ziger Jahre siegreich gewesen sein. Heute ist die türkische Armee, wie der griechische Krieg erwiesen hat, eine wesentlich andre, während dem bul¬ garischen Heere der Hauch soldatischen Geistes und soldatischer Treue fehlt, die moralischen Potenzen, ohne die ein dauernder Erfolg nicht denkbar ist. Die Neigung zum Verschwörertum, das sich einst an der Person des Fürsten Alexander vergriff, der seine Offiziere zu früh mit deutschem Maßstabe ge¬ messen hatte, ist schwerlich durch eine Regierung beseitigt worden, bei der durch allen Wechsel der Ministerien der Geist der Verschwörung fast allein das bleibende ist. Der makedonische Aufstand hat das von neuem bestätigt.
Nach dem gesamten Gange der russischen Politik seit 1878 konnte Kaiser Nikolaus einen Zusammenstoß zwischen der Türkei und Bulgarien nicht zu¬ lassen, Rußland wäre unvermeidlich zur Parteinahme gezwungen gewesen in einem Augenblick, wo es seine ganze Aufmerksamkeit auf Asien richtet; dort hat es weit mehr zu verlieren, als im Orient jetzt zu gewinnen wäre. Die bulgarische Agitation in Makedonien, die da eigentlich zu den ständigen Ein¬ richtungen gehört, hatte schon im Mürz 1902 den Vertretern Rußlands und Österreichs Anlaß zu Vorstellungen in Sofia geboten, die zur Folge hatten, daß die bulgarische Regierung die makedonischer Komitees in Sofia mit Auf¬ lösung bedrohte, sofern sie sich nicht in den gesetzlichen Grenzen hielten. Bald darauf erließ sie jedoch an ihre Vertreter im Ausland ein Zirkular, worin sie den türkische" Behörden die Schuld an der Lage in Makedonien und im Wilajet Adrianopel beimaß. Im Juni ging dann der Fürst nach Petersburg, um sich der russischen offiziellen Beteiligung an der Schipkafeier zu ver¬ gewissern. Obgleich sich der Vertreter des Zaren, Großfürst Nikolaus, bei dieser Feier -- wohl unter dem Einfluß der rechtzeitigen Entdeckung eines beabsichtigten Attentats -- ziemlich kühl verhielt und seinen Rückweg über Konstantinopel nahm, um einen ungünstigen Eindruck, den die Feier auf den Sultan gemacht haben mochte, zu verwischen, so war es doch zweifellos, daß der Glaube an eine wohlwollende Unterstützung der bulgarischen Pläne durch den Zaren in ganz Bulgarien aus dem Vorgange neue Nahrung erhielt; die Eröffnungsrede an die Sobranje am 28. Oktober wies auf dieses Wohlwollen des Zaren ganz ausdrücklich hin. Es konnte unter solchen Umständen nicht wundernehmen, daß der Aufstand in Makedonien um jene Zeit sehr viel leb¬ hafter wurde, sodaß der Petersburger amtliche Regierungsböte am 13. De¬ zember die Regierungen von Bulgarien und Serbien ernstlich warnte, "im eignen Interesse" die gefährliche Agitation zu verhindern. Acht Tage später machte sich Graf Lamsdorff selbst auf den Weg über Sofia und Belgrad nach Wien, um an jenen Orten energisch Ruhe zu gebieten, in Wien aber die nötigen Schritte zu vereinbaren, ein Weitergreifen des makedonischer Brandes nnter allen Umständen zu verhindern.
