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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Skizzen aus unserm heutigen Volksleben

Sie Ihre Schmutzwässer nicht in den Graben lassen, und Ihnen bleibt verboten,
was jenem erlaubt ist.

Aber das ist doch Unsinn, mein Herr, Ich tue doch niemand Schaden, ich
kurze doch niemand sein Recht; ob zu dem vorhandnen Farbwasser noch ein paar
Eimer mehr kamen, war doch völlig irrelevant. Nein nein, ich war übel ange¬
schrieben, und darum wurde ich abgewiesen. -- Wenn ich noch hätte zweifelhaft
sein können, so wurde ich durch das, was nun kam, in meiner Ansicht, daß man
nach Gunst und Willkür verfahre, bestätigt. Vor meiner Toreinfahrt ist eine
steinerne Übcrbrückung des Riunsteius. Ein Kohlenhändler, der übrigens in meiner
Toreinfahrt nichts zu suchen hatte, fuhr mit seinem Wagen, da er umlenken wollte,
bis über diese Überbrückuug. Dabei brach eine der Platten durch, das Pferd trat
in das Loch und brach das Bein, ich aber sollte dem Mann das Pferd bezahlen,
da ich an dem Unfälle schuld sei. Ich hätte es ohne weiteres getan, wenn mich
der Mnun gebeten hätte; da er sich auf das Recht stellte, so tat ich es anch.
Und verlor. Denken Sie, mein Herr, ich verlor. Nach dem Haftpflichtgesetz, Para¬
graph so und so, sei ich verpflichtet, für den Schaden auszukommen, wenn ich es
um der nötigen Vorsicht hätte fehlen lassen. Dies sei der Fall gewesen, da der
Stein auf der Unterseite, wie nachgewiesen worden sei, einen Sprung gehabt habe.
Aber meine Herren, sagte ich, wie kann ich wissen, ob der Stein, den ich nicht
selbst gelegt, sondern vorgefunden hatte, unten einen Sprung hat? Und was hat
denn der Mann in meiner Toreinfahrt zu suchen gehabt? Man erwiderte
mir: Ich sei verpflichtet, nicht bloß offne Schäden zu bessern, sondern auch ver¬
borgnen nachzuspüren. Die Überbrückimg aber gehöre, obwohl sie mein Eigentum
sei, zum öffentlichen Verkehrswege. So, sagte ich, ich soll wohl aller fünf Jahre
mein Haus einreihen, um verborgnen Fehlern nachzuspüren? Meine Herren, rief
ich, wenn dieses Urteil dem Rechte der Kulturländer entspricht, so ziehe ich türkische
Rechtszustände vor. -- Es faßte mich jemand am Arm und riet mir, zu schweigen,
ich aber war erregt und fuhr fort: Ich bin zwanzig Jahre im Orient gewesen
und habe mancher Gerichtssitzung beigewohnt und bin erstaunt gewesen, mit welcher
Sicherheit ein türkischer Richter, der nicht studiert hat und keinen Tnlar trägt, das
Nichtige trifft. Eine Entscheidung wie diese, daß man die Brücken aufreißen solle,
um etwaigen verborgnen Fehlern nachzuspüren, und daß man einen Menschen ent¬
schädigen solle, der dort, wo er den Unfall erlitt, nichts zu suchen hatte, würde auch
der kleinste arabische Dorfrichter für Unsinn halten. -- Da erhob sich der Herr
Amtsrichter in voller Länge und verurteilte mich feierlich wegen Ungebühr vor
Gericht zu vierundzwanzig Stunden Gefängnis. Denken Sie, mein Herr, mich, der
ich der loyalste Bürger bin und einen Ehrenpunkt darin suche, keinen I-Punkt des
Rechts zu verletzen, der ich mit Paschas aus eiuer Pfeife geraucht habe, und den unser
Imam einen Brunnen der Weisheit und Vater der Gerechtigkeit genannt hat. Ich rief:
Ich Protestiere, ich appelliere, wie kann man mich gleich einem Lumpen oder Vaga¬
bunden ungehört einstecken? -- Man machte mir klar, daß zwar der Mörder appellieren
könne, und jedem Lumpen sein Recht werde, daß es aber, wenn ein anständiger Mensch
in der Empörung seines Herzens etwas gesagt habe, was nach der Meinung des
Richters eine Ungebühr sei, keine Appellation und keinen Aufschub gebe. Sagen
Sie, mein Herr, ist das nicht mehr als türkisch? In dieser Nacht, in der ich
natürlich kein Auge zugetan hatte, beschloß ich, den Staub von meinen Schuhen zu
schütteln und in die Türkei zurückzukehren. Kellner, sind wir ganz sicher über
die Grenze?

