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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Aann Deutschland reiten?

ein Berufsstand ein entschiednes Übergewicht hat, auch heute schon gern ein
Angehöriger dieses Standes als Kandidat aufgestellt wird. Wichtiger ist schon
die Verteilung der Parteien ans die Gegenden, und so sehen wir denn auch,
daß der landwirtschaftliche Osten -- von Zentrum und Polen abgesehen, für
deren Wahl ganz andre Gründe den Ausschlag gaben -- den Staunn der
Konservativen in den Reichstag entsendet. Für industrielle Gegenden fällt die
Erscheinung nicht so ins Auge, weil hier, von anderm ganz abgesehen, jedesmal
noch der Gegenpart der Sozialdemokratie ins Gewicht füllt. Wer aber die
Verhältnisse industrieller Gegenden näher kennt, wird öfter die Beobachtung
machen können, daß die Konservativen hier im ganzen den Nationalliberalen
viel näher stehn, als im rein ländlichen Osten, daß aber auch die konservative
Richtung ihre Anhänger mehr auf dem Lande, die liberale mehr im Handels¬
stande hat.

Mehr aber noch als alles dies beweist das Auftreten und Verhalten der
einzelnen Parteien im Reichstage selbst. Einen Nachweis darüber zu geben,
würde an dieser Stelle zu weit führen, es bedarf seiner aber auch sogar für
oberflächliche Beobachter der Reichstagsverhandlungen, zumal über die Zolltarif¬
vorlage, nicht. Die jüngste Wahlbeweguug bestätigt nicht nur dieses Drängen
nach berufsständischer Vertretung und Gruppierung im Reichstage, besonders
z. B. in dem Verhalten der rheinischen Bauernvereine gegenüber dem Zentrum,
sie läßt sogar in dem Rufe nach mehr Vertretern der Kaufmannschaft ein
weiteres Vorschreiten auf dieser Bahn deutlich erkennen.

Wenn Nur so sehen, daß die berufsständische Gliederung des deutscheu
Volkes auch auf dem Gebiete der Politik heute mehr und mehr an Boden
gewinnt, sollte man da nicht hoffen dürfen, es werde möglich sein, die Ein¬
führung dieser Erscheinung in das politische und parlamentarische Leben mit
Erfolg weiter zu fördern und durchzuführen, ohne daß innere Schwierigkeiten
dem entgegenstünden?

Hier ist es uun von Interesse, festzustellen, daß ein solcher Versuch in
kleinern Verhältnissen schon durchgeführt worden ist. Die Stadt Chemnitz hat,
um der drohenden Demokratisierung der Stadtverordnetenversammlung vor¬
zubeugen, eine neue Wahlordnung für diese geschaffen, die in der .Hauptsache
nuf den hier vertretnen Grundsätzen beruht. Sie teilt die Wähler neben einer
allgemeinen Abteilung für solche, die in den Hauptgruppen nicht unterzubringen
sind, in die Gruppen des Arbeiterstandes, d. h. der rcichsgesetzlich Vcrsicherungs-
Pflichtigen, des Beamten- und Gelehrtenstandes, des Gewerbe- und endlich des
Handelstandes ein. Auf diese Gruppen sind die Zahlen der Stadtverordneten
nach der Bedeutung der Stände für die Stadt so verteilt, daß die allgemeine
und die Arbeiterabteilung je drei, die Gelehrten- und die Gewerbeabteilung
je vier und die Handelsabteilung fünf Verordnete wählt. Von einem nähern
Eingehn auf die im höchsten Grade interessante Einrichtung der Wahlordnung
kann man hier absehen; ich möchte nur bemerken, daß das Chemnitzer Wahl¬
recht insofern von dem oben Ausgeführten abweicht, als die Gewählten nicht
der Abteilung der Wähler anzugehören brauchen. Das ist für die Einrichtung
der Wahlordnung verhältnismäßig bedeutungslos, für die wirkliche Vertretung


Aann Deutschland reiten?

ein Berufsstand ein entschiednes Übergewicht hat, auch heute schon gern ein
Angehöriger dieses Standes als Kandidat aufgestellt wird. Wichtiger ist schon
die Verteilung der Parteien ans die Gegenden, und