Inzwischen war im November das erste türkische Reform-Jrade ergangen. Es beruhte auf einem Vorschlage des russischen Botschafters Sinowjew in Konstantinopel, der als einer der besten Kenner des Balkans und des türkischen Reichs gilt. Kaiser Nikolaus hatte in Livadia Turkhan Bey, der als außer¬ ordentlicher Botschafter zur Begrüßung im Namen des Sultans erschienen war,
Unser Freund der Sultan
ziger Jahre siegreich gewesen sein. Heute ist die türkische Armee, wie der griechische Krieg erwiesen hat, eine wesentlich andre, während dem bul¬ garischen Heere der Hauch soldatischen Geistes und soldatischer Treue fehlt, die moralischen Potenzen, ohne die ein dauernder Erfolg nicht denkbar ist. Die Neigung zum Verschwörertum, das sich einst an der Person des Fürsten Alexander vergriff, der seine Offiziere zu früh mit deutschem Maßstabe ge¬ messen hatte, ist schwerlich durch eine Regierung beseitigt worden, bei der durch allen Wechsel der Ministerien der Geist der Verschwörung fast allein das bleibende ist. Der makedonische Aufstand hat das von neuem bestätigt.
Nach dem gesamten Gange der russischen Politik seit 1878 konnte Kaiser Nikolaus einen Zusammenstoß zwischen der Türkei und Bulgarien nicht zu¬ lassen, Rußland wäre unvermeidlich zur Parteinahme gezwungen gewesen in einem Augenblick, wo es seine ganze Aufmerksamkeit auf Asien richtet; dort hat es weit mehr zu verlieren, als im Orient jetzt zu gewinnen wäre. Die bulgarische Agitation in Makedonien, die da eigentlich zu den ständigen Ein¬ richtungen gehört, hatte schon im Mürz 1902 den Vertretern Rußlands und Österreichs Anlaß zu Vorstellungen in Sofia geboten, die zur Folge hatten, daß die bulgarische Regierung die makedonischer Komitees in Sofia mit Auf¬ lösung bedrohte, sofern sie sich nicht in den gesetzlichen Grenzen hielten. Bald darauf erließ sie jedoch an ihre Vertreter im Ausland ein Zirkular, worin sie den türkische» Behörden die Schuld an der Lage in Makedonien und im Wilajet Adrianopel beimaß. Im Juni ging dann der Fürst nach Petersburg, um sich der russischen offiziellen Beteiligung an der Schipkafeier zu ver¬ gewissern. Obgleich sich der Vertreter des Zaren, Großfürst Nikolaus, bei dieser Feier — wohl unter dem Einfluß der rechtzeitigen Entdeckung eines beabsichtigten Attentats — ziemlich kühl verhielt und seinen Rückweg über Konstantinopel nahm, um einen ungünstigen Eindruck, den die Feier auf den Sultan gemacht haben mochte, zu verwischen, so war es doch zweifellos, daß der Glaube an eine wohlwollende Unterstützung der bulgarischen Pläne durch den Zaren in ganz Bulgarien aus dem Vorgange neue Nahrung erhielt; die Eröffnungsrede an die Sobranje am 28. Oktober wies auf dieses Wohlwollen des Zaren ganz ausdrücklich hin. Es konnte unter solchen Umständen nicht wundernehmen, daß der Aufstand in Makedonien um jene Zeit sehr viel leb¬ hafter wurde, sodaß der Petersburger amtliche Regierungsböte am 13. De¬ zember die Regierungen von Bulgarien und Serbien ernstlich warnte, „im eignen Interesse" die gefährliche Agitation zu verhindern. Acht Tage später machte sich Graf Lamsdorff selbst auf den Weg über Sofia und Belgrad nach Wien, um an jenen Orten energisch Ruhe zu gebieten, in Wien aber die nötigen Schritte zu vereinbaren, ein Weitergreifen des makedonischer Brandes nnter allen Umständen zu verhindern.
Inzwischen war im November das erste türkische Reform-Jrade ergangen. Es beruhte auf einem Vorschlage des russischen Botschafters Sinowjew in Konstantinopel, der als einer der besten Kenner des Balkans und des türkischen Reichs gilt. Kaiser Nikolaus hatte in Livadia Turkhan Bey, der als außer¬ ordentlicher Botschafter zur Begrüßung im Namen des Sultans erschienen war,
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ziger Jahre siegreich gewesen sein. Heute ist die türkische Armee, wie der
griechische Krieg erwiesen hat, eine wesentlich andre, während dem bul¬
garischen Heere der Hauch soldatischen Geistes und soldatischer Treue fehlt,
die moralischen Potenzen, ohne die ein dauernder Erfolg nicht denkbar ist.