Jawohl, Herr, schon seit einer halben Stunde.

Bringen Sie eine Flasche Sekt. Nein, bringen Sie keinen Sekt. Auf den
Abschied aus der Heimat Sekt trinken, das will ich trotz alledem nicht. Wenn ich
meine Jugend in Deutschland verlebt hätte, fügte er nachdenklich hinzu, vielleicht
würde ich mich an Ihr Recht und an Ihre Polizei gewöhnen können. Jetzt bin
ich zu alt dazu, und darum wandre ich wieder aus, ich und meine Tochter.


Grenzboien IV I90L 24
Skizzen aus unserm heutigen Volksleben

Sie Ihre Schmutzwässer nicht in den Graben lassen, und Ihnen bleibt verboten,
was jenem erlaubt ist.

Aber das ist doch Unsinn, mein Herr, Ich tue doch niemand Schaden, ich
kurze doch niemand sein Recht; ob zu dem vorhandnen Farbwasser noch ein paar
Eimer mehr kamen, war doch völlig irrelevant. Nein nein, ich war übel ange¬
schrieben, und darum wurde ich abgewiesen. — Wenn ich noch hätte zweifelhaft
sein können, so wurde ich durch das, was nun kam, in meiner Ansicht, daß man
nach Gunst und Willkür verfahre, bestätigt. Vor meiner Toreinfahrt ist eine
steinerne Übcrbrückung des Riunsteius. Ein Kohlenhändler, der übrigens in meiner
Toreinfahrt nichts zu suchen hatte, fuhr mit seinem Wagen, da er umlenken wollte,
bis über diese Überbrückuug. Dabei brach eine der Platten durch, das Pferd trat
in das Loch und brach das Bein, ich aber sollte dem Mann das Pferd bezahlen,
da ich an dem Unfälle schuld sei. Ich hätte es ohne weiteres getan, wenn mich
der Mnun gebeten hätte; da er sich auf das Recht stellte, so tat ich es anch.
Und verlor. Denken Sie, mein Herr, ich verlor. Nach dem Haftpflichtgesetz, Para¬
graph so und so, sei ich verpflichtet, für den Schaden auszukommen, wenn ich es
um der nötigen Vorsicht hätte fehlen lassen. Dies sei der Fall gewesen, da der
Stein auf der Unterseite, wie nachgewiesen worden sei, einen Sprung gehabt habe.
Aber meine Herren, sagte ich, wie kann ich wissen, ob der Stein, den ich nicht
selbst gelegt, sondern vorgefunden hatte, unten einen Sprung hat? Und was hat
denn der Mann in meiner Toreinfahrt zu suchen gehabt? Man erwiderte
mir: Ich sei verpflichtet, nicht bloß offne Schäden zu bessern, sondern auch ver¬
borgnen nachzuspüren. Die Überbrückimg aber gehöre, obwohl sie mein Eigentum
sei, zum öffentlichen Verkehrswege. So, sagte ich, ich soll wohl aller fünf Jahre
mein Haus einreihen, um verborgnen Fehlern nachzuspüren? Meine Herren, rief
ich, wenn dieses Urteil dem Rechte der Kulturländer entspricht, so ziehe ich türkische
Rechtszustände vor. — Es faßte mich jemand am Arm und riet mir, zu schweigen,
ich aber war erregt und fuhr fort: Ich bin zwanzig Jahre im Orient gewesen
und habe mancher Gerichtssitzung beigewohnt und bin erstaunt gewesen, mit welcher
Sicherheit ein türkischer Richter, der nicht studiert hat und keinen Tnlar trägt, das
Nichtige trifft. Eine Entscheidung wie diese, daß man die Brücken aufreißen solle,
um etwaigen verborgnen Fehlern nachzuspüren, und daß man einen Menschen ent¬
schädigen solle, der dort, wo er den Unfall erlitt, nichts zu suchen hatte, würde auch
der kleinste arabische Dorfrichter für Unsinn halten. — Da erhob sich der Herr
Amtsrichter in voller Länge und verurteilte mich feierlich wegen Ungebühr vor
Gericht zu vierundzwanzig Stunden Gefängnis. Denken Sie, mein Herr, mich, der
ich der loyalste Bürger bin und einen Ehrenpunkt darin suche, keinen I-Punkt des
Rechts zu verletzen, der ich mit Paschas aus eiuer Pfeife geraucht habe, und den unser
Imam einen Brunnen der Weisheit und Vater der Gerechtigkeit genannt hat. Ich rief:
Ich Protestiere, ich appelliere, wie kann man mich gleich einem Lumpen oder Vaga¬
bunden ungehört einstecken? — Man machte mir klar, daß zwar der Mörder appellieren
könne, und jedem Lumpen sein Recht werde, daß es aber, wenn ein anständiger Mensch
in der Empörung seines Herzens etwas gesagt habe, was nach der Meinung des
Richters eine Ungebühr sei, keine Appellation und keinen Aufschub gebe. Sagen
Sie, mein Herr, ist das nicht mehr als türkisch? In dieser Nacht, in der ich
natürlich kein Auge zugetan hatte, beschloß ich, den Staub von meinen Schuhen zu
schütteln und in die Türkei zurückzukehren. Kellner, sind wir ganz sicher über
die Grenze?

