen, deren Spezialität die Pellagra ist, und
daneben die Schilderung des Lebens und Treibens der Sommerfrischlerinnen
am Bosporus in Nummer 634 der Schlesischen Zeitung, so würde er diese
Ansicht nicht aufrecht zu erhalten vermögen, denn er ist ein edler Mensch, den
man schon lieb gewinnt, wenn man nur die rührende Zueignung seines Buchs
an seine Frau liest. Seine Moralpredigten würden jede Kanzel zieren, und
zwischen seinem und unserm Idealismus ist -- bis auf die beiderseitige An¬
sicht von der Entstehung der Ideale -- gar kein Unterschied. "Wer das, was
die Tätigkeit des Geistes erhöht und erweitert, und die diesem Grundsatze >?!
entsprechenden Sittengesetze nicht als gut erkennt und den Blutdurst des Wilden
höher stellt als deu Wissensdurst des Gebildeten, der hat so wenig ein Recht,
über Ethik mitzureden, wie der einen Anspruch auf ein ästhetisches Urteil er¬
heben darf, der einen Hamlet nicht schön findet, oder die Göttin Siwa der
mediceischen Venus vorzieht." Er preist die platonischen Ideen des Wahren,
des Schönen und des Guten und erklärt den sittlich freien Menschen für das
ethische Ideal. Wie kommt nun dieser Manu dazu, die Teleologie zu ver¬
werfen und seine Ethik auf den Darwinismus zu gründen? Durch sein Vor¬
urteil gegen den "anthropomorphen" Gott des Christentums und durch die
ganz unbegründete Einbildung, die christliche Moral sei ein unlogisches Kon¬
glomerat von Vorschriften und noch dazu mit ihren Drohungen und Ver¬
heißungen bloß auf die niedrige Selbstsucht des Menschen berechnet. Er ver¬
wirft demnach das "Soll" und will seine Moral auf das gründen, was ist?
dieses aber habe Darwin richtig beschrieben. Das konnte einer im Jahre 187O,
wo Carneris Buch erschienen ist, allenfalls glauben; heute nicht mehr. Sein
körperliches Befinden hat ihm verwehrt, bei der Veranstaltung der vorliegenden
zweiten Auflage "nochmals die Feile zu ergreifen"; so wird er denn auch die
weitere Entwicklung der Deszendenztheorie, die mit allem spezifisch Darwinischen
so ziemlich aufgeräumt hat, nicht haben verfolgen können; hätte er es gekonnt,
so würde er wohl bemerkt haben, daß gröbere Werkzeuge als eine Feile nötig
gewesen wären. Strenge Logik ist übrigens nicht seine starke Seite, und so
hat er es denn fertig gebracht, eine den Gattungsbegriff vernichtende Natur¬
philosophie zur Begründung der platonischen Jdeenlehre, die auch nach ihm
zunächst Lehre von den Gattungsbegriffen ist, zu verwenden.

In der Besprechung des Buchs von Woltmmm haben wir die Berechtigung


Biologische Lchik und Politik

wie die Arbeitbienen. Ein Reich der Gerechtigkeit, wo es keine Ungerechtigkeit
gibt, ein Reich der vollendeten Anpassung oder, wie man ehedem lieber sagte,
der vollkommnen Harmonie und des ewigen Friedens, dessen Bürger durch
die Anpassung ihre Persönlichkeit nicht einbüßen, kann, wenn es überhaupt
möglich ist, nur unter ganz andern Daseinsbedingungen gedacht werden, von
denen wir keine Vorstellung haben; der christliche Glaube verlegt es deshalb
mit Recht ins Jenseits.

Carreri behauptet, die Gerechtigkeit sei schon verwirklicht in der Welt
und sei es immer gewesen (S. 362 bis 363). Wenn er die Schilderung der Lage
kleiner lombardischer Ackerbausklaven läse, die nach Nummer 248 der Frank¬
furter Zeitung die Ärzte entwerfen, deren Spezialität die Pellagra ist, und
daneben die Schilderung des Lebens und Treibens der Sommerfrischlerinnen
am Bosporus in Nummer 634 der Schlesischen Zeitung, so würde er diese
Ansicht nicht aufrecht zu erhalten vermögen, denn er ist ein edler Mensch, den
man schon lieb gewinnt, wenn man nur die rührende Zueignung seines Buchs
an seine Frau liest. Seine Moralpredigten würden jede Kanzel zieren, und
zwischen seinem und unserm Idealismus ist — bis auf die beiderseitige An¬
sicht von der Entstehung der Ideale — gar kein Unterschied. „Wer das, was
die Tätigkeit des Geistes erhöht und erweitert, und die diesem Grundsatze >?!
entsprechenden Sittengesetze nicht als gut erkennt und den Blutdurst des Wilden
höher stellt als deu Wissensdurst des Gebildeten, der hat so wenig ein Recht,
über Ethik mitzureden, wie der einen Anspruch auf ein ästhetisches Urteil er¬
heben darf, der einen Hamlet nicht schön findet, oder die Göttin Siwa der
mediceischen Venus vorzieht." Er preist die platonischen Ideen des Wahren,
des Schönen und des Guten und erklärt den sittlich freien Menschen für das
ethische Ideal. Wie kommt nun dieser Manu dazu, die Teleologie zu ver¬
werfen und seine Ethik auf den Darwinismus zu gründen? Durch sein Vor¬
urteil gegen den „anthropomorphen" Gott des Christentums und durch die
ganz unbegründete Einbildung, die christliche Moral sei ein unlogisches Kon¬
glomerat von Vorschriften und noch dazu mit ihren Drohungen und Ver¬
heißungen bloß auf die niedrige Selbstsucht des Menschen berechnet. Er ver¬
wirft demnach das „Soll" und will seine Moral auf das gründen, was ist?
dieses aber habe Darwin richtig beschrieben. Das konnte einer im Jahre 187O,
wo Carneris Buch erschienen ist, allenfalls glauben; heute nicht mehr. Sein
körperliches Befinden hat ihm verwehrt, bei der Veranstaltung der vorliegenden
zweiten Auflage „nochmals die Feile zu ergreifen"; so wird er denn auch die
weitere Entwicklung der Deszendenztheorie, die mit allem spezifisch Darwinischen
so ziemlich aufgeräumt hat, nicht haben verfolgen können; hätte er es gekonnt,
so würde er wohl bemerkt haben, daß gröbere Werkzeuge als eine Feile nötig
gewesen wären. Strenge Logik ist übrigens nicht seine starke Seite, und so
hat er es denn fertig gebracht, eine den Gattungsbegriff vernichtende Natur¬
philosophie zur Begründung der platonischen Jdeenlehre, die auch nach ihm
zunächst Lehre von den Gattungsbegriffen ist, zu verwenden.

