Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Neigung zum Versemachen angeregt worden. Wir lasen in der Klasse fast aus¬
schließlich Lessing. Aus ihm entnahm Professor Schumann auch die meisten seiner
Aufsatzthemata. Privatim aber schwärmten wir für Lenau, Anastasius Grün, Geibel,
Karl Beck, Heine, Freiligrath und allenfalls auch Platen. Heimlich versuchten wir
uns in kleinen lyrischen Gedichten, in denen wir die inzwischen erwachsenen ehe¬
maligen Tanzstundenflammen platonisch anfangen. Diese kleinen und völlig harm¬
losen poetischen Versuche führten dahin, daß meine beiden nächsten Freunde Karl
Lange und Ludwig Kramer, von denen namentlich der erste eine wirkliche poetische
Ader hatte, sich mit mir zusammen taten, uns unsre poetischen Ergüsse und Arbeiten
gegenseitig vorzulesen und zu kritisieren. Alles, was die einstimmige Billigung aller
drei "Dichter" erlangt hatte, wurde höchst sauber von mir in ein dickes Quartbuch
eingetragen, und wir dachten alles Ernstes daran, daß diese unsterblichen Poesien
gedruckt werden müßten und der Welt nicht verloren gehn dürften. Als ich im
Herbst 1850 die Reifeprüfung bestanden hatte und nach Heidelberg ging, nahm ich
auf Verlangen meiner beiden noch "auf der Falle" zurückbleibenden Mitdichter das
inzwischen gefüllte, ziemlich starke Buch mit nach Heidelberg. Von dort sandte ich
es an die Cottasche Buchhandlung in Stuttgart und bot es ihr für ihren Verlag
an. Nach vierzehn Tagen bekam ich es mit einem höflichen Schreiben zurück. Cotta
bedauerte, die von Talent zeugenden Gedichte nicht verlegen zu können, da der
Büchermarkt gerade damals mit Erzeugnissen der lyrischen Muse überfüllt sei. Dann
sandte ich das Manuskript an Brockhaus. Dessen Antwort war der Cottaschen fast
so ähnlich, wie ein El dem andern. Wir mußten uns also überzeugen, daß die
bedeutendsten Firmen des deutschen Buchhandels -- für uns kamen natürlich nur
solche in Betracht -- für unsre bahnbrechende, neue Poesie noch nicht das genügende
Verständnis hatten. Ich nahm das Manuskript, als ich Heidelberg verließ, wieder mit
nach Hause, und wir beschlossen, es nochmals einer gemeinsamen Sichtung und
vielleicht Ergänzung zu unterwerfen. Arglos hatte ich das Buch auf meinem Arbeits¬
pult liegen lassen. Von da war es noch vor Beginn meines dritten akademischen
Semesters spurlos verschwunden. Alle Nachforschungen blieben vergeblich. Erst
später bin ich ans den Gedanken gekommen, daß mein guter Vater das Buch wohl
einmal auf meinem Tische hat liegen sehen, daß er den gesamten Inhalt, da ich
ihn sauber abgeschrieben hatte, als ausschließlich auf mein Konto kommende Produkte
meiner Mußestunden betrachtet haben und auf die Idee gekommen sein mag, daß
es für seinen einigermaßen impulsiver Sohn geratener sei, sich mit prosaischer Rechts¬
wissenschaft als mit poetischen Liebesliedern, Romanzen und Balladen zu befassen.
Ich bin überzeugt, daß mein Vater das Manuskript damals in aller Stille unter
unsern Dampfkessel gesteckt und verbrannt hat. Gesprochen wurde davon nicht.
Ich hatte auch nicht recht den Mut, meinen Vater direkt zu fragen. Vielleicht hatte
ich schon damals eine Ahnung davon, daß diese unsterblichen Lieder von recht ge¬
ringem Werte waren. Genug, sie waren und blieben für immer verschwunden."

Doch ich habe vorgegriffen. Als wir drei Freunde unsre "poetischen Arbeiten
sammelten und sichteten, kamen wir auf den Gedanken, daß vielleicht auch noch
andre Primaner "ganz nette" Gedichte machen könnten, und daß man solche
literarischen oder poetischen Passionen pflegen müsse. Karl Lange schlug vor, einen
"Musenbund" zu gründen. Niemand sollte Mitglied werden können, der nicht ein
eignes, von ihm herrührendes Gedicht vorlegen konnte. Dieses Gedicht sollte dann
im Museubunde vorgelesen werden, und dieser sollte durch Stimmenmehrheit ent¬
scheiden, ob der Verfasser aufgenommen werden solle. Die Sache schien in der Tat
zu gelingen. Es fanden sich noch einige dichtende Primaner, die zugelassen wurden.