Jawohl, Herr, schon seit einer halben Stunde.

Bringen Sie eine Flasche Sekt. Nein, bringen Sie keinen Sekt. Auf den
Abschied aus der Heimat Sekt trinken, das will ich trotz alledem nicht. Wenn ich
meine Jugend in Deutschland verlebt hätte, fügte er nachdenklich hinzu, vielleicht
würde ich mich an Ihr Recht und an Ihre Polizei gewöhnen können. Jetzt bin
ich zu alt dazu, und darum wandre ich wieder aus, ich und meine Tochter.


Grenzboien IV I90L 24
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[0193] Skizzen aus unserm heutigen Volksleben Sie Ihre Schmutzwässer nicht in den Graben lassen, und Ihnen bleibt verboten, was jenem erlaubt ist. Aber das ist doch Unsinn, mein Herr, Ich tue doch niemand Schaden, ich kurze doch niemand sein Recht; ob zu dem vorhandnen Farbwasser noch ein paar Eimer mehr kamen, war doch völlig irrelevant. Nein nein, ich war übel ange¬ schrieben, und darum wurde ich abgewiesen. — Wenn ich noch hätte zweifelhaft sein können, so wurde ich durch das, was nun kam, in meiner Ansicht, daß man nach Gunst und Willkür verfahre, bestätigt. Vor meiner Toreinfahrt ist eine steinerne Übcrbrückung des Riunsteius. Ein Kohlenhändler, der übrigens in meiner Toreinfahrt nichts zu suchen hatte, fuhr mit seinem Wagen, da er umlenken wollte, bis über diese Überbrückuug. Dabei brach eine der Platten durch, das Pferd trat in das Loch und brach das Bein, ich aber sollte dem Mann das Pferd bezahlen, da ich an dem Unfälle schuld sei. Ich hätte es ohne weiteres getan, wenn mich der Mnun gebeten hätte; da er sich auf das Recht stellte, so tat ich es anch. Und verlor. Denken Sie, mein Herr, ich verlor. Nach dem Haftpflichtgesetz, Para¬ graph so und so, sei ich verpflichtet, für den Schaden auszukommen, wenn ich es um der nötigen Vorsicht hätte fehlen lassen. Dies sei der Fall gewesen, da der Stein auf der Unterseite, wie nachgewiesen worden sei, einen Sprung gehabt habe. Aber meine Herren, sagte ich, wie kann ich wissen, ob der Stein, den ich nicht selbst gelegt, sondern vorgefunden hatte, unten einen Sprung hat? Und was hat denn der Mann in meiner Toreinfahrt zu suchen gehabt? Man erwiderte mir: Ich sei verpflichtet, nicht bloß offne Schäden zu bessern, sondern auch ver¬ borgnen nachzuspüren. Die Überbrückimg aber gehöre, obwohl sie mein Eigentum sei, zum öffentlichen Verkehrswege. So, sagte ich, ich soll wohl aller fünf Jahre mein Haus