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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Aus der Jugendzeit

gekommen sein, daß ich in jenen Tagen weder Zeitungen gelesen, noch bei Tisch
durch die Gespräche des Vaters von der Vertreibung Louis Philipps etwas gehört
hatte. Als ich zum erstenmal wieder zur Schule kam, las vor dem Eintritt des
Lehrers in die Klasse ein etwas früh- und überreifer sekundärer, Richard Weyde,
den übrigen eine Zeitung vor. In dem Artikel, der von Paris handelte, wurde
in allen Tonarten das Lob Lamartines gesungen. Ich hatte den Namen Lamartine
noch nie gehört und fragte ganz unbefangen dazwischen: Wer ist Lamartine? Kinder!
schrie Richard Weyde, hier ist einer unter uns, der nicht weiß, wer Lamartine ist.
Ich will es dir sagen, Bosse, Lamartine ist der größte Mann des Jahrhunderts,
einer der größten und edelsten Menschen aller Zeiten, Mitglied der provisorischen
Regierung in Paris. Ich wußte dadurch zwar noch immer nicht viel mehr als
vorher, kam mir aber ungeheuer dumm vor, während mir Richard Weyde, der mir
in der Klasse nichts weniger als überlegen war, in einer Strahlenkrone politischer
und staatsmännischer Weisheit erschien. Natürlich verschlangen wir die Zeitungen.
In Frankreich und Paris war ja schon wiederholt Revolution gewesen. Daß aber
ähnliche Dinge auch bei uns passieren könnten, hielt, soviel auch über die französische
Republik geschwatzt wurde, uiemcind für möglich.

In jener Zeit -- das ist doch auch charakteristisch für die Zeit wie für uns --
gründeten wir in der Sekunda ein geschriebnes Schülerblatt, "Die Pennallmnpe."
Pennäler nannte man die Gymnasiasten, und wenn wir uns selbst als Pennaler
bezeichneten, so lag darin eine gewisse Selbstironisiernng. Oswald Schmidt, ein
Sohn des Superintendenten, zeichnete sehr hübsch, namentlich höchst ähnliche und
Witzige Karikaturen. Er schmückte jede Nummer der "Pennallampe" vorn mit einer
hübschen Schiebelampe als Titelvignette und ließ dann ans der ersten Seite meist
das wohlgetroffne Bildnis eines Lehrers oder Mitschülers mit witzigen Bemerkungen
oder Versen folgen. Dann zirkulierte das angefangne Manuskript jeder Nummer
bei den einzelnen Mitarbeitern, die ihre Beiträge, meist Schulcmeldvten, hinzu¬
schrieben. Die gefüllte Nummer zirkulierte dann nochmals, damit jeder ihren vollen
Inhalt lesen konnte. Ein höchst primitives Unternehmen. Es hielt sich aber doch
wohl ein oder gar zwei Semester lang.

Der Winter von 1847/48 bot mir auch sonst etwas völlig Neues und Inter¬
essantes, die Tanzstunde. Denn vorher hatte ich wegen der bevorstehenden Kon¬
firmation am Tanzunterricht noch nicht teilnehmen dürfen. Darauf hielt man in
den Quedlinburger Bürgerhäusern, daß Konfirmandenunterricht und Tanzstunde mit¬
einander unverträglich seien. Nur ganz einzelne vornehme Beamtenfamilien machten
davon eine Ausnahme. Leider auch die Frau Superintendent, wahrscheinlich ohne
daß ihr Mann darum wußte. Wir Bürgerjungen lernten den Zauber der Tanz¬
stunde erst nach der Konfirmation kennen. Dieser Zauber war sehr groß, glück¬
licherweise aber harmlos.

Unser Tanzlehrer, Herr Weber, wohnte in Halberstadt und kam zur Tanz¬
stunde von dort jedesmal mit der Post nach Quedlinburg. Er war damals schon
nicht mehr ganz jung und mochte in seiner Jugend wohl Balletttänzer gewesen sein.
Denn er machte auch jetzt noch, wenn er besonders guter Laune war, uns Jungen
eine ganz tadellose und graziöse Pirouette vor. Er zog sich mit Sorgfalt an, trug
sein dunkles Haar lang bis auf die Schultern und in der Mitte gescheitelt. Das
gab ihm ein künstlerartiges Ansehen. Sobald wir den allgemeinen und vorbe¬
reitenden Teil seines Unterrichts überwunden hatten und wirklich zu tanzen an¬
fingen, spielte er die Tanzmusik dazu ans der Geige. Natürlich hatte dieser erste
Verkehr mit den gleichaltrigen Mädchen für uns einen großen Reiz, und jeder
Junge -- in der Tanzstunde wurden wir natürlich Herr genannt -- begünstigte
-- mehr oder weniger heimlich -- eins der Mädchen, eine der Damen vor den
andern. Diese Tanzstundenflamme wurde auf der Straße mit besondrer Höflichkeit
gegrüßt. Es mag auch vorgekommen sein, daß der eine oder der andre Junge
auf die Erlorne seines Herzens ein paar Verse gemacht hat. In ihre Hände sind


Aus der Jugendzeit

gekommen sein, daß ich in jenen Tagen weder Zeitungen gelesen, noch bei Tisch
durch die Gespräche des Vaters von der Vertreibung Louis Philipps etwas gehört
hatte. Als ich zum erstenmal wieder zur Schule kam, las vor dem Eintritt des
Lehrers in die Klasse ein etwas früh- und überreifer sekundärer, Richard Weyde,
den übrigen eine Zeitung vor. In dem Artikel, der von Paris handelte, wurde
in allen Tonarten das Lob Lamartines gesungen. Ich hatte den Namen Lamartine
noch nie gehört und fragte ganz unbefangen dazwischen: Wer ist Lamartine? Kinder!
schrie Richard Weyde, hier ist einer unter uns, der nicht weiß, wer Lamartine ist.
Ich will es dir sagen, Bosse, Lamartine ist der größte Mann des Jahrhunderts,
einer der größten und edelsten Menschen aller Zeiten, Mitglied der provisorischen
Regierung in Paris. Ich wußte dadurch zwar noch immer nicht viel mehr als
vorher, kam mir aber ungeheuer dumm vor, während mir Richard Weyde, der mir
in der Klasse nichts weniger als überlegen war, in einer Strahlenkrone politischer
und staatsmännischer Weisheit erschien. Natürlich verschlangen wir die Zeitungen.
In Frankreich und Paris war ja schon wiederholt Revolution gewesen. Daß aber
ähnliche Dinge auch bei uns passieren könnten, hielt, soviel auch über die französische
Republik geschwatzt wurde, uiemcind für möglich.

In jener Zeit — das ist doch auch charakteristisch für die Zeit wie für uns —
gründeten wir in der Sekunda ein geschriebnes Schülerblatt, „Die Pennallmnpe."
Pennäler nannte man die Gymnasiasten, und wenn wir uns selbst als Pennaler
bezeichneten, so lag darin eine gewisse Selbstironisiernng. Oswald Schmidt, ein
Sohn des Superintendenten, zeichnete sehr hübsch, namentlich höchst ähnliche und
Witzige Karikaturen. Er schmückte jede Nummer der „Pennallampe" vorn mit einer
hübschen Schiebelampe als Titelvignette und ließ dann ans der ersten Seite meist
das wohlgetroffne Bildnis eines Lehrers oder Mitschülers mit witzigen Bemerkungen
oder Versen folgen. Dann zirkulierte das angefangne Manuskript jeder Nummer
bei den einzelnen Mitarbeitern, die ihre Beiträge, meist Schulcmeldvten, hinzu¬
schrieben. Die gefüllte Nummer zirkulierte dann nochmals, damit jeder ihren vollen
Inhalt lesen konnte. Ein höchst primitives Unternehmen. Es hielt sich aber doch
wohl ein oder gar zwei Semester lang.

Der Winter von 1847/48 bot mir auch sonst etwas völlig Neues und Inter¬
essantes, die Tanzstunde. Denn vorher hatte ich wegen der bevorstehenden Kon¬
firmation am Tanzunterricht noch nicht teilnehmen dürfen. Darauf hielt man in
den Quedlinburger Bürgerhäusern, daß Konfirmandenunterricht und Tanzstunde mit¬
einander unverträglich seien. Nur ganz einzelne vornehme Beamtenfamilien machten
davon eine Ausnahme. Leider auch die Frau Superintendent, wahrscheinlich ohne
daß ihr Mann darum wußte. Wir Bürgerjungen lernten den Zauber der Tanz¬
stunde erst nach der Konfirmation kennen. Dieser Zauber war sehr groß, glück¬
licherweise aber harmlos.

Unser Tanzlehrer, Herr Weber, wohnte in Halberstadt und kam zur Tanz¬
stunde von dort jedesmal mit der Post nach Quedlinburg. Er war damals schon
nicht mehr ganz jung und mochte in seiner Jugend wohl Balletttänzer gewesen sein.
Denn er machte auch jetzt noch, wenn er besonders guter Laune war, uns Jungen
eine ganz tadellose und graziöse Pirouette vor. Er zog sich mit Sorgfalt an, trug
sein dunkles Haar lang bis auf die Schultern und in der Mitte gescheitelt. Das
gab ihm ein künstlerartiges Ansehen. Sobald wir den allgemeinen und vorbe¬
reitenden Teil seines Unterrichts überwunden hatten und wirklich zu tanzen an¬
fingen, spielte er die Tanzmusik dazu ans der Geige. Natürlich hatte dieser erste
Verkehr mit den gleichaltrigen Mädchen für uns einen großen Reiz, und jeder
Junge — in der Tanzstunde wurden wir natürlich Herr genannt — begünstigte
— mehr oder weniger heimlich — eins der Mädchen, eine der Damen vor den
andern. Diese Tanzstundenflamme wurde auf der Straße mit besondrer Höflichkeit
gegrüßt. Es mag auch vorgekommen sein, daß der eine oder der andre Junge
auf die Erlorne seines Herzens ein paar Verse gemacht hat. In ihre Hände sind


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/722>, abgerufen am 22.07.2024.