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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Zwei Seelen

eines Wagens, endlich aber mir dus Rauschen in den Zweigen, ein Regen und
Rieseln wie von unsichtbaren Wassern, das leise Atmen der Natur. Ich weiß nicht,
was über mich kam, aber plötzlich flössen Tränen über mein Gesicht, ich mußte
bitterlich weinen. Gewiß war es keineswegs Ergriffenheit von dem schonen Abend,
dessen Schönheit mir vielmehr erst später, als er seinen Platz unter alten Erinnerungen
gefunden hatte, aufgegangen ist, wogegen ich damals in seinen Schimmer nicht
anders hineiugeguckt haben werde als ein verlanfnes Kätzchen, das in eine ihm
unbekannte Welt hineinblinzelt und klagt. Meine Verlassenheit fiel mir aufs Herz,
nud daß ich niemand hatte, um den ich mich recht halten könnte, und daß ich jetzt
in einer unbekannten Stadt sei, ohne zu wissen, was ich nun anfangen sollte,
und was jetzt geschehn werde. Viel später habe ich an diese kindische Wehmut
zurückgedacht, als ich, obgleich inzwischen zum Mnuue erwachsen, im Anblick einer
großen und feierlichen Natur dasselbe Gefühl der Hilflosigkeit und Verlorenheit in
mir entdeckte.

So habe ich wohl eine Stunde gesessen, bald weinend, bald mir die Tränen
trocknend, die wie ein einmal angcbrvchncs Wässerchen immer wieder hervorbrachen,
und mit immer stärker werdender Furcht in die Nacht hinaushorchend. Da näherte
sich mir auf dem Wege, der um ein dunkles Gebüsch herumführte, ein leiser Schritt.
Ich fuhr empor und wollte mich schon verkriechen, als ich sah, daß es eine Frauen-
gestalt war, die aus dem Schatten in das Mondlicht hinaustrat. Langsam kam sie
heran, und als sie neben meiner Bank stand, sah sie mich verwundert an, zögerte
eiuen Augenblick nud nahm dann neben nur Platz, sogleich ein Gespräch beginnend.
Ans meinem Gesicht standen noch Tränen, nud sie fragte ohne weiteres, was mir
nahe ginge, und bald hatte sie heraus, daß ich von meinen Eltern weggelaufen
war, daß ich versäumt hatte, rechtzeitig zu dem Trödler zurückzukehren, nud nun,
da ich nicht wisse, wohin ich mich wenden könne, die Nacht im Walde bleiben wolle.
Sie schüttelte den Kopf und forderte mich auf, mit ihr zu gehn. Hier könne ich
uicht bleiben, die Nacht werde kühl, nud ich würde mir eine Krankheit zuziehen,
auch würde mich die Polizei bald finden und einstecken. Vor allem der Hinweis
auf die Polizei wirkte, dazu lockte etwas Geheimnisvolles in diesem Abenteuer, und
endlich hatte sie ohne Umstände meine Hand ergriffen nud hielt fie fest. Wir wanderten
noch ein Stück durch die Promenaden und bogen dann in eine Straße ein, in der
wir ein hohes finstres Hans betraten, und stiegen die Treppen hoch hinauf, als
führe mich ein Engel unmittelbar in den Himmel empor. Aber es war kein Engel,
sondern als meine Begleiterin, in ihrem Zimmer angekommen, Tuch und Hut ablegte,
stand sie vor mir als ein blasses dürftiges Weib mit großen dunkeln Augen. Ob¬
gleich ich bei meiner Jugend noch keinen rechten Begriff hatte, mit was für einer
Person ich es zu tun habe, verstand ich doch, daß die Gestalt vor mir in ihrer
verblichnen .Weiderpracht und den bleichen verlebten Zügen auch ein Menschlein
war, dem das Glück unter den Händen zerronnen war.

Sie sah mich um und fragte: Wie heißt du?

Gehorsam nannte ich meinen Namen.

Ich heiße Marianne. Hast dn Hunger?

Und als ich die Frage bejahte, brachte sie etwas zu essen und sah mir lächelnd
zu, wie ich in das Brot einHieb, genoß auch wohl selber etwas zur Gesellschaft.
'

Nachher löschte sie das Licht wieder, und wir stellten uns ans Fenster und
schauten in den schönen linden Frühlingsabend hinaus. Währenddessen fragte sie
mich über meine Schicksale aus, und ich erzählte ihr, soviel sie zu erfahren begehrte.
Ich hatte sie mir vorhin, als die Lampe brannte, genauer angesehen und bemerkt,
daß sie ein ältliches Mttdcheu war, ohne Schönheit, nur die Augen mußte" sehr
schön gewesen sein, wenigstens sind sie es in meiner Erinnerung. Am Fenster stehend
und vom Licht des Mondes gestreift erschien sie mir wieder feiner und vornehmer.
Allmählich begann sie von sich selber zu erzählen, allerlei traurige Dinge, die ich
nicht recht verstand, sei es, daß ich für solche Erlebnisse noch nicht reif war, oder


