Ungarn unter der Alleinherrschaft des Magharentums kein starkes, lebens¬ fähiges Gebilde sein werde, beweist am besten, daß das Magyarentum unfähig ist, die Völker zwischen den Karpathen, der Scwe und den transsylvanischcu Alpen mit sich zu einem einheitlichen politischen, geschweige denn nationalen Ganzen zu verschmelzen. Und spricht nicht die bedenkliche Torheit, mit der die Pester Parteien durch ihre revolutionären Ansprüche das Band zerreißen, das sie bisher mit der Dynastie verband, und das allein die Aufrechterhaltung ihrer Alleinherrschaft ermöglichte, für ihre politische Unfähigkeit? Die Er¬ richtung eines selbständigen Ungarns müßte logischerweise entweder zur Be¬ friedigung der nationalen Ansprüche der Nichtmagyareu und damit zur De- possedieruug des Magharentums oder -- und das ist das Wahrscheinlichere -- dazu führen, daß die dann zu erwartende Verschärfung der schon jetzt gewalt¬ tätiger Regierungsweise zunächst Rumänen, Serben und Kroaten zwingen würde, das Zentrum ihres nationalen Lebens außerhalb der Grenzen des Staats zu suchen. Die Errichtung eines selbständigen Ungarns würde aber auch aus der Grundlage der heutigen, die in der europäischen Politik vor- handnen Gegensätze paralysierenden, Gruppierung der Mächte den konservativsten Bestandteil, die österreichisch-ungarische Monarchie, herausbrechen und damit das politische Gleichgewicht in der Alten Welt zerstören. Die beiden Teil¬ staaten, die an die Stelle der Monarchie träten, wären zwei politisch und militärisch leistuugsunfühige Gebilde, die sich nur widerwillig unter einem Herrscher zusammenhielten -- der Abgeordnete Barabas hat ja bei der letzten Rakoczyfeier schon ausdrücklich erklärt: "Wir wollen einen Staat, dessen Bürger niemand anders als dem Gott der Magyaren gehorchen" --, kurz, das Gebiet der orientalischen Frage wäre um 676000 Quadratkilometer erweitert, es er¬ streckte sich vom Bosporus bis zum böhmischen Erzgebirge, vom Arlberg bis an die Donaumündungen, und man braucht keine reiche Phantasie dazu zu haben, daß man sich ausmalt, welche neuen, unversöhnlichen Interessengegen¬ sätze eine solche Entwicklung der Dinge herbeiführen würde. Wem eine solche Perspektive verlockend erscheint, der mag allerdings jeden Mißgriff, den man in Wien in der Behandlung der ungarischen Sache begeht, mit Befriedigung begrüßen, wer aber der Ansicht ist, daß die Erhaltung der österreichisch- ungarischen Monarchie als einer die friedliche Gestaltung der Dinge im Orient verbürgender Macht notwendig ist, der kann nur wünschen, daß die Krise in Ungarn eine Lösung finde, die es der Dynastie ermöglicht, dieses Polyglotte Reich und seine Völkerschaften mit fester Hand zu leiten und be¬ sonders in Ungarn durch die Heranziehung der Nichtmagyareu zum politischen Leben das Magyarentum aus den revolutionären Bahnen, die es seit 1848 nicht verlassen hat, zur positiven, staatserhaltenden Arbeit zurückzuführen.
Die ungarische verfassnngskrise
Ungarn unter der Alleinherrschaft des Magharentums kein starkes, lebens¬ fähiges Gebilde sein werde, beweist am besten, daß das Magyarentum unfähig ist, die Völker zwischen den Karpathen, der Scwe und den transsylvanischcu Alpen mit sich zu einem einheitlichen politischen, geschweige denn nationalen Ganzen zu verschmelzen. Und spricht nicht die bedenkliche Torheit, mit der die Pester Parteien durch ihre revolutionären Ansprüche das Band zerreißen, das sie bisher mit der Dynastie verband, und das allein die Aufrechterhaltung ihrer Alleinherrschaft ermöglichte, für ihre politische Unfähigkeit? Die Er¬ richtung eines selbständigen Ungarns müßte logischerweise entweder zur Be¬ friedigung der nationalen Ansprüche der Nichtmagyareu und damit zur De- possedieruug des Magharentums oder — und das ist das Wahrscheinlichere — dazu führen, daß die dann zu erwartende Verschärfung der schon jetzt gewalt¬ tätiger Regierungsweise zunächst Rumänen, Serben und Kroaten zwingen würde, das Zentrum ihres nationalen Lebens außerhalb der Grenzen des Staats zu suchen. Die Errichtung eines selbständigen Ungarns würde aber auch aus der Grundlage der heutigen, die in der europäischen Politik vor- handnen Gegensätze