Die Neigung zum Verschwörertum, das sich einst an der Person des Fürsten
Alexander vergriff, der seine Offiziere zu früh mit deutschem Maßstabe ge¬
messen hatte, ist schwerlich durch eine Regierung beseitigt worden, bei der durch
allen Wechsel der Ministerien der Geist der Verschwörung fast allein das
bleibende ist. Der makedonische Aufstand hat das von neuem bestätigt.
Nach dem gesamten Gange der russischen Politik seit 1878 konnte Kaiser
Nikolaus einen Zusammenstoß zwischen der Türkei und Bulgarien nicht zu¬
lassen, Rußland wäre unvermeidlich zur Parteinahme gezwungen gewesen in
einem Augenblick, wo es seine ganze Aufmerksamkeit auf Asien richtet; dort
hat es weit mehr zu verlieren, als im Orient jetzt zu gewinnen wäre. Die
bulgarische Agitation in Makedonien, die da eigentlich zu den ständigen Ein¬
richtungen gehört, hatte schon im Mürz 1902 den Vertretern Rußlands und
Österreichs Anlaß zu Vorstellungen in Sofia geboten, die zur Folge hatten,
daß die bulgarische Regierung die makedonischer Komitees in Sofia mit Auf¬
lösung bedrohte, sofern sie sich nicht in den gesetzlichen Grenzen hielten. Bald
darauf erließ sie jedoch an ihre Vertreter im Ausland ein Zirkular, worin sie
den türkische» Behörden die Schuld an der Lage in Makedonien und im
Wilajet Adrianopel beimaß. Im Juni ging dann der Fürst nach Petersburg,
um sich der russischen offiziellen Beteiligung an der Schipkafeier zu ver¬
gewissern. Obgleich sich der Vertreter des Zaren, Großfürst Nikolaus, bei
dieser Feier — wohl unter dem Einfluß der rechtzeitigen Entdeckung eines
beabsichtigten Attentats — ziemlich kühl verhielt und seinen Rückweg über
Konstantinopel nahm, um einen ungünstigen Eindruck, den die Feier auf den
Sultan gemacht haben mochte, zu verwischen, so war es doch zweifellos, daß
der Glaube an eine wohlwollende Unterstützung der bulgarischen Pläne durch
den Zaren in ganz Bulgarien aus dem Vorgange neue Nahrung erhielt; die
Eröffnungsrede an die Sobranje am 28. Oktober wies auf dieses Wohlwollen
des Zaren ganz ausdrücklich hin. Es konnte unter solchen Umständen nicht
wundernehmen, daß der Aufstand in Makedonien um jene Zeit sehr viel leb¬
hafter wurde, sodaß der Petersburger amtliche Regierungsböte am 13. De¬
zember die Regierungen von Bulgarien und Serbien ernstlich warnte, „im
eignen Interesse" die gefährliche Agitation zu verhindern. Acht Tage später
machte sich Graf Lamsdorff selbst auf den Weg über Sofia und Belgrad nach
Wien, um an jenen Orten energisch Ruhe zu gebieten, in Wien aber die
nötigen Schritte zu vereinbaren, ein Weitergreifen des makedonischer Brandes
nnter allen Umständen zu verhindern.
Inzwischen war im November das erste türkische Reform-Jrade ergangen.
Es beruhte auf einem Vorschlage des russischen Botschafters Sinowjew in
Konstantinopel, der als einer der besten Kenner des Balkans und des türkischen
Reichs gilt. Kaiser Nikolaus hatte in Livadia Turkhan Bey, der als außer¬
ordentlicher Botschafter zur Begrüßung im Namen des Sultans erschienen war,
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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/690>, abgerufen am 03.07.2024.
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