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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Deutsche Rechtsaltertümer in unsrer heutigen deutschen Sprache

übrigens nur einer der Züge entgegentritt, die man wohl als "die Poesie im
Rechte" bezeichnet hat. Denn hierher gehören auch "der melodische Rhythmus
der Stabreime" und die Alliterntionen in den Sprüchen und Nechtsformeln,
die uns an "das Plätschern und Rieseln der Quellen" in den heiligen Hainen
gemahnen, "in denen jene entstanden."*) So glich das altdeutsche Recht einst
wirklich jener "waldesdnftigen Blume," die sich Viktor von Scheffel im
"Trompeter von Säkkingen" an die Stelle des "üppig wuchernden Schling¬
gewächses des Südens," d. h. des römischen Rechts, wünschte. Endlich kommt
dazu noch ein ganz eigentümlicher Humor, der uns bald mehr in schalkhafter
und sinniger, bald mehr in spöttischer und derber Form -- besonders in den
ländlichen Rechtsquellen des Mittelalters -- begegnet.

Heute findet sich von allen diesen jugendlichen Zügen unsers Rechts nicht
einmal mehr ein schwacher Schatten. Längst ist uns der urwüchsige Humor
unsrer Altvordern abhanden gekommen, auch die farbigen Bilder sind verschwunden,
und die Poesie ist vollends dem Rechtsgebiet in dem Maße fremd geworden,
daß vier heute vorschlüge, ein Gesetzbuch seiner Volkstümlichkeit zuliebe "in
Verse zu bringen" oder auch nur "mit poetischen Bildern zu durchwirken, schwerlich
vor dem Tollhanse sicher wäre" (Gierke). Kurz, an Stelle der einst so sinnlich
lebendigen alten Rechtssprache ist in der Zeiten Lauf -- nicht zum wenigsten
durch den Einfluß des lateinisch geschriebnen lüorpus Mris -- unser farbloses,
bis zum Toten abstrakt gewordnes, nicht mit Unrecht viel geschmähtes " Juristen¬
deutsch" getreten. Klasse so heute "zwischen der Rechtssprache und der Volks-
rede ein unüberbrückbarer Abgrund" (Leonhard, a. a. O., Vorwort), so enthält
unsre Umgangssprache andrerseits doch auch viele Bestandteile, die sich bei
näherer Betrachtung als früher aufgenommene Anleihe" ans dem Rechtswesen
darstellen. In der Erinnerung des Volks und ii, seiner Ausdrucksweise sind
eben die einst so populären Vorgänge des ältern Rechtslebens erklärlicherweise
auch dann noch haften geblieben, als schon längst von gelehrten Juristen ein
neues "Recht der Schreibstuben und Pergamentbande" (Jnkob Grimm) gehand¬
habt wurde. Im folgenden sollen um die wichtigsten solcher Wörter, Redens¬
arten und Sprichwörter zusamiilengestellt und erläutert werden, die in unsrer
heutigen Sprache in einem veränderten, und zwar meistens erweiterten Sinne
gebraucht werden, während sie, ursprünglich nnr auf das Rechtsgebiet beschränkt
waren. Dabei wird es die Übersicht nicht unwesentlich erleichtern, wenn statt
einer Einteilung nach rein philologischen Erwägungen (wie etwa Bedeutnugs-
Verengcrnng, -Erweiterung oder -Übertragung) hier einmal eine Gliederung des
Stoffes nach den hauptsächlichsten Zweigen der modernen Jurisprudenz uuter-
"ommeil wird.**)

1. Staatsrecht Maatsverfassuug, Ämterweseu, Stadtverfassung)

Beginnen wir die Übersicht mit dem staatlichen Verfassungs- und Ver¬
waltungsrecht als der Rechtsdisziplin, die wegen ihres Zusammenhangs mit
der Politik dem modernen Staatsbürger noch am nächsten liegt und ihn -- neben
berühmten Strafprozessen -- wohl am meisten zu interessieren Pflegt, so ist
freilich gerade hier die Ausbeute für unser Thema verhältnismäßig gering.
Das in der Gegenwart so fein durchgebildete Staatsrecht ist bekanntlich in
frühern Zeiten gegenüber andern Teilen des öffentliche" Rechts, besonders aber
gegenüber dem Privatrecht etwas stiefmütterlich behandelt worden und hat deshalb




*) Fr. Heinemann, Der Richter und die Rechtspflege in der deutschen Vergangenheit.
Leipzig 1900, S. 8.
**
) Dem Juristen sei bemerkt, das, für die Reihenfolge der Materien innerhalb der einzelnen
Rechtsgebiete, namentlich für die von der Einteilung des "Bürgerlichen Gesetzbuchs" abweichende
Stellung des Familien- und Erbrechts vor dem Sachenrecht und dieses letzten wieder
vor dem "Recht der Schuldverhältnisse," hauptsächlich die Rücksicht auf möglichst ungezwungne
Übergänge von einem Gegenstande zum ander" maßgebend gewesen ist.
Deutsche Rechtsaltertümer in unsrer heutigen deutschen Sprache

