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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Gegenwart in die Vergangenheit zu projizieren, hat die apokalyptische Literatur
erzeugt, von der das in der Makkabäerzeit entstandne Buch Daniel der erste be¬
deutende Repräsentant ist. Auf diese Weise sind die Bilder Jesu und seiner Apostel
geschaffen worden. Die Verfolgung unter Trajan gab einen mächtigen Anstoß zu
dieser Art Poesie; mit Pontius Pilatus ist der Statthalter Plinius gemeint der
dem Kaiser über die Christen berichtet und ihn um Verhaltungsmaßregeln gebeten
hat. Die perschieduen Darstellungen bei Matthäus, Lukas, Johannes und in der
"" den Namen Paulus geknüpften Briefsammlung sind die Niederschläge versclnedner
Cntwicklungsstadien. Nicht ein Mensch Jesus ist im Laufe der Zeit zum Christa
"ut zum Gott geworden, sondern der Christus, die ewige göttliche Idee des Rechts,
'se das ursprüngliche, und deren Kampf gegen Gewalt und Unrecht wird in dem
Gedicht bon Jesus dargestellt. Der Kampf gegen die Schwarmgeister auf der einen,
gegen die ..eine reaktionäre Masse" auf der andern Seite zwingt das von der
hohen Idee ergriffne Proletariat, sich zu organisieren. Indem "die eruptiven
Kräfte" der alten Gesellschaft kirchlich organisiert werden, "sind sie bannt ihrer
elementaren Wucht ledig, aber in das breite Bett des die große allgemeine Kultur
schaffenden Lebens geleitet. Im Klosterleben, der sozialen Grundform des mittel¬
alterlichen Kirchenlebens, ist Arbeit und Besitz genossenschaftlich organisiert, aber der
lästerliche Kommunismus soll nur den großen katholischen Wcltkommunisnuis vor¬
bilden." Dieser internationale Kommunismus hat jedoch seinen Schwerpunkt i,n
Jenseits, er gründet sich auf metaphysische Voraussetzungen, nicht auf olonomi che
Wirklichkeiten. Aus diesen erwächst der moderne Staat, der den kirchlichen
Kommunismus zertrümmert, in seinem Schoße aber den Keim einer neuen sozialen
Bewegung trägt, die ans eine neue, die ökonomische Organisation der Welt abzielt.
So hat also die katholische Kirche in der Auffassung ihres eignen Wesens und
ihres Verhältnisses zur Schrift recht gegen den Protestantismus. Ihr Unrecht be¬
steht darin, daß sie an dem Glauben an das geschichtliche Dasein ihrer Ideal-
gestalten festhält, nachdem die Bibelkritik -- darin besteht der Beruf und das Ver¬
dienst der liberalen protestantischen Theologie -- die Unmöglichkeit dieses Daseins
nachgewiesen hat, und daß sie ihre Organisation und ihre metaphysischen Voraus¬
setzungen nicht aufgeben will, nachdem die ökonomische Entwicklung die Grundlage"
der ersten, die moderne Wissenschaft die zweiten zerstört hat. Aus der liberalen
Theologie muß jetzt die soziale, auf die moderne Weltanschauung gegründete werden.
Die Evangelien bleiben wertvoll als Geschichtsquellen, als Urkunden nicht der Ge¬
schichte eines Individuums sondern der Geschichte einer sozialen Bwegung.