paralysierenden, Gruppierung der Mächte den konservativsten Bestandteil, die österreichisch-ungarische Monarchie, herausbrechen und damit das politische Gleichgewicht in der Alten Welt zerstören. Die beiden Teil¬ staaten, die an die Stelle der Monarchie träten, wären zwei politisch und militärisch leistuugsunfühige Gebilde, die sich nur widerwillig unter einem Herrscher zusammenhielten — der Abgeordnete Barabas hat ja bei der letzten Rakoczyfeier schon ausdrücklich erklärt: „Wir wollen einen Staat, dessen Bürger niemand anders als dem Gott der Magyaren gehorchen" —, kurz, das Gebiet der orientalischen Frage wäre um 676000 Quadratkilometer erweitert, es er¬ streckte sich vom Bosporus bis zum böhmischen Erzgebirge, vom Arlberg bis an die Donaumündungen, und man braucht keine reiche Phantasie dazu zu haben, daß man sich ausmalt, welche neuen, unversöhnlichen Interessengegen¬ sätze eine solche Entwicklung der Dinge herbeiführen würde. Wem eine solche Perspektive verlockend erscheint, der mag allerdings jeden Mißgriff, den man in Wien in der Behandlung der ungarischen Sache begeht, mit Befriedigung begrüßen, wer aber der Ansicht ist, daß die Erhaltung der österreichisch- ungarischen Monarchie als einer die friedliche Gestaltung der Dinge im Orient verbürgender Macht notwendig ist, der kann nur wünschen, daß die Krise in Ungarn eine Lösung finde, die es der Dynastie ermöglicht, dieses Polyglotte Reich und seine Völkerschaften mit fester Hand zu leiten und be¬ sonders in Ungarn durch die Heranziehung der Nichtmagyareu zum politischen Leben das Magyarentum aus den revolutionären Bahnen, die es seit 1848 nicht verlassen hat, zur positiven, staatserhaltenden Arbeit zurückzuführen.
<TEI><text><body><div><divn="1"><pbfacs="#f0300"corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/242368"/><fwtype="header"place="top"> Die ungarische verfassnngskrise</fw><lb/><pxml:id="ID_1044"prev="#ID_1043"> Ungarn unter der Alleinherrschaft des Magharentums kein starkes, lebens¬<lb/>
fähiges Gebilde sein werde, beweist am besten, daß das Magyarentum unfähig<lb/>
ist, die Völker zwischen den Karpathen, der Scwe und den transsylvanischcu<lb/>
Alpen mit sich zu einem einheitlichen politischen, geschweige denn nationalen<lb/>
Ganzen zu verschmelzen. Und spricht nicht die bedenkliche Torheit, mit der<lb/>
die Pester Parteien durch ihre revolutionären Ansprüche das Band zerreißen,<lb/>
das sie bisher mit der Dynastie verband, und das allein die Aufrechterhaltung<lb/>
ihrer Alleinherrschaft ermöglichte, für ihre politische Unfähigkeit? Die Er¬<lb/>
richtung eines selbständigen Ungarns müßte logischerweise entweder zur Be¬<lb/>
friedigung der nationalen Ansprüche der Nichtmagyareu und damit zur De-<lb/>
possedieruug des Magharentums oder — und das ist das Wahrscheinlichere —<lb/>
dazu führen, daß die dann zu erwartende Verschärfung der schon jetzt gewalt¬<lb/>
tätiger Regierungsweise zunächst Rumänen, Serben und Kroaten zwingen<lb/>
würde, das Zentrum ihres nationalen Lebens außerhalb der Grenzen des<lb/>
Staats zu suchen. Die Errichtung eines selbständigen Ungarns würde aber<lb/>
auch aus der Grundlage der heutigen, die in der europäischen Politik vor-<lb/>
handnen Gegensätze paralysierenden, Gruppierung der Mächte den konservativsten<lb/>
Bestandteil, die österreichisch-ungarische Monarchie, herausbrechen und damit<lb/>
das politische Gleichgewicht in der Alten Welt zerstören. Die beiden Teil¬<lb/>
staaten, die an die Stelle der Monarchie träten, wären zwei politisch und<lb/>
militärisch leistuugsunfühige Gebilde, die sich nur widerwillig unter einem<lb/>
Herrscher zusammenhielten — der Abgeordnete Barabas hat ja bei der letzten<lb/>
Rakoczyfeier schon ausdrücklich erklärt: „Wir wollen einen Staat, dessen Bürger<lb/>
niemand anders als dem Gott der Magyaren gehorchen" —, kurz, das Gebiet<lb/>
der orientalischen Frage wäre um 676000 Quadratkilometer erweitert, es er¬<lb/>
streckte sich vom Bosporus bis zum böhmischen Erzgebirge, vom Arlberg bis<lb/>
an die Donaumündungen, und man braucht keine reiche Phantasie dazu zu<lb/>
haben, daß man sich ausmalt, welche neuen, unversöhnlichen Interessengegen¬<lb/>