einreihen, um verborgnen Fehlern nachzuspüren? Meine Herren, rief ich, wenn dieses Urteil dem Rechte der Kulturländer entspricht, so ziehe ich türkische Rechtszustände vor. — Es faßte mich jemand am Arm und riet mir, zu schweigen, ich aber war erregt und fuhr fort: Ich bin zwanzig Jahre im Orient gewesen und habe mancher Gerichtssitzung beigewohnt und bin erstaunt gewesen, mit welcher Sicherheit ein türkischer Richter, der nicht studiert hat und keinen Tnlar trägt, das Nichtige trifft. Eine Entscheidung wie diese, daß man die Brücken aufreißen solle, um etwaigen verborgnen Fehlern nachzuspüren, und daß man einen Menschen ent¬ schädigen solle, der dort, wo er den Unfall erlitt, nichts zu suchen hatte, würde auch der kleinste arabische Dorfrichter für Unsinn halten. — Da erhob sich der Herr Amtsrichter in voller Länge und verurteilte mich feierlich wegen Ungebühr vor Gericht zu vierundzwanzig Stunden Gefängnis. Denken Sie, mein Herr, mich, der ich der loyalste Bürger bin und einen Ehrenpunkt darin suche, keinen I-Punkt des Rechts zu verletzen, der ich mit Paschas aus eiuer Pfeife geraucht habe, und den unser Imam einen Brunnen der Weisheit und Vater der Gerechtigkeit genannt hat. Ich rief: Ich Protestiere, ich appelliere, wie kann man mich gleich einem Lumpen oder Vaga¬ bunden ungehört einstecken? — Man machte mir klar, daß zwar der Mörder appellieren könne, und jedem Lumpen sein Recht werde, daß es aber, wenn ein anständiger Mensch in der Empörung seines Herzens etwas gesagt habe, was nach der Meinung des Richters eine Ungebühr sei, keine Appellation und keinen Aufschub gebe. Sagen Sie, mein Herr, ist das nicht mehr als türkisch? In dieser Nacht, in der ich natürlich kein Auge zugetan hatte, beschloß ich, den Staub von meinen Schuhen zu schütteln und in die Türkei zurückzukehren. Kellner, sind wir ganz sicher über die Grenze? Jawohl, Herr, schon seit einer halben Stunde. Bringen Sie eine Flasche Sekt. Nein, bringen Sie keinen Sekt. Auf den Abschied aus der Heimat Sekt trinken, das will ich trotz alledem nicht. Wenn ich meine Jugend in Deutschland verlebt hätte, fügte er nachdenklich hinzu, vielleicht würde ich mich an Ihr Recht und an Ihre Polizei gewöhnen können. Jetzt bin ich zu alt dazu, und darum wandre ich wieder aus, ich und meine Tochter. Grenzboien IV I90L 24

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/193>, abgerufen am 24.08.2024.