In der Besprechung des Buchs von Woltmmm haben wir die Berechtigung


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[0846] Biologische Lchik und Politik wie die Arbeitbienen. Ein Reich der Gerechtigkeit, wo es keine Ungerechtigkeit gibt, ein Reich der vollendeten Anpassung oder, wie man ehedem lieber sagte, der vollkommnen Harmonie und des ewigen Friedens, dessen Bürger durch die Anpassung ihre Persönlichkeit nicht einbüßen, kann, wenn es überhaupt möglich ist, nur unter ganz andern Daseinsbedingungen gedacht werden, von denen wir keine Vorstellung haben; der christliche Glaube verlegt es deshalb mit Recht ins Jenseits. Carreri behauptet, die Gerechtigkeit sei schon verwirklicht in der Welt und sei es immer gewesen (S. 362 bis 363). Wenn er die Schilderung der Lage kleiner lombardischer Ackerbausklaven läse, die nach Nummer 248 der Frank¬ furter Zeitung die Ärzte entwerfen, deren Spezialität die Pellagra ist, und daneben die Schilderung des Lebens und Treibens der Sommerfrischlerinnen am Bosporus in Nummer 634 der Schlesischen Zeitung, so würde er diese Ansicht nicht aufrecht zu erhalten vermögen, denn er ist ein edler Mensch, den man schon lieb gewinnt, wenn man nur die rührende Zueignung seines Buchs an seine Frau liest. Seine Moralpredigten würden jede Kanzel zieren, und zwischen seinem und unserm Idealismus ist — bis auf die beiderseitige An¬ sicht von der Entstehung der Ideale — gar kein Unterschied. „Wer das, was die Tätigkeit des Geistes erhöht und erweitert, und die diesem Grundsatze >?! entsprechenden Sittengesetze nicht als gut erkennt und den Blutdurst des Wilden höher stellt als deu Wissensdurst des Gebildeten, der hat so wenig ein Recht, über Ethik mitzureden, wie der einen Anspruch auf ein ästhetisches Urteil er¬ heben darf, der einen Hamlet nicht schön findet, oder die Göttin Siwa der mediceischen Venus vorzieht." Er preist die platonischen Ideen des Wahren, des Schönen und des Guten und erklärt den sittlich freien Menschen für das ethische Ideal. Wie kommt nun dieser Manu dazu, die Teleologie zu ver¬ werfen und seine Ethik auf den Darwinismus zu gründen? Durch sein Vor¬ urteil gegen den „anthropomorphen" Gott des Christentums und durch die ganz unbegründete Einbildung, die christliche Moral sei ein unlogisches Kon¬ glomerat von Vorschriften und noch dazu mit ihren Drohungen und Ver¬ heißungen bloß auf die niedrige Selbstsucht des Menschen berechnet. Er ver¬ wirft demnach das „Soll" und will seine Moral auf das gründen, was ist? dieses aber habe Darwin richtig beschrieben. Das konnte einer im Jahre 187O, wo Carneris Buch erschienen ist, allenfalls glauben; heute nicht mehr. Sein körperliches Befinden hat ihm verwehrt, bei der Veranstaltung der vorliegenden zweiten Auflage „nochmals die Feile zu ergreifen"; so wird er denn auch die weitere Entwicklung der Deszendenztheorie, die mit allem spezifisch Darwinischen so ziemlich aufgeräumt hat, nicht haben verfolgen können; hätte er es gekonnt, so würde er wohl bemerkt haben, daß gröbere Werkzeuge als eine Feile nötig gewesen wären. Strenge Logik ist übrigens nicht seine starke Seite, und so hat er es denn fertig gebracht, eine den Gattungsbegriff vernichtende Natur¬ philosophie zur Begründung der platonischen Jdeenlehre, die auch nach ihm zunächst Lehre von den Gattungsbegriffen ist, zu verwenden. In der Besprechung des Buchs von Woltmmm haben wir die Berechtigung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/846>, abgerufen am 22.07.2024.