sätze eine solche Entwicklung der Dinge herbeiführen würde. Wem eine solche<lb/>
Perspektive verlockend erscheint, der mag allerdings jeden Mißgriff, den man<lb/>
in Wien in der Behandlung der ungarischen Sache begeht, mit Befriedigung<lb/>
begrüßen, wer aber der Ansicht ist, daß die Erhaltung der österreichisch-<lb/>
ungarischen Monarchie als einer die friedliche Gestaltung der Dinge im<lb/>
Orient verbürgender Macht notwendig ist, der kann nur wünschen, daß die<lb/>
Krise in Ungarn eine Lösung finde, die es der Dynastie ermöglicht, dieses<lb/>
Polyglotte Reich und seine Völkerschaften mit fester Hand zu leiten und be¬<lb/>
sonders in Ungarn durch die Heranziehung der Nichtmagyareu zum politischen<lb/>
Leben das Magyarentum aus den revolutionären Bahnen, die es seit 1848<lb/>
nicht verlassen hat, zur positiven, staatserhaltenden Arbeit zurückzuführen.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/></div></div></body></text></TEI>
[0300]
Die ungarische verfassnngskrise
Ungarn unter der Alleinherrschaft des Magharentums kein starkes, lebens¬
fähiges Gebilde sein werde, beweist am besten, daß das Magyarentum unfähig
ist, die Völker zwischen den Karpathen, der Scwe und den transsylvanischcu
Alpen mit sich zu einem einheitlichen politischen, geschweige denn nationalen
Ganzen zu verschmelzen. Und spricht nicht die bedenkliche Torheit, mit der
die Pester Parteien durch ihre revolutionären Ansprüche das Band zerreißen,
das sie bisher mit der Dynastie verband, und das allein die Aufrechterhaltung
ihrer Alleinherrschaft ermöglichte, für ihre politische Unfähigkeit? Die Er¬
richtung eines selbständigen Ungarns müßte logischerweise entweder zur Be¬
friedigung der nationalen Ansprüche der Nichtmagyareu und damit zur De-
possedieruug des Magharentums oder — und das ist das Wahrscheinlichere —
dazu führen, daß die dann zu erwartende Verschärfung der schon jetzt gewalt¬
tätiger Regierungsweise zunächst Rumänen, Serben und Kroaten zwingen
würde, das Zentrum ihres nationalen Lebens außerhalb der Grenzen des
Staats zu suchen. Die Errichtung eines selbständigen Ungarns würde aber
auch aus der Grundlage der heutigen, die in der europäischen Politik vor-
handnen Gegensätze paralysierenden, Gruppierung der Mächte den konservativsten
Bestandteil, die österreichisch-ungarische Monarchie, herausbrechen und damit
das politische Gleichgewicht in der Alten Welt zerstören. Die beiden Teil¬
staaten, die an die Stelle der Monarchie träten, wären zwei politisch und
militärisch leistuugsunfühige Gebilde, die sich nur widerwillig unter einem
Herrscher zusammenhielten — der Abgeordnete Barabas hat ja bei der letzten
Rakoczyfeier schon ausdrücklich erklärt: „Wir wollen einen Staat, dessen Bürger
niemand anders als dem Gott der Magyaren gehorchen" —, kurz, das Gebiet
der orientalischen Frage wäre um 676000 Quadratkilometer erweitert, es er¬
streckte sich vom Bosporus bis zum böhmischen Erzgebirge, vom Arlberg bis
an die Donaumündungen, und man braucht keine reiche Phantasie dazu zu
haben, daß man sich ausmalt, welche neuen, unversöhnlichen Interessengegen¬
sätze eine solche Entwicklung der Dinge herbeiführen würde. Wem eine solche
Perspektive verlockend erscheint, der mag allerdings jeden Mißgriff, den man
in Wien in der Behandlung der ungarischen Sache begeht, mit Befriedigung
begrüßen, wer aber der Ansicht ist, daß die Erhaltung der österreichisch-
ungarischen Monarchie als einer die friedliche Gestaltung der Dinge im
Orient verbürgender Macht notwendig ist, der kann nur wünschen, daß die
Krise in Ungarn eine Lösung finde, die es der Dynastie ermöglicht, dieses
Polyglotte Reich und seine Völkerschaften mit fester Hand zu leiten und be¬
sonders in Ungarn durch die Heranziehung der Nichtmagyareu zum politischen
Leben das Magyarentum aus den revolutionären Bahnen, die es seit 1848
nicht verlassen hat, zur positiven, staatserhaltenden Arbeit zurückzuführen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:
Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.
Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;
Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/300>, abgerufen am 22.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.