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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Gin Versuch darwinischer Geschichtsphilosophie

ilhelm Bölsche ist der Dichter des Darwinismus. Die von den
Biologen entdeckten Zusammenhänge zwischen den verschiednen
Arten von Organismen entzücken ihn nicht weniger als die Schön¬
heit der Formen von Tieren und Pflanzen und das "Liebes¬
leben in der Nntnr." Er singt diesen Schönheiten, die auch wir
lieben und bewundern, begeisterte Prosahymnen, die wir mit Genuß lesen, so¬
weit sie sich als Schilderungen und Dithyramben geben. Aber wir sehen uns
genötigt, die Harmonie durch kritischen Einspruch zu stören, so oft der Dichter
die Rolle des exakten Naturforschers zu spielen versucht oder gar Geschichts¬
philosoph sein will. Eine Abhandlung in Nummer 208 und 209 der Frank¬
furter Zeitung, die die Entstehung des Bienenstaats erzählt, überschreibt er:
Die Geschichtsphilosophie des Bienenstaates. Wir haben uns wiederholt, zu¬
letzt bei der politischen Anthropologie von Woltmann, gegen den Versuch einer
rein biologischen Erklärung aller menschlichen Dinge erklärt und werden zu
solche" Protesten Wohl noch öfter Urias; haben; nicht minder entschieden jedoch
müssen wir die Zumutung zurückweisen, das menschliche Seelen- und Geistes^
leben schou in den niedern Tieren anerkennen zu sollen.

Bölsche berichtet als das Ergebnis der Forschungen zweier Entomologen:
Hermann Müller und H. von Büttel-Reepen, folgendes. Die Grabwespe, die
wie alle bienenartigen Insekten von Blütennektar und Blutenstaub lebt, versorgt
ihre Brut mit Fleischnahrung, indem sie Spinnen betäubt, in eine Grube schleppt,
ihr El dazu legt und die Grube verschließt. Die ausgekrochne Made frißt die
noch lebenden Spinnen. Auf der uüchsten der zu unsrer Hausbiene führenden
Entwicklungsstufen legt das Tier, das nun Einsiedlerbiene heißt, statt der
Spinnen den ausgespieenen Überschuß seiner Nektarncchrnng in die zur Auf¬
nahme der Eier bestimmten Löcher. Ein weiterer Fortschritt besteht darin, daß
das Insekt nicht ein einzelnes Loch gräbt, sondern eine Reihe oder Gruppe von
Zellen anlegt, sodaß die ausgekrochne Brut nach vollendeter Entwicklung eine
Kolonie, einen kleinen Familienstaat bildet. Es kommt auch vor, daß sich Ein¬
siedlerbienen rein zufällig nebeneinander ansiedeln, sich zur Abwehr von Feinden
vereinigen und sogar gemeinsam schwärmen. Dieser Ansatz zu einer Gesellschafts-
bildung, die nicht auf der gemeinsamen Abstammung, sondern auf dem gemein¬
samen Bedürfnisse und Interesse Nichtverwandter beruht, hat sich jedoch nicht
weiter entwickelt. Die Entwicklung schreitet vielmehr im Gebiete des Geschlechts¬
lebens fort. Die ursprüngliche Einsiedlerbiene lernt ihre ausgekrochne Brut
nicht kennen; nachdem sie in die mit Nahrung gefüllte Zelle das El gelegt und
die Öffnung verschlossen hat, fliegt sie fort. Eine Biene andrer Art, eine von
denen, die zusammenhängende Reihen und Gruppen von Zellen anlegen, tritt




Gin Versuch darwinischer Geschichtsphilosophie

ilhelm Bölsche ist der Dichter des Darwinismus. Die von den
Biologen entdeckten Zusammenhänge zwischen den verschiednen
Arten von Organismen entzücken ihn nicht weniger als die Schön¬
heit der Formen von Tieren und Pflanzen und das „Liebes¬
leben in der Nntnr." Er singt diesen Schönheiten, die auch wir
lieben und bewundern, begeisterte Prosahymnen, die wir mit Genuß lesen, so¬
weit sie sich als Schilderungen und Dithyramben geben. Aber wir sehen uns
genötigt, die Harmonie durch kritischen Einspruch zu stören, so oft der Dichter
die Rolle des exakten Naturforschers zu spielen versucht oder gar Geschichts¬
philosoph sein will. Eine Abhandlung in Nummer 208 und 209 der Frank¬
furter Zeitung, die die Entstehung des Bienenstaats erzählt, überschreibt er:
Die Geschichtsphilosophie des Bienenstaates. Wir haben uns wiederholt, zu¬
letzt bei der politischen Anthropologie von Woltmann, gegen den Versuch einer
rein biologischen Erklärung aller menschlichen Dinge erklärt und werden zu
solche» Protesten Wohl noch öfter Urias; haben; nicht minder entschieden jedoch
müssen wir die Zumutung zurückweisen, das menschliche Seelen- und Geistes^
leben schou in den niedern Tieren anerkennen zu sollen.