übrigens nur einer der Züge entgegentritt, die man wohl als „die Poesie im
Rechte" bezeichnet hat. Denn hierher gehören auch „der melodische Rhythmus
der Stabreime" und die Alliterntionen in den Sprüchen und Nechtsformeln,
die uns an „das Plätschern und Rieseln der Quellen" in den heiligen Hainen
gemahnen, „in denen jene entstanden."*) So glich das altdeutsche Recht einst
wirklich jener „waldesdnftigen Blume," die sich Viktor von Scheffel im
„Trompeter von Säkkingen" an die Stelle des „üppig wuchernden Schling¬
gewächses des Südens," d. h. des römischen Rechts, wünschte. Endlich kommt
dazu noch ein ganz eigentümlicher Humor, der uns bald mehr in schalkhafter
und sinniger, bald mehr in spöttischer und derber Form — besonders in den
ländlichen Rechtsquellen des Mittelalters — begegnet.

Heute findet sich von allen diesen jugendlichen Zügen unsers Rechts nicht
einmal mehr ein schwacher Schatten. Längst ist uns der urwüchsige Humor
unsrer Altvordern abhanden gekommen, auch die farbigen Bilder sind verschwunden,
und die Poesie ist vollends dem Rechtsgebiet in dem Maße fremd geworden,
daß vier heute vorschlüge, ein Gesetzbuch seiner Volkstümlichkeit zuliebe „in
Verse zu bringen" oder auch nur „mit poetischen Bildern zu durchwirken, schwerlich
vor dem Tollhanse sicher wäre" (Gierke). Kurz, an Stelle der einst so sinnlich
lebendigen alten Rechtssprache ist in der Zeiten Lauf — nicht zum wenigsten
durch den Einfluß des lateinisch geschriebnen lüorpus Mris — unser farbloses,
bis zum Toten abstrakt gewordnes, nicht mit Unrecht viel geschmähtes „ Juristen¬
deutsch" getreten. Klasse so heute „zwischen der Rechtssprache und der Volks-
rede ein unüberbrückbarer Abgrund" (Leonhard, a. a. O., Vorwort), so enthält
unsre Umgangssprache andrerseits doch auch viele Bestandteile, die sich bei
näherer Betrachtung als früher aufgenommene Anleihe» ans dem Rechtswesen
darstellen. In der Erinnerung des Volks und ii, seiner Ausdrucksweise sind
eben die einst so populären Vorgänge des ältern Rechtslebens erklärlicherweise
auch dann noch haften geblieben, als schon längst von gelehrten Juristen ein
neues „Recht der Schreibstuben und Pergamentbande" (Jnkob Grimm) gehand¬
habt wurde. Im folgenden sollen um die wichtigsten solcher Wörter, Redens¬
arten und Sprichwörter zusamiilengestellt und erläutert werden, die in unsrer
heutigen Sprache in einem veränderten, und zwar meistens erweiterten Sinne
gebraucht werden, während sie, ursprünglich nnr auf das Rechtsgebiet beschränkt
waren. Dabei wird es die Übersicht nicht unwesentlich erleichtern, wenn statt
einer Einteilung nach rein philologischen Erwägungen (wie etwa Bedeutnugs-
Verengcrnng, -Erweiterung oder -Übertragung) hier einmal eine Gliederung des
Stoffes nach den hauptsächlichsten Zweigen der modernen Jurisprudenz uuter-
«ommeil wird.**)

1. Staatsrecht Maatsverfassuug, Ämterweseu, Stadtverfassung)

Beginnen wir die Übersicht mit dem staatlichen Verfassungs- und Ver¬
waltungsrecht als der Rechtsdisziplin, die wegen ihres Zusammenhangs mit
der Politik dem modernen Staatsbürger noch am nächsten liegt und ihn — neben
berühmten Strafprozessen — wohl am meisten zu interessieren Pflegt, so ist
freilich gerade hier die Ausbeute für unser Thema verhältnismäßig gering.
Das in der Gegenwart so fein durchgebildete Staatsrecht ist bekanntlich in
frühern Zeiten gegenüber andern Teilen des öffentliche» Rechts, besonders aber
gegenüber dem Privatrecht etwas stiefmütterlich behandelt worden und hat deshalb




*) Fr. Heinemann, Der Richter und die Rechtspflege in der deutschen Vergangenheit.
Leipzig 1900, S. 8.
**
) Dem Juristen sei bemerkt, das, für die Reihenfolge der Materien innerhalb der einzelnen
Rechtsgebiete, namentlich für die von der Einteilung des „Bürgerlichen Gesetzbuchs" abweichende
Stellung des Familien- und Erbrechts vor dem Sachenrecht und dieses letzten wieder
vor dem „Recht der Schuldverhältnisse," hauptsächlich die Rücksicht auf möglichst ungezwungne
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[0099] Deutsche Rechtsaltertümer in unsrer heutigen deutschen Sprache übrigens nur einer der Züge entgegentritt, die man wohl als „die Poesie im Rechte" bezeichnet hat. Denn hierher gehören auch „der melodische Rhythmus der Stabreime" und die Alliterntionen in den Sprüchen und Nechtsformeln, die uns an „das Plätschern und Rieseln der Quellen" in den heiligen Hainen gemahnen, „in denen jene entstanden."*) So glich das altdeutsche Recht einst wirklich jener „waldesdnftigen Blume," die sich Viktor von Scheffel im „Trompeter von Säkkingen" an die Stelle des „üppig wuchernden Schling¬ gewächses des Südens," d. h. des römischen Rechts, wünschte. Endlich kommt dazu noch ein ganz eigentümlicher Humor, der uns bald mehr in schalkhafter und sinniger, bald mehr in spöttischer und derber Form — besonders in den ländlichen Rechtsquellen des Mittelalters — begegnet. Heute findet sich von allen diesen jugendlichen Zügen unsers Rechts nicht einmal mehr ein schwacher Schatten. Längst ist uns der urwüchsige Humor unsrer Altvordern abhanden gekommen, auch die farbigen Bilder sind verschwunden, und die Poesie ist vollends dem Rechtsgebiet in dem Maße fremd geworden, daß vier heute vorschlüge, ein Gesetzbuch seiner Volkstümlichkeit zuliebe „in Verse zu bringen" oder auch nur „mit poetischen Bildern zu durchwirken, schwerlich vor dem Tollhanse sicher wäre" (Gierke). Kurz, an Stelle der einst so sinnlich lebendigen alten Rechtssprache ist in der Zeiten Lauf — nicht zum wenigsten durch den Einfluß des lateinisch geschriebnen lüorpus Mris — unser farbloses, bis zum Toten abstrakt gewordnes, nicht mit Unrecht viel geschmähtes „ Juristen¬ deutsch" getreten. Klasse so heute „zwischen der Rechtssprache und der Volks- rede ein unüberbrückbarer Abgrund" (Leonhard, a. a. O., Vorwort), so enthält unsre Umgangssprache andrerseits doch auch viele Bestandteile, die sich bei näherer Betrachtung als früher aufgenommene Anleihe» ans dem Rechtswesen darstellen. In der Erinnerung des Volks und ii, seiner Ausdrucksweise sind eben die einst so populären Vorgänge des ältern Rechtslebens erklärlicherweise auch dann noch haften geblieben, als schon längst von gelehrten Juristen ein neues „Recht der Schreibstuben und Pergamentbande" (Jnkob Grimm) gehand¬ habt wurde. Im folgenden sollen um die wichtigsten solcher Wörter, Redens¬ arten und Sprichwörter zusamiilengestellt und erläutert werden, die in unsrer heutigen Sprache in einem veränderten, und zwar meistens erweiterten Sinne gebraucht werden, während sie, ursprünglich nnr auf das Rechtsgebiet beschränkt waren. Dabei wird es die Übersicht nicht unwesentlich erleichtern, wenn statt einer Einteilung nach rein philologischen Erwägungen (wie etwa Bedeutnugs- Verengcrnng, -Erweiterung oder -Übertragung) hier einmal eine Gliederung des Stoffes nach den hauptsächlichsten Zweigen der modernen Jurisprudenz uuter- «ommeil wird.**) 1. Staatsrecht Maatsverfassuug, Ämterweseu, Stadtverfassung) Beginnen wir die Übersicht mit dem staatlichen Verfassungs- und Ver¬ waltungsrecht als der Rechtsdisziplin, die wegen ihres Zusammenhangs mit der Politik dem modernen Staatsbürger noch am nächsten liegt und ihn — neben berühmten Strafprozessen — wohl am meisten zu interessieren Pflegt, so ist freilich gerade hier die Ausbeute für unser Thema verhältnismäßig gering. Das in der Gegenwart so fein durchgebildete Staatsrecht ist bekanntlich in frühern Zeiten gegenüber andern Teilen des öffentliche» Rechts, besonders aber gegenüber dem Privatrecht etwas stiefmütterlich behandelt worden und hat deshalb *) Fr. Heinemann, Der Richter und die Rechtspflege in der deutschen Vergangenheit. Leipzig 1900, S. 8. ** ) Dem Juristen sei bemerkt, das, für die Reihenfolge der Materien innerhalb der einzelnen Rechtsgebiete, namentlich für die von der Einteilung des „Bürgerlichen Gesetzbuchs" abweichende Stellung des Familien- und Erbrechts vor dem Sachenrecht und dieses letzten wieder vor dem „Recht der Schuldverhältnisse," hauptsächlich die Rücksicht auf möglichst ungezwungne Übergänge von einem Gegenstande zum ander» maßgebend gewesen ist.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/99>, abgerufen am 25.11.2024.