^ Die moderne Weltanschauung beruht auf der Erkenntnis der Unendlichkeit der
Welt, des Gesetzes der Erhaltung der Kraft und des Gesetzes der Entwicklung und
Anpassung. Wie diese moderne Welterkenntnis für eine neue Religion zu ver¬
wenden sei, lehrt Kalthvsf in einer Reihe Von Vorträgen, die er i.n Winter 1901/^seiner Martinikirche gehalten und 1903 (wieder bei Eugen Diederuhs in Leipzig)
unter dem Titel: Religiöse Weltanschauung herausgegeben hat. Das Origi¬
nelle und Geniale dieses wie des Christusbüchleins liegt nicht in den Bes ardent en.
die, wie der Leser aus unserm Abriß des zweiten erkannt hat, größtenteils schon
von andern geschaffen waren, sonder" in dem damit aufgebauten wohlgefügten
^"zen. das viele oberflächliche Beschatter befriedigen wird, und in der Anziehungs¬
kraft, die dem jüngern Buche die religiöse Wärme, der ideale Schwung und die
Fetische Auffassung des Verfassers verleihen. Die Poesie, die er für die echte
Wirklichkeit erklärt, verdeckt ihm die Schwierigkeiten, die der weniger poetisch be¬
gabte Kritiker in dem monisti chen Weltbilde leicht entdeckt. Es ist gewiß um ent¬
zückendes Wunder, weit schöner als manches biblische, daß der vor Millionen
Jahren i.n Baume verschwundne Sonnenstrahl heut in der glühenden Kohle wieder
aufleuchtet. Leider gehört ein hochgebildeter Geist dazu, diese Schönheit zu em-
pfinden. und so manchem hochgebildeten Geiste passiert es so gut wie der großen
-caisse. daß ihm, wenn er nach Brot oder nach Liebe hungert ohne Aussicht aus


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Gegenwart in die Vergangenheit zu projizieren, hat die apokalyptische Literatur
erzeugt, von der das in der Makkabäerzeit entstandne Buch Daniel der erste be¬
deutende Repräsentant ist. Auf diese Weise sind die Bilder Jesu und seiner Apostel
geschaffen worden. Die Verfolgung unter Trajan gab einen mächtigen Anstoß zu
dieser Art Poesie; mit Pontius Pilatus ist der Statthalter Plinius gemeint der
dem Kaiser über die Christen berichtet und ihn um Verhaltungsmaßregeln gebeten
hat. Die perschieduen Darstellungen bei Matthäus, Lukas, Johannes und in der
"» den Namen Paulus geknüpften Briefsammlung sind die Niederschläge versclnedner
Cntwicklungsstadien. Nicht ein Mensch Jesus ist im Laufe der Zeit zum Christa
"ut zum Gott geworden, sondern der Christus, die ewige göttliche Idee des Rechts,
'se das ursprüngliche, und deren Kampf gegen Gewalt und Unrecht wird in dem
Gedicht bon Jesus dargestellt. Der Kampf gegen die Schwarmgeister auf der einen,
gegen die ..eine reaktionäre Masse" auf der andern Seite zwingt das von der
hohen Idee ergriffne Proletariat, sich zu organisieren. Indem „die eruptiven
Kräfte" der alten Gesellschaft kirchlich organisiert werden, „sind sie bannt ihrer
elementaren Wucht ledig, aber in das breite Bett des die große allgemeine Kultur
schaffenden Lebens geleitet. Im Klosterleben, der sozialen Grundform des mittel¬
alterlichen Kirchenlebens, ist Arbeit und Besitz genossenschaftlich organisiert, aber der
lästerliche Kommunismus soll nur den großen katholischen Wcltkommunisnuis vor¬
bilden." Dieser internationale Kommunismus hat jedoch seinen Schwerpunkt i,n
Jenseits, er gründet sich auf metaphysische Voraussetzungen, nicht auf olonomi che
Wirklichkeiten. Aus diesen erwächst der moderne Staat, der den kirchlichen
Kommunismus zertrümmert, in seinem Schoße aber den Keim einer neuen sozialen
Bewegung trägt, die ans eine neue, die ökonomische Organisation der Welt abzielt.