Wir erweiterten das Programm dahin, daß wir wöchentlich oder aller vierzehn
Tage einmal in dem Saale eines Restaurants zusammenkamen, daß dort ein Mitglied
einen literarischen Vortrag halten sollte, daß dann die Probegedichte neu Angemeldeter
vorgelesen und beurteilt werden, und daß jedes Mitglied das Recht haben sollte,
ein von ihm geschaffnes Gedicht vorzulesen. Die ersten Abende verliefen ganz ver-


Neigung zum Versemachen angeregt worden. Wir lasen in der Klasse fast aus¬
schließlich Lessing. Aus ihm entnahm Professor Schumann auch die meisten seiner
Aufsatzthemata. Privatim aber schwärmten wir für Lenau, Anastasius Grün, Geibel,
Karl Beck, Heine, Freiligrath und allenfalls auch Platen. Heimlich versuchten wir
uns in kleinen lyrischen Gedichten, in denen wir die inzwischen erwachsenen ehe¬
maligen Tanzstundenflammen platonisch anfangen. Diese kleinen und völlig harm¬
losen poetischen Versuche führten dahin, daß meine beiden nächsten Freunde Karl
Lange und Ludwig Kramer, von denen namentlich der erste eine wirkliche poetische
Ader hatte, sich mit mir zusammen taten, uns unsre poetischen Ergüsse und Arbeiten
gegenseitig vorzulesen und zu kritisieren. Alles, was die einstimmige Billigung aller
drei „Dichter" erlangt hatte, wurde höchst sauber von mir in ein dickes Quartbuch
eingetragen, und wir dachten alles Ernstes daran, daß diese unsterblichen Poesien
gedruckt werden müßten und der Welt nicht verloren gehn dürften. Als ich im
Herbst 1850 die Reifeprüfung bestanden hatte und nach Heidelberg ging, nahm ich
auf Verlangen meiner beiden noch „auf der Falle" zurückbleibenden Mitdichter das
inzwischen gefüllte, ziemlich starke Buch mit nach Heidelberg. Von dort sandte ich
es an die Cottasche Buchhandlung in Stuttgart und bot es ihr für ihren Verlag
an. Nach vierzehn Tagen bekam ich es mit einem höflichen Schreiben zurück. Cotta
bedauerte, die von Talent zeugenden Gedichte nicht verlegen zu können, da der
Büchermarkt gerade damals mit Erzeugnissen der lyrischen Muse überfüllt sei. Dann
sandte ich das Manuskript an Brockhaus. Dessen Antwort war der Cottaschen fast
so ähnlich, wie ein El dem andern. Wir mußten uns also überzeugen, daß die
bedeutendsten Firmen des deutschen Buchhandels — für uns kamen natürlich nur
solche in Betracht — für unsre bahnbrechende, neue Poesie noch nicht das genügende
Verständnis hatten. Ich nahm das Manuskript, als ich Heidelberg verließ, wieder mit
nach Hause, und wir beschlossen, es nochmals einer gemeinsamen Sichtung und
vielleicht Ergänzung zu unterwerfen. Arglos hatte ich das Buch auf meinem Arbeits¬
pult liegen lassen. Von da war es noch vor Beginn meines dritten akademischen
Semesters spurlos verschwunden. Alle Nachforschungen blieben vergeblich. Erst
später bin ich ans den Gedanken gekommen, daß mein guter Vater das Buch wohl
einmal auf meinem Tische hat liegen sehen, daß er den gesamten Inhalt, da ich
ihn sauber abgeschrieben hatte, als ausschließlich auf mein Konto kommende Produkte
meiner Mußestunden betrachtet haben und auf die Idee gekommen sein mag, daß
es für seinen einigermaßen impulsiver Sohn geratener sei, sich mit prosaischer Rechts¬
wissenschaft als mit poetischen Liebesliedern, Romanzen und Balladen zu befassen.
Ich bin überzeugt, daß mein Vater das Manuskript damals in aller Stille unter
unsern Dampfkessel gesteckt und verbrannt hat. Gesprochen wurde davon nicht.
Ich hatte auch nicht recht den Mut, meinen Vater direkt zu fragen. Vielleicht hatte
ich schon damals eine Ahnung davon, daß diese unsterblichen Lieder von recht ge¬
ringem Werte waren. Genug, sie waren und blieben für immer verschwunden."

Doch ich habe vorgegriffen. Als wir drei Freunde unsre „poetischen Arbeiten
sammelten und sichteten, kamen wir auf den Gedanken, daß vielleicht auch noch
andre Primaner „ganz nette" Gedichte machen könnten, und daß man solche
literarischen oder poetischen Passionen pflegen müsse. Karl Lange schlug vor, einen
„Musenbund" zu gründen. Niemand sollte Mitglied werden können, der nicht ein
eignes, von ihm herrührendes Gedicht vorlegen konnte. Dieses Gedicht sollte dann
im Museubunde vorgelesen werden, und dieser sollte durch Stimmenmehrheit ent¬
scheiden, ob der Verfasser aufgenommen werden solle. Die Sache schien in der Tat
zu gelingen. Es fanden sich noch einige dichtende Primaner, die zugelassen wurden.
Wir erweiterten das Programm dahin, daß wir wöchentlich oder aller vierzehn
Tage einmal in dem Saale eines Restaurants zusammenkamen, daß dort ein Mitglied
einen literarischen Vortrag halten sollte, daß dann die Probegedichte neu Angemeldeter
vorgelesen und beurteilt werden, und daß jedes Mitglied das Recht haben sollte,
ein von ihm geschaffnes Gedicht vorzulesen. Die ersten Abende verliefen ganz ver-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0794" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/242866"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_2912" prev="#ID_2911"> Neigung zum Versemachen angeregt worden. Wir lasen in der Klasse fast aus¬<lb/>
schließlich Lessing. Aus ihm entnahm Professor Schumann auch die meisten seiner<lb/>
Aufsatzthemata. Privatim aber schwärmten wir für Lenau, Anastasius Grün, Geibel,<lb/>
Karl Beck, Heine, Freiligrath und allenfalls auch Platen. Heimlich versuchten wir<lb/>
uns in kleinen lyrischen Gedichten, in denen wir die inzwischen erwachsenen ehe¬<lb/>
maligen Tanzstundenflammen platonisch anfangen. Diese kleinen und völlig harm¬<lb/>
losen poetischen Versuche führten dahin, daß meine beiden nächsten Freunde Karl<lb/>
Lange und Ludwig Kramer, von denen namentlich der erste eine wirkliche poetische<lb/>
Ader hatte, sich mit mir zusammen taten, uns unsre poetischen Ergüsse und Arbeiten<lb/>
gegenseitig vorzulesen und zu kritisieren. Alles, was die einstimmige Billigung aller<lb/>
drei &#x201E;Dichter" erlangt hatte, wurde höchst sauber von mir in ein dickes Quartbuch<lb/>
eingetragen, und wir dachten alles Ernstes daran, daß diese unsterblichen Poesien<lb/>
gedruckt werden müßten und der Welt nicht verloren gehn dürften. Als ich im<lb/>
Herbst 1850 die Reifeprüfung bestanden hatte und nach Heidelberg ging, nahm ich<lb/>
auf Verlangen meiner beiden noch &#x201E;auf der Falle" zurückbleibenden Mitdichter das<lb/>
inzwischen gefüllte, ziemlich starke Buch mit nach Heidelberg. Von dort sandte ich<lb/>
es an die Cottasche Buchhandlung in Stuttgart und bot es ihr für ihren Verlag<lb/>
an. Nach vierzehn Tagen bekam ich es mit einem höflichen Schreiben zurück. Cotta<lb/>
bedauerte, die von Talent zeugenden Gedichte nicht verlegen zu können, da der<lb/>
Büchermarkt gerade damals mit Erzeugnissen der lyrischen Muse überfüllt sei. Dann<lb/>
sandte ich das Manuskript an Brockhaus. Dessen Antwort war der Cottaschen fast<lb/>
so ähnlich, wie ein El dem andern. Wir mußten uns also überzeugen, daß die<lb/>
bedeutendsten Firmen des deutschen Buchhandels &#x2014; für uns kamen natürlich nur<lb/>
solche in Betracht &#x2014; für unsre bahnbrechende, neue Poesie noch nicht das genügende<lb/>
Verständnis hatten. Ich nahm das Manuskript, als ich Heidelberg verließ, wieder mit<lb/>
nach Hause, und wir beschlossen, es nochmals einer gemeinsamen Sichtung und<lb/>
vielleicht Ergänzung zu unterwerfen. Arglos hatte ich das Buch auf meinem Arbeits¬<lb/>
pult liegen lassen. Von da war es noch vor Beginn meines dritten akademischen<lb/>
Semesters spurlos verschwunden. Alle Nachforschungen blieben vergeblich. Erst<lb/>
später bin ich ans den Gedanken gekommen, daß mein guter Vater das Buch wohl<lb/>
einmal auf meinem Tische hat liegen sehen, daß er den gesamten Inhalt, da ich<lb/>
ihn sauber abgeschrieben hatte, als ausschließlich auf mein Konto kommende Produkte<lb/>
meiner Mußestunden betrachtet haben und auf die Idee gekommen sein mag, daß<lb/>
es für seinen einigermaßen impulsiver Sohn geratener sei, sich mit prosaischer Rechts¬<lb/>
wissenschaft als mit poetischen Liebesliedern, Romanzen und Balladen zu befassen.<lb/>
Ich bin überzeugt, daß mein Vater das Manuskript damals in aller Stille unter<lb/>
unsern Dampfkessel gesteckt und verbrannt hat. Gesprochen wurde davon nicht.<lb/>
Ich hatte auch nicht recht den Mut, meinen Vater direkt zu fragen. Vielleicht hatte<lb/>
ich schon damals eine Ahnung davon, daß diese unsterblichen Lieder von recht ge¬<lb/>
ringem Werte waren.  Genug, sie waren und blieben für immer verschwunden."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2913" next="#ID_2914"> Doch ich habe vorgegriffen. Als wir drei Freunde unsre &#x201E;poetischen Arbeiten<lb/>
sammelten und sichteten, kamen wir auf den Gedanken, daß vielleicht auch noch<lb/>
andre Primaner &#x201E;ganz nette" Gedichte machen könnten, und daß man solche<lb/>
literarischen oder poetischen Passionen pflegen müsse. Karl Lange schlug vor, einen<lb/>
&#x201E;Musenbund" zu gründen. Niemand sollte Mitglied werden können, der nicht ein<lb/>
eignes, von ihm herrührendes Gedicht vorlegen konnte. Dieses Gedicht sollte dann<lb/>
im Museubunde vorgelesen werden, und dieser sollte durch Stimmenmehrheit ent¬<lb/>
scheiden, ob der Verfasser aufgenommen werden solle. Die Sache schien in der Tat<lb/>
zu gelingen. Es fanden sich noch einige dichtende Primaner, die zugelassen wurden.<lb/>
Wir erweiterten das Programm dahin, daß wir wöchentlich oder aller vierzehn<lb/>
Tage einmal in dem Saale eines Restaurants zusammenkamen, daß dort ein Mitglied<lb/>
einen literarischen Vortrag halten sollte, daß dann die Probegedichte neu Angemeldeter<lb/>
vorgelesen und beurteilt werden, und daß jedes Mitglied das Recht haben sollte,<lb/>
ein von ihm geschaffnes Gedicht vorzulesen. Die ersten Abende verliefen ganz ver-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0794] Neigung zum Versemachen angeregt worden. Wir lasen in der Klasse fast aus¬ schließlich Lessing. Aus ihm entnahm Professor Schumann auch die meisten seiner Aufsatzthemata. Privatim aber schwärmten wir für Lenau, Anastasius Grün, Geibel, Karl Beck, Heine, Freiligrath und allenfalls auch Platen. Heimlich versuchten wir uns in kleinen lyrischen Gedichten, in denen wir die inzwischen erwachsenen ehe¬ maligen Tanzstundenflammen platonisch anfangen. Diese kleinen und völlig harm¬ losen poetischen Versuche führten dahin, daß meine beiden nächsten Freunde Karl Lange und Ludwig Kramer, von denen namentlich der erste eine wirkliche poetische Ader hatte, sich mit mir zusammen taten, uns unsre poetischen Ergüsse und Arbeiten gegenseitig vorzulesen und zu kritisieren. Alles, was die einstimmige Billigung aller drei „Dichter" erlangt hatte, wurde höchst sauber von mir in ein dickes Quartbuch eingetragen, und wir dachten alles Ernstes daran, daß diese unsterblichen Poesien gedruckt werden müßten und der Welt nicht verloren gehn dürften. Als ich im Herbst 1850 die Reifeprüfung bestanden hatte und nach Heidelberg ging, nahm ich auf Verlangen meiner beiden noch „auf der Falle" zurückbleibenden Mitdichter das inzwischen gefüllte, ziemlich starke Buch mit nach Heidelberg. Von dort sandte ich es an die Cottasche Buchhandlung in Stuttgart und bot es ihr für ihren Verlag an. Nach vierzehn Tagen bekam ich es mit einem höflichen Schreiben zurück. Cotta bedauerte, die von Talent zeugenden Gedichte nicht verlegen zu können, da der Büchermarkt gerade damals mit Erzeugnissen der lyrischen Muse überfüllt sei. Dann sandte ich das Manuskript an Brockhaus. Dessen Antwort war der Cottaschen fast so ähnlich, wie ein El dem andern. Wir mußten uns also überzeugen, daß die bedeutendsten Firmen des deutschen Buchhandels — für uns kamen natürlich nur solche in Betracht — für unsre bahnbrechende, neue Poesie noch nicht das genügende Verständnis hatten. Ich nahm das Manuskript, als ich Heidelberg verließ, wieder mit nach Hause, und wir beschlossen, es nochmals einer gemeinsamen Sichtung und vielleicht Ergänzung zu unterwerfen. Arglos hatte ich das Buch auf meinem Arbeits¬ pult liegen lassen. Von da war es noch vor Beginn meines dritten akademischen Semesters spurlos verschwunden. Alle Nachforschungen blieben vergeblich. Erst später bin ich ans den Gedanken gekommen, daß mein guter Vater das Buch wohl einmal auf meinem Tische hat liegen sehen, daß er den gesamten Inhalt, da ich ihn sauber abgeschrieben hatte, als ausschließlich auf mein Konto kommende Produkte meiner Mußestunden betrachtet haben und auf die Idee gekommen sein mag, daß es für seinen einigermaßen impulsiver Sohn geratener sei, sich mit prosaischer Rechts¬ wissenschaft als mit poetischen Liebesliedern, Romanzen und Balladen zu befassen. Ich bin überzeugt, daß mein Vater das Manuskript damals in aller Stille unter unsern Dampfkessel gesteckt und verbrannt hat. Gesprochen wurde davon nicht. Ich hatte auch nicht recht den Mut, meinen Vater direkt zu fragen. Vielleicht hatte ich schon damals eine Ahnung davon, daß diese unsterblichen Lieder von recht ge¬ ringem Werte waren. Genug, sie waren und blieben für immer verschwunden." Doch ich habe vorgegriffen. Als wir drei Freunde unsre „poetischen Arbeiten sammelten und sichteten, kamen wir auf den Gedanken, daß vielleicht auch noch andre Primaner „ganz nette" Gedichte machen könnten, und daß man solche literarischen oder poetischen Passionen pflegen müsse. Karl Lange schlug vor, einen „Musenbund" zu gründen. Niemand sollte Mitglied werden können, der nicht ein eignes, von ihm herrührendes Gedicht vorlegen konnte. Dieses Gedicht sollte dann im Museubunde vorgelesen werden, und dieser sollte durch Stimmenmehrheit ent¬ scheiden, ob der Verfasser aufgenommen werden solle. Die Sache schien in der Tat zu gelingen. Es fanden sich noch einige dichtende Primaner, die zugelassen wurden. Wir erweiterten das Programm dahin, daß wir wöchentlich oder aller vierzehn Tage einmal in dem Saale eines Restaurants zusammenkamen, daß dort ein Mitglied einen literarischen Vortrag halten sollte, daß dann die Probegedichte neu Angemeldeter vorgelesen und beurteilt werden, und daß jedes Mitglied das Recht haben sollte, ein von ihm geschaffnes Gedicht vorzulesen. Die ersten Abende verliefen ganz ver-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/794
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/794>, abgerufen am 24.08.2024.