Bölsche berichtet als das Ergebnis der Forschungen zweier Entomologen:
Hermann Müller und H. von Büttel-Reepen, folgendes. Die Grabwespe, die
wie alle bienenartigen Insekten von Blütennektar und Blutenstaub lebt, versorgt
ihre Brut mit Fleischnahrung, indem sie Spinnen betäubt, in eine Grube schleppt,
ihr El dazu legt und die Grube verschließt. Die ausgekrochne Made frißt die
noch lebenden Spinnen. Auf der uüchsten der zu unsrer Hausbiene führenden
Entwicklungsstufen legt das Tier, das nun Einsiedlerbiene heißt, statt der
Spinnen den ausgespieenen Überschuß seiner Nektarncchrnng in die zur Auf¬
nahme der Eier bestimmten Löcher. Ein weiterer Fortschritt besteht darin, daß
das Insekt nicht ein einzelnes Loch gräbt, sondern eine Reihe oder Gruppe von
Zellen anlegt, sodaß die ausgekrochne Brut nach vollendeter Entwicklung eine
Kolonie, einen kleinen Familienstaat bildet. Es kommt auch vor, daß sich Ein¬
siedlerbienen rein zufällig nebeneinander ansiedeln, sich zur Abwehr von Feinden
vereinigen und sogar gemeinsam schwärmen. Dieser Ansatz zu einer Gesellschafts-
bildung, die nicht auf der gemeinsamen Abstammung, sondern auf dem gemein¬
samen Bedürfnisse und Interesse Nichtverwandter beruht, hat sich jedoch nicht
weiter entwickelt. Die Entwicklung schreitet vielmehr im Gebiete des Geschlechts¬
lebens fort. Die ursprüngliche Einsiedlerbiene lernt ihre ausgekrochne Brut
nicht kennen; nachdem sie in die mit Nahrung gefüllte Zelle das El gelegt und
die Öffnung verschlossen hat, fliegt sie fort. Eine Biene andrer Art, eine von
denen, die zusammenhängende Reihen und Gruppen von Zellen anlegen, tritt


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[0630] [Abbildung] Gin Versuch darwinischer Geschichtsphilosophie ilhelm Bölsche ist der Dichter des Darwinismus. Die von den Biologen entdeckten Zusammenhänge zwischen den verschiednen Arten von Organismen entzücken ihn nicht weniger als die Schön¬ heit der Formen von Tieren und Pflanzen und das „Liebes¬ leben in der Nntnr." Er singt diesen Schönheiten, die auch wir lieben und bewundern, begeisterte Prosahymnen, die wir mit Genuß lesen, so¬ weit sie sich als Schilderungen und Dithyramben geben. Aber wir sehen uns genötigt, die Harmonie durch kritischen Einspruch zu stören, so oft der Dichter die Rolle des exakten Naturforschers zu spielen versucht oder gar Geschichts¬ philosoph sein will. Eine Abhandlung in Nummer 208 und 209 der Frank¬ furter Zeitung, die die Entstehung des Bienenstaats erzählt, überschreibt er: Die Geschichtsphilosophie des Bienenstaates. Wir haben uns wiederholt, zu¬ letzt bei der politischen Anthropologie von Woltmann, gegen den Versuch einer rein biologischen Erklärung aller menschlichen Dinge erklärt und werden zu solche» Protesten Wohl noch öfter Urias; haben; nicht minder entschieden jedoch müssen wir die Zumutung zurückweisen, das menschliche Seelen- und Geistes^ leben schou in den niedern Tieren anerkennen zu sollen. Bölsche berichtet als das Ergebnis der Forschungen zweier Entomologen: Hermann Müller und H. von Büttel-Reepen, folgendes. Die Grabwespe, die wie alle bienenartigen Insekten von Blütennektar und Blutenstaub lebt, versorgt ihre Brut mit Fleischnahrung, indem sie Spinnen betäubt, in eine Grube schleppt, ihr El dazu legt und die Grube verschließt. Die ausgekrochne Made frißt die noch lebenden Spinnen. Auf der uüchsten der zu unsrer Hausbiene führenden Entwicklungsstufen legt das Tier, das nun Einsiedlerbiene heißt, statt der Spinnen den ausgespieenen Überschuß seiner Nektarncchrnng in die zur Auf¬ nahme der Eier bestimmten Löcher. Ein weiterer Fortschritt besteht darin, daß das Insekt nicht ein einzelnes Loch gräbt, sondern eine Reihe oder Gruppe von Zellen anlegt, sodaß die ausgekrochne Brut nach vollendeter Entwicklung eine Kolonie, einen kleinen Familienstaat bildet. Es kommt auch vor, daß sich Ein¬ siedlerbienen rein zufällig nebeneinander ansiedeln, sich zur Abwehr von Feinden vereinigen und sogar gemeinsam schwärmen. Dieser Ansatz zu einer Gesellschafts- bildung, die nicht auf der gemeinsamen Abstammung, sondern auf dem gemein¬ samen Bedürfnisse und Interesse Nichtverwandter beruht, hat sich jedoch nicht weiter entwickelt. Die Entwicklung schreitet vielmehr im Gebiete des Geschlechts¬ lebens fort. Die ursprüngliche Einsiedlerbiene lernt ihre ausgekrochne Brut nicht kennen; nachdem sie in die mit Nahrung gefüllte Zelle das El gelegt und die Öffnung verschlossen hat, fliegt sie fort. Eine Biene andrer Art, eine von denen, die zusammenhängende Reihen und Gruppen von Zellen anlegen, tritt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/630>, abgerufen am 25.08.2024.