u den nicht eben zahlreichen Errungenschaften der Neuzeit, deren man sich ohne Aber und Jedoch freuen darf, gehört die Kenntnis der Seele des Kindes und das Verständnis für ihre Entwicklung, Liebe, und meist nicht sehr verständige, haben die kleinen Kinder ursprünglich nur bei den Müttern gefunden, denen sie die Natur einpflanzt. Gab der Mann ausnahmsweise Liebe kund, so bezog sich diese nicht auf das gegenwärtige, ihm unbequeme Geschöpftem, sondern ans das, was seine Selbstsucht von dessen Zukunft erwartete. Auch der pädagogisch ange¬ legte Grieche wnudte sein Interesse erst dem reifenden Knaben zu, mit dem er schon philosophieren konnte. Der göttliche Kinderfreund hat dann den unend¬ lichen Wert der Seele des Kindes eingeschürft; aber jahrhundertelang hatte die von der Christenheit gehorsam angenommne neue Wertschätzung keine andre Wirkung, als daß die Verantwortlicher Hüter voll Angst, das Kleinod möchte verloren gehn und samt ihnen der Hölle anheimfallen, die Kinder so früh wie möglich taufen ließen. Nur einzelnen Männern von zartem Gemüt, einem Anselm von Canterbury, einem Wolfram von Eschenbach, einem Victorin von Feltre waren Einblicke in die jungen Seelen vergönnt. Luther liebte die Kinder, sorgte sich sehr um ihre Erziehung und verstand mit ihnen zu reden. Aber erst das pädagogische Zeitalter ist methodisch in das verschlossene kleine Reich eingedrungen, wo alle edeln geistigen Gewächse keimen, und hat begriffen, was das zu bedeuten hat, daß das Kind der Vater des Mannes ist; in den letzten Jahrzehnten aber hat die Physiologie die psychologische Einsicht er¬ weitert und vertieft, und die Familienblütter, die Zeitungen wimmeln von pädagogischen Unterweisungen, die im ganzen verständig und zutreffend aus- fallen und wohl auch nicht ganz fruchtlos bleiben. Das Verdienst, die Ent¬ wicklung der Kinderseele in den Roman eingeführt zu haben, gebührt, so viel ich weiß, Dickens. In den letzten Jahren hat sich die Zahl seiner Nachfolger gemehrt, und unter andern Wildenbruch, die Ebner-Eschenbach, mehrere der durch Gruuows Verlag bekannt gewordnen Novellisten, wie Reichenau (Aus unsern vier Wänden), Charlotte Niese, Bröudsted, Speck (in der Erzählung, die wir eben jetzt in den Grenzboten lesen), haben bedeutendes geleistet. Dazu erscheinen unzählige kleine Skizzen, die zeigen, wie weit verbreitet heute die Kunst ist, in dem so lange verschlossen gebliebner Buche der Kindheit zu lesen.
So tief jedoch scheint mir keiner in das Geheimnis eingedrungen zu sein wie Hermann Wette, dessen Roman Krauskopf eben bei dem Verleger dieser Blatter herauskommt. Und ein ganz eigentümlicher Vorzug zeichnet
Krauskopf
u den nicht eben zahlreichen Errungenschaften der Neuzeit, deren man sich ohne Aber und Jedoch freuen darf, gehört die Kenntnis der Seele des Kindes und das Verständnis für ihre Entwicklung, Liebe, und meist nicht sehr verständige, haben die kleinen Kinder ursprünglich nur bei den Müttern gefunden, denen sie die Natur einpflanzt. Gab der Mann ausnahmsweise Liebe kund, so bezog sich diese nicht auf das gegenwärtige, ihm unbequeme Geschöpftem, sondern ans das, was seine Selbstsucht von dessen Zukunft erwartete. Auch der pädagogisch ange¬ legte Grieche wnudte sein Interesse erst dem reifenden Knaben zu, mit dem er schon philosophieren konnte. Der göttliche Kinderfreund hat dann den unend¬ lichen Wert der Seele des Kindes eingeschürft; aber jahrhundertelang hatte die von der Christenheit gehorsam angenommne neue Wertschätzung keine andre Wirkung, als daß die Verantwortlicher Hüter voll Angst, das Kleinod möchte verloren gehn und samt ihnen der Hölle anheimfallen, die Kinder so früh wie möglich taufen ließen. Nur einzelnen Männern von zartem Gemüt, einem Anselm von Canterbury, einem Wolfram von Eschenbach, einem Victorin von Feltre waren Einblicke in die jungen Seelen vergönnt. Luther liebte die Kinder, sorgte sich sehr um ihre Erziehung und verstand mit ihnen zu reden. Aber erst das pädagogische Zeitalter ist methodisch in das verschlossene kleine Reich eingedrungen, wo alle edeln geistigen Gewächse keimen, und hat begriffen, was das zu bedeuten hat, daß das Kind der Vater des Mannes ist; in den letzten Jahrzehnten aber hat die Physiologie die psychologische Einsicht er¬ weitert und vertieft, und die Familienblütter, die Zeitungen wimmeln von pädagogischen Unterweisungen, die im ganzen verständig und zutreffend aus- fallen und wohl auch nicht ganz fruchtlos bleiben. Das Verdienst, die Ent¬ wicklung der Kinderseele in den Roman eingeführt zu haben, gebührt, so viel ich weiß, Dickens. In den letzten Jahren hat sich die Zahl seiner Nachfolger gemehrt, und unter andern Wildenbruch, die Ebner-Eschenbach, mehrere der durch Gruuows Verlag bekannt gewordnen Novellisten, wie Reichenau (Aus unsern vier Wänden), Charlotte Niese, Bröudsted, Speck (in der Erzählung, die wir eben jetzt in den Grenzboten lesen), haben bedeutendes geleistet. Dazu erscheinen unzählige kleine Skizzen, die zeigen, wie weit verbreitet heute die Kunst ist, in dem so lange verschlossen gebliebner Buche der Kindheit zu lesen.