So hat also die katholische Kirche in der Auffassung ihres eignen Wesens und
ihres Verhältnisses zur Schrift recht gegen den Protestantismus. Ihr Unrecht be¬
steht darin, daß sie an dem Glauben an das geschichtliche Dasein ihrer Ideal-
gestalten festhält, nachdem die Bibelkritik — darin besteht der Beruf und das Ver¬
dienst der liberalen protestantischen Theologie — die Unmöglichkeit dieses Daseins
nachgewiesen hat, und daß sie ihre Organisation und ihre metaphysischen Voraus¬
setzungen nicht aufgeben will, nachdem die ökonomische Entwicklung die Grundlage»
der ersten, die moderne Wissenschaft die zweiten zerstört hat. Aus der liberalen
Theologie muß jetzt die soziale, auf die moderne Weltanschauung gegründete werden.
Die Evangelien bleiben wertvoll als Geschichtsquellen, als Urkunden nicht der Ge¬
schichte eines Individuums sondern der Geschichte einer sozialen Bwegung.

^ Die moderne Weltanschauung beruht auf der Erkenntnis der Unendlichkeit der
Welt, des Gesetzes der Erhaltung der Kraft und des Gesetzes der Entwicklung und
Anpassung. Wie diese moderne Welterkenntnis für eine neue Religion zu ver¬
wenden sei, lehrt Kalthvsf in einer Reihe Von Vorträgen, die er i.n Winter 1901/^seiner Martinikirche gehalten und 1903 (wieder bei Eugen Diederuhs in Leipzig)
unter dem Titel: Religiöse Weltanschauung herausgegeben hat. Das Origi¬
nelle und Geniale dieses wie des Christusbüchleins liegt nicht in den Bes ardent en.
die, wie der Leser aus unserm Abriß des zweiten erkannt hat, größtenteils schon
von andern geschaffen waren, sonder» in dem damit aufgebauten wohlgefügten
^»zen. das viele oberflächliche Beschatter befriedigen wird, und in der Anziehungs¬
kraft, die dem jüngern Buche die religiöse Wärme, der ideale Schwung und die
Fetische Auffassung des Verfassers verleihen. Die Poesie, die er für die echte
Wirklichkeit erklärt, verdeckt ihm die Schwierigkeiten, die der weniger poetisch be¬
gabte Kritiker in dem monisti chen Weltbilde leicht entdeckt. Es ist gewiß um ent¬
zückendes Wunder, weit schöner als manches biblische, daß der vor Millionen
Jahren i.n Baume verschwundne Sonnenstrahl heut in der glühenden Kohle wieder
aufleuchtet. Leider gehört ein hochgebildeter Geist dazu, diese Schönheit zu em-
pfinden. und so manchem hochgebildeten Geiste passiert es so gut wie der großen
-caisse. daß ihm, wenn er nach Brot oder nach Liebe hungert ohne Aussicht aus


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[0825] Maßgebliches und Unmaßgebliches Gegenwart in die Vergangenheit zu projizieren, hat die apokalyptische Literatur erzeugt, von der das in der Makkabäerzeit entstandne Buch Daniel der erste be¬ deutende Repräsentant ist. Auf diese Weise sind die Bilder Jesu und seiner Apostel geschaffen worden. Die Verfolgung unter Trajan gab einen mächtigen Anstoß zu dieser Art Poesie; mit Pontius Pilatus ist der Statthalter Plinius gemeint der dem Kaiser über die Christen berichtet und ihn um Verhaltungsmaßregeln gebeten hat. Die perschieduen Darstellungen bei Matthäus, Lukas, Johannes und in der "» den Namen Paulus geknüpften Briefsammlung sind die Niederschläge versclnedner Cntwicklungsstadien. Nicht ein Mensch Jesus ist im Laufe der Zeit zum Christa "ut zum Gott geworden, sondern der Christus, die ewige göttliche Idee des Rechts, 'se das ursprüngliche, und deren Kampf gegen Gewalt und Unrecht wird in dem Gedicht bon Jesus dargestellt. Der Kampf gegen die Schwarmgeister auf der