Zwei Seelen

eines Wagens, endlich aber mir dus Rauschen in den Zweigen, ein Regen und
Rieseln wie von unsichtbaren Wassern, das leise Atmen der Natur. Ich weiß nicht,
was über mich kam, aber plötzlich flössen Tränen über mein Gesicht, ich mußte
bitterlich weinen. Gewiß war es keineswegs Ergriffenheit von dem schonen Abend,
dessen Schönheit mir vielmehr erst später, als er seinen Platz unter alten Erinnerungen
gefunden hatte, aufgegangen ist, wogegen ich damals in seinen Schimmer nicht
anders hineiugeguckt haben werde als ein verlanfnes Kätzchen, das in eine ihm
unbekannte Welt hineinblinzelt und klagt. Meine Verlassenheit fiel mir aufs Herz,
nud daß ich niemand hatte, um den ich mich recht halten könnte, und daß ich jetzt
in einer unbekannten Stadt sei, ohne zu wissen, was ich nun anfangen sollte,
und was jetzt geschehn werde. Viel später habe ich an diese kindische Wehmut
zurückgedacht, als ich, obgleich inzwischen zum Mnuue erwachsen, im Anblick einer
großen und feierlichen Natur dasselbe Gefühl der Hilflosigkeit und Verlorenheit in
mir entdeckte.

So habe ich wohl eine Stunde gesessen, bald weinend, bald mir die Tränen
trocknend, die wie ein einmal angcbrvchncs Wässerchen immer wieder hervorbrachen,
und mit immer stärker werdender Furcht in die Nacht hinaushorchend. Da näherte
sich mir auf dem Wege, der um ein dunkles Gebüsch herumführte, ein leiser Schritt.
Ich fuhr empor und wollte mich schon verkriechen, als ich sah, daß es eine Frauen-
gestalt war, die aus dem Schatten in das Mondlicht hinaustrat. Langsam kam sie
heran, und als sie neben meiner Bank stand, sah sie mich verwundert an, zögerte
eiuen Augenblick nud nahm dann neben nur Platz, sogleich ein Gespräch beginnend.
Ans meinem Gesicht standen noch Tränen, nud sie fragte ohne weiteres, was mir
nahe ginge, und bald hatte sie heraus, daß ich von meinen Eltern weggelaufen
war, daß ich versäumt hatte, rechtzeitig zu dem Trödler zurückzukehren, nud nun,
da ich nicht wisse, wohin ich mich wenden könne, die Nacht im Walde bleiben wolle.
Sie schüttelte den Kopf und forderte mich auf, mit ihr zu gehn. Hier könne ich
uicht bleiben, die Nacht werde kühl, nud ich würde mir eine Krankheit zuziehen,
auch würde mich die Polizei bald finden und einstecken. Vor allem der Hinweis
auf die Polizei wirkte, dazu lockte etwas Geheimnisvolles in diesem Abenteuer, und
endlich hatte sie ohne Umstände meine Hand ergriffen nud hielt fie fest. Wir wanderten
noch ein Stück durch die Promenaden und bogen dann in eine Straße ein, in der
wir ein hohes finstres Hans betraten, und stiegen die Treppen hoch hinauf, als
führe mich ein Engel unmittelbar in den Himmel empor. Aber es war kein Engel,
sondern als meine Begleiterin, in ihrem Zimmer angekommen, Tuch und Hut ablegte,
stand sie vor mir als ein blasses dürftiges Weib mit großen dunkeln Augen. Ob¬
gleich ich bei meiner Jugend noch keinen rechten Begriff hatte, mit was für einer
Person ich es zu tun habe, verstand ich doch, daß die Gestalt vor mir in ihrer
verblichnen .Weiderpracht und den bleichen verlebten Zügen auch ein Menschlein
war, dem das Glück unter den Händen zerronnen war.

Sie sah mich um und fragte: Wie heißt du?

Gehorsam nannte ich meinen Namen.

Ich heiße Marianne. Hast dn Hunger?

Und als ich die Frage bejahte, brachte sie etwas zu essen und sah mir lächelnd
zu, wie ich in das Brot einHieb, genoß auch wohl selber etwas zur Gesellschaft.
'

Nachher löschte sie das Licht wieder, und wir stellten uns ans Fenster und
schauten in den schönen linden Frühlingsabend hinaus. Währenddessen fragte sie
mich über meine Schicksale aus, und ich erzählte ihr, soviel sie zu erfahren begehrte.
Ich hatte sie mir vorhin, als die Lampe brannte, genauer angesehen und bemerkt,
daß sie ein ältliches Mttdcheu war, ohne Schönheit, nur die Augen mußte» sehr
schön gewesen sein, wenigstens sind sie es in meiner Erinnerung. Am Fenster stehend
und vom Licht des Mondes gestreift erschien sie mir wieder feiner und vornehmer.
Allmählich begann sie von sich selber zu erzählen, allerlei traurige Dinge, die ich
nicht recht verstand, sei es, daß ich für solche Erlebnisse noch nicht reif war, oder