So tief jedoch scheint mir keiner in das Geheimnis eingedrungen zu sein wie Hermann Wette, dessen Roman Krauskopf eben bei dem Verleger dieser Blatter herauskommt. Und ein ganz eigentümlicher Vorzug zeichnet
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der Seele des Kindes und das Verständnis für ihre Entwicklung,
Liebe, und meist nicht sehr verständige, haben die kleinen Kinder
ursprünglich nur bei den Müttern gefunden, denen sie die Natur
einpflanzt. Gab der Mann ausnahmsweise Liebe kund, so bezog sich diese
nicht auf das gegenwärtige, ihm unbequeme Geschöpftem, sondern ans das, was
seine Selbstsucht von dessen Zukunft erwartete. Auch der pädagogisch ange¬
legte Grieche wnudte sein Interesse erst dem reifenden Knaben zu, mit dem er
schon philosophieren konnte. Der göttliche Kinderfreund hat dann den unend¬
lichen Wert der Seele des Kindes eingeschürft; aber jahrhundertelang hatte
die von der Christenheit gehorsam angenommne neue Wertschätzung keine andre
Wirkung, als daß die Verantwortlicher Hüter voll Angst, das Kleinod möchte
verloren gehn und samt ihnen der Hölle anheimfallen, die Kinder so früh wie
möglich taufen ließen. Nur einzelnen Männern von zartem Gemüt, einem
Anselm von Canterbury, einem Wolfram von Eschenbach, einem Victorin von
Feltre waren Einblicke in die jungen Seelen vergönnt. Luther liebte die
Kinder, sorgte sich sehr um ihre Erziehung und verstand mit ihnen zu reden.
Aber erst das pädagogische Zeitalter ist methodisch in das verschlossene kleine
Reich eingedrungen, wo alle edeln geistigen Gewächse keimen, und hat begriffen,
was das zu bedeuten hat, daß das Kind der Vater des Mannes ist; in den
letzten Jahrzehnten aber hat die Physiologie die psychologische Einsicht er¬
weitert und vertieft, und die Familienblütter, die Zeitungen wimmeln von
pädagogischen Unterweisungen, die im ganzen verständig und zutreffend aus-
fallen und wohl auch nicht ganz fruchtlos bleiben. Das Verdienst, die Ent¬
wicklung der Kinderseele in den Roman eingeführt zu haben, gebührt, so viel
ich weiß, Dickens. In den letzten Jahren hat sich die Zahl seiner Nachfolger
gemehrt, und unter andern Wildenbruch, die Ebner-Eschenbach, mehrere der
durch Gruuows Verlag bekannt gewordnen Novellisten, wie Reichenau (Aus
unsern vier Wänden), Charlotte Niese, Bröudsted, Speck (in der Erzählung,
die wir eben jetzt in den Grenzboten lesen), haben bedeutendes geleistet.
Dazu erscheinen unzählige kleine Skizzen, die zeigen, wie weit verbreitet heute
die Kunst ist, in dem so lange verschlossen gebliebner Buche der Kindheit
zu lesen.
So tief jedoch scheint mir keiner in das Geheimnis eingedrungen zu sein
wie Hermann Wette, dessen Roman Krauskopf eben bei dem Verleger
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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/326>, abgerufen am 24.08.2024.
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