einen, gegen die ..eine reaktionäre Masse" auf der andern Seite zwingt das von der hohen Idee ergriffne Proletariat, sich zu organisieren. Indem „die eruptiven Kräfte" der alten Gesellschaft kirchlich organisiert werden, „sind sie bannt ihrer elementaren Wucht ledig, aber in das breite Bett des die große allgemeine Kultur schaffenden Lebens geleitet. Im Klosterleben, der sozialen Grundform des mittel¬ alterlichen Kirchenlebens, ist Arbeit und Besitz genossenschaftlich organisiert, aber der lästerliche Kommunismus soll nur den großen katholischen Wcltkommunisnuis vor¬ bilden." Dieser internationale Kommunismus hat jedoch seinen Schwerpunkt i,n Jenseits, er gründet sich auf metaphysische Voraussetzungen, nicht auf olonomi che Wirklichkeiten. Aus diesen erwächst der moderne Staat, der den kirchlichen Kommunismus zertrümmert, in seinem Schoße aber den Keim einer neuen sozialen Bewegung trägt, die ans eine neue, die ökonomische Organisation der Welt abzielt. So hat also die katholische Kirche in der Auffassung ihres eignen Wesens und ihres Verhältnisses zur Schrift recht gegen den Protestantismus. Ihr Unrecht be¬ steht darin, daß sie an dem Glauben an das geschichtliche Dasein ihrer Ideal- gestalten festhält, nachdem die Bibelkritik — darin besteht der Beruf und das Ver¬ dienst der liberalen protestantischen Theologie — die Unmöglichkeit dieses Daseins nachgewiesen hat, und daß sie ihre Organisation und ihre metaphysischen Voraus¬ setzungen nicht aufgeben will, nachdem die ökonomische Entwicklung die Grundlage» der ersten, die moderne Wissenschaft die zweiten zerstört hat. Aus der liberalen Theologie muß jetzt die soziale, auf die moderne Weltanschauung gegründete werden. Die Evangelien bleiben wertvoll als Geschichtsquellen, als Urkunden nicht der Ge¬ schichte eines Individuums sondern der Geschichte einer sozialen Bwegung. ^ Die moderne Weltanschauung beruht auf der Erkenntnis der Unendlichkeit der Welt, des Gesetzes der Erhaltung der Kraft und des Gesetzes der Entwicklung und Anpassung. Wie diese moderne Welterkenntnis für eine neue Religion zu ver¬ wenden sei, lehrt Kalthvsf in einer Reihe Von Vorträgen, die er i.n Winter 1901/^seiner Martinikirche gehalten und 1903 (wieder bei Eugen Diederuhs in Leipzig) unter dem Titel: Religiöse Weltanschauung herausgegeben hat. Das Origi¬ nelle und Geniale dieses wie des Christusbüchleins liegt nicht in den Bes ardent en. die, wie der Leser aus unserm Abriß des zweiten erkannt hat, größtenteils schon von andern geschaffen waren, sonder» in dem damit aufgebauten wohlgefügten ^»zen. das viele oberflächliche Beschatter befriedigen wird, und in der Anziehungs¬ kraft, die dem jüngern Buche die religiöse Wärme, der ideale Schwung und die Fetische Auffassung des Verfassers verleihen. Die Poesie, die er für die echte Wirklichkeit erklärt, verdeckt ihm die Schwierigkeiten, die der weniger poetisch be¬ gabte Kritiker in dem monisti chen Weltbilde leicht entdeckt. Es ist gewiß um ent¬ zückendes Wunder, weit schöner als manches biblische, daß der vor Millionen Jahren i.n Baume verschwundne Sonnenstrahl heut in der glühenden Kohle wieder aufleuchtet. Leider gehört ein hochgebildeter Geist dazu, diese Schönheit zu em- pfinden. und so manchem hochgebildeten Geiste passiert es so gut wie der großen -caisse. daß ihm, wenn er nach Brot oder nach Liebe hungert ohne Aussicht aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/825>, abgerufen am 24.08.2024.