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[0135] Zwei Seelen eines Wagens, endlich aber mir dus Rauschen in den Zweigen, ein Regen und Rieseln wie von unsichtbaren Wassern, das leise Atmen der Natur. Ich weiß nicht, was über mich kam, aber plötzlich flössen Tränen über mein Gesicht, ich mußte bitterlich weinen. Gewiß war es keineswegs Ergriffenheit von dem schonen Abend, dessen Schönheit mir vielmehr erst später, als er seinen Platz unter alten Erinnerungen gefunden hatte, aufgegangen ist, wogegen ich damals in seinen Schimmer nicht anders hineiugeguckt haben werde als ein verlanfnes Kätzchen, das in eine ihm unbekannte Welt hineinblinzelt und klagt. Meine Verlassenheit fiel mir aufs Herz, nud daß ich niemand hatte, um den ich mich recht halten könnte, und daß ich jetzt in einer unbekannten Stadt sei, ohne zu wissen, was ich nun anfangen sollte, und was jetzt geschehn werde. Viel später habe ich an diese kindische Wehmut zurückgedacht, als ich, obgleich inzwischen zum Mnuue erwachsen, im Anblick einer großen und feierlichen Natur dasselbe Gefühl der Hilflosigkeit und Verlorenheit in mir entdeckte. So habe ich wohl eine Stunde gesessen, bald weinend, bald mir die Tränen trocknend, die wie ein einmal angcbrvchncs Wässerchen immer wieder hervorbrachen, und mit immer stärker werdender Furcht in die Nacht hinaushorchend. Da näherte sich mir auf dem Wege, der um ein dunkles Gebüsch herumführte, ein leiser Schritt. Ich fuhr empor und wollte mich schon verkriechen, als ich sah, daß es eine Frauen- gestalt war, die aus dem Schatten in das Mondlicht hinaustrat. Langsam kam sie heran, und als sie neben meiner Bank stand, sah sie mich verwundert an, zögerte eiuen Augenblick nud nahm dann neben nur Platz, sogleich ein Gespräch beginnend. Ans meinem Gesicht standen noch Tränen, nud sie fragte ohne weiteres, was mir nahe ginge, und bald hatte sie heraus, daß ich von meinen Eltern weggelaufen war, daß ich versäumt hatte, rechtzeitig zu dem Trödler zurückzukehren, nud nun, da ich nicht wisse, wohin ich mich wenden könne, die Nacht im Walde bleiben wolle. Sie schüttelte den Kopf und forderte mich auf, mit ihr zu gehn. Hier könne ich uicht bleiben, die Nacht werde kühl, nud ich würde mir eine Krankheit zuziehen, auch würde mich die Polizei bald finden und einstecken. Vor allem der Hinweis auf die Polizei wirkte, dazu lockte etwas Geheimnisvolles in diesem Abenteuer, und endlich hatte sie ohne Umstände meine Hand ergriffen nud hielt fie fest. Wir wanderten noch ein Stück durch die Promenaden und bogen dann in eine Straße ein, in der wir ein hohes finstres Hans betraten, und stiegen die Treppen hoch hinauf, als führe mich ein Engel unmittelbar in den Himmel empor. Aber es war kein Engel, sondern als meine Begleiterin, in ihrem Zimmer angekommen, Tuch und Hut ablegte, stand sie vor mir als ein blasses dürftiges Weib mit großen dunkeln Augen. Ob¬ gleich ich bei meiner Jugend noch keinen rechten Begriff hatte, mit was für einer Person ich es zu tun habe, verstand ich doch, daß die Gestalt vor mir in ihrer verblichnen .Weiderpracht und den bleichen verlebten Zügen auch ein Menschlein war, dem das Glück unter den Händen zerronnen war. Sie sah mich um und fragte: Wie heißt du? Gehorsam nannte ich meinen Namen. Ich heiße Marianne. Hast dn Hunger? Und als ich die Frage bejahte, brachte sie etwas zu essen und sah mir lächelnd zu, wie ich in das Brot einHieb, genoß auch wohl selber etwas zur Gesellschaft. ' Nachher löschte sie das Licht wieder, und wir stellten uns ans Fenster und schauten in den schönen linden Frühlingsabend hinaus. Währenddessen fragte sie mich über meine Schicksale aus, und ich erzählte ihr, soviel sie zu erfahren begehrte. Ich hatte sie mir vorhin, als die Lampe brannte, genauer angesehen und bemerkt, daß sie ein ältliches Mttdcheu war, ohne Schönheit, nur die Augen mußte» sehr schön gewesen sein, wenigstens sind sie es in meiner Erinnerung. Am Fenster stehend und vom Licht des Mondes gestreift erschien sie mir wieder feiner und vornehmer. Allmählich begann sie von sich selber zu erzählen, allerlei traurige Dinge, die ich nicht recht verstand, sei es, daß ich für solche Erlebnisse noch nicht reif war, oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/135>, abgerufen am 22.07.2024.