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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Das Nackte in der Uunst

antiken Gottheit nichts gemein hat. Die Etikette paßt schlecht zum Inhalt.
Und wieder bewahrheitet sich, was wir oben fanden: je ungezwungner sich
die Darstellung dem Gegenstande anfugt, um so einheitlicher und künst¬
lerischer ist die Wirkung. Galateas Nacktheit bleibt fast unbemerkt; an Tizians
Pseudo-Venus, die sich auf venezianischen Polster in geschliffnem venezia¬
nischen Glase spiegelt oder von einem venezianischen Lautenspieler feiern läßt,
an diesem Gemälde ist die Nacktheit der Hauptfigur das erste, was in die
Augen fällt.

Unter den biblischen Stoffen, die für die Schilderung des Nackten in
Frage kommen, treten zu jener Zeit Susanna und Magdalena neben Eva in
den Vordergrund. Das Publikum war ja bibelkundig genug, sich bei dem
Anblick der badenden Susanna ihrer Tugendhaftigkeit zu erinnern und vor
dein Bilde der Magdalena ihrer Bußfertigkeit. Es war gewiß nicht die Schuld
des Malers, wenn auf der Leinwand die verhängnisvollen Reize der Susanna
sichtbarer wurden als ihre Ehrbarkeit, oder Magdalenas Schönheit bestechender
wirkte als ihre Zerknirschung.

Mit dem Vordringen des fleischlichen Elements beginnt der Verfall der
venezianischen Kunst. Die Höhenlinie der Malerei verläßt die sonnigen Ge¬
stade der Adria und wendet sich in scharfer Kurve nach der niederdeutschen
Nordseeküste.

Wie Dürer verdankt auch Rubens einem Aufenthalt in Oberitalien und
seiner Vertiefung in die dortigen Meisterwerke eine nachhaltige Befruchtung
seines Schaffens; aber ebenso wie Dürer behauptet er diesem kräftigen Ein¬
fluß gegenüber seine volle künstlerische Eigentümlichkeit. Auch in der Be¬
handlung des Nackten ist er ganz neu und selbständig. Er geht ihm nicht nach
aber er geht ihm auch nicht ans dem Wege. Seine Schilderungen weiblicher
Nacktheit zeigen weder die Zartheit und die Zurückhaltung Raffaels noch die
heiße Sinnlichkeit der Venezianer. Sie atmen eine dreiste und derbe Natür¬
lichkeit, die reiche Fülle des Lebens, das den Maler umgab und beseelte; vor
allem aber spricht aus ihnen das beste Gewissen von der Welt. In der Un¬
befangenheit seiner Auffassung des Nackten nähert sich Rubens der Antike,
aber freilich nicht in seiner nordischen Vorliebe für schwellende Körperfülle.
Wenn unter dem Meißel des Atheners das griechische Mädchen zur Göttin
wurde, geht umgekehrt aus Rubens Werkstatt Diana als vlämische Bauern¬
dirne hervor.

Ein letzter Erneuerer hellenischen Natursinns in der Nachbildung des
nackten Frnueulörpers ist der Schweizer Arnold Böcklin. Hellenisch ist jedoch
auch bei ihm hauptsachlich die Bevorzugung der nackten Gestalt und die Frei¬
heit von unkünstlerischen Absichten. Im übrigen haben seine Meer- und Wald¬
nixen ebenfalls wenig mit der Antike gemein; es sind germanische Reflexe des
hellenischen Geistes wie Goethes mythologische Fabelwesen im zweiten Teil
^ Fällst Schluß folgt) .




Das Nackte in der Uunst

antiken Gottheit nichts gemein hat. Die Etikette paßt schlecht zum Inhalt.
Und wieder bewahrheitet sich, was wir oben fanden: je ungezwungner sich
die Darstellung dem Gegenstande anfugt, um so einheitlicher und künst¬
lerischer ist die Wirkung. Galateas Nacktheit bleibt fast unbemerkt; an Tizians
Pseudo-Venus, die sich auf venezianischen Polster in geschliffnem venezia¬
nischen Glase spiegelt oder von einem venezianischen Lautenspieler feiern läßt,
an diesem Gemälde ist die Nacktheit der Hauptfigur das erste, was in die
Augen fällt.

Unter den biblischen Stoffen, die für die Schilderung des Nackten in
Frage kommen, treten zu jener Zeit Susanna und Magdalena neben Eva in
den Vordergrund. Das Publikum war ja bibelkundig genug, sich bei dem
Anblick der badenden Susanna ihrer Tugendhaftigkeit zu erinnern und vor
dein Bilde der Magdalena ihrer Bußfertigkeit. Es war gewiß nicht die Schuld
des Malers, wenn auf der Leinwand die verhängnisvollen Reize der Susanna
sichtbarer wurden als ihre Ehrbarkeit, oder Magdalenas Schönheit bestechender
wirkte als ihre Zerknirschung.

Mit dem Vordringen des fleischlichen Elements beginnt der Verfall der
venezianischen Kunst. Die Höhenlinie der Malerei verläßt die sonnigen Ge¬
stade der Adria und wendet sich in scharfer Kurve nach der niederdeutschen
Nordseeküste.

Wie Dürer verdankt auch Rubens einem Aufenthalt in Oberitalien und
seiner Vertiefung in die dortigen Meisterwerke eine nachhaltige Befruchtung
seines Schaffens; aber ebenso wie Dürer behauptet er diesem kräftigen Ein¬
fluß gegenüber seine volle künstlerische Eigentümlichkeit. Auch in der Be¬
handlung des Nackten ist er ganz neu und selbständig. Er geht ihm nicht nach
aber er geht ihm auch nicht ans dem Wege. Seine Schilderungen weiblicher
Nacktheit zeigen weder die Zartheit und die Zurückhaltung Raffaels noch die
heiße Sinnlichkeit der Venezianer. Sie atmen eine dreiste und derbe Natür¬
lichkeit, die reiche Fülle des Lebens, das den Maler umgab und beseelte; vor
allem aber spricht aus ihnen das beste Gewissen von der Welt. In der Un¬
befangenheit seiner Auffassung des Nackten nähert sich Rubens der Antike,
aber freilich nicht in seiner nordischen Vorliebe für schwellende Körperfülle.
Wenn unter dem Meißel des Atheners das griechische Mädchen zur Göttin
wurde, geht umgekehrt aus Rubens Werkstatt Diana als vlämische Bauern¬
dirne hervor.

Ein letzter Erneuerer hellenischen Natursinns in der Nachbildung des
nackten Frnueulörpers ist der Schweizer Arnold Böcklin. Hellenisch ist jedoch
auch bei ihm hauptsachlich die Bevorzugung der nackten Gestalt und die Frei¬
heit von unkünstlerischen Absichten. Im übrigen haben seine Meer- und Wald¬
nixen ebenfalls wenig mit der Antike gemein; es sind germanische Reflexe des
hellenischen Geistes wie Goethes mythologische Fabelwesen im zweiten Teil
^ Fällst Schluß folgt) .




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[0325] Das Nackte in der Uunst antiken Gottheit nichts gemein hat. Die Etikette paßt schlecht zum Inhalt. Und wieder bewahrheitet sich, was wir oben fanden: je ungezwungner sich die Darstellung dem Gegenstande anfugt, um so einheitlicher und künst¬ lerischer ist die Wirkung. Galateas Nacktheit bleibt fast unbemerkt; an Tizians Pseudo-Venus, die sich auf venezianischen Polster in geschliffnem venezia¬ nischen Glase spiegelt oder von einem venezianischen Lautenspieler feiern läßt, an diesem Gemälde ist die Nacktheit der Hauptfigur das erste, was in die Augen fällt. Unter den biblischen Stoffen, die für die Schilderung des Nackten in Frage kommen, treten zu jener Zeit Susanna und Magdalena neben Eva in den Vordergrund. Das Publikum war ja bibelkundig genug, sich bei dem Anblick der badenden Susanna ihrer Tugendhaftigkeit zu erinnern und vor dein Bilde der Magdalena ihrer Bußfertigkeit. Es war gewiß nicht die Schuld des Malers, wenn auf der Leinwand die verhängnisvollen Reize der Susanna sichtbarer wurden als ihre Ehrbarkeit, oder Magdalenas Schönheit bestechender wirkte als ihre Zerknirschung. Mit dem Vordringen des fleischlichen Elements beginnt der Verfall der venezianischen Kunst. Die Höhenlinie der Malerei verläßt die sonnigen Ge¬ stade der Adria und wendet sich in scharfer Kurve nach der niederdeutschen Nordseeküste. Wie Dürer verdankt auch Rubens einem Aufenthalt in Oberitalien und seiner Vertiefung in die dortigen Meisterwerke eine nachhaltige Befruchtung seines Schaffens; aber ebenso wie Dürer behauptet er diesem kräftigen Ein¬ fluß gegenüber seine volle künstlerische Eigentümlichkeit. Auch in der Be¬ handlung des Nackten ist er ganz neu und selbständig. Er geht ihm nicht nach aber er geht ihm auch nicht ans dem Wege. Seine Schilderungen weiblicher Nacktheit zeigen weder die Zartheit und die Zurückhaltung Raffaels noch die heiße Sinnlichkeit der Venezianer. Sie atmen eine dreiste und derbe Natür¬ lichkeit, die reiche Fülle des Lebens, das den Maler umgab und beseelte; vor allem aber spricht aus ihnen das beste Gewissen von der Welt. In der Un¬ befangenheit seiner Auffassung des Nackten nähert sich Rubens der Antike, aber freilich nicht in seiner nordischen Vorliebe für schwellende Körperfülle. Wenn unter dem Meißel des Atheners das griechische Mädchen zur Göttin wurde, geht umgekehrt aus Rubens Werkstatt Diana als vlämische Bauern¬ dirne hervor. Ein letzter Erneuerer hellenischen Natursinns in der Nachbildung des nackten Frnueulörpers ist der Schweizer Arnold Böcklin. Hellenisch ist jedoch auch bei ihm hauptsachlich die Bevorzugung der nackten Gestalt und die Frei¬ heit von unkünstlerischen Absichten. Im übrigen haben seine Meer- und Wald¬ nixen ebenfalls wenig mit der Antike gemein; es sind germanische Reflexe des hellenischen Geistes wie Goethes mythologische Fabelwesen im zweiten Teil ^ Fällst Schluß folgt) .

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/325>, abgerufen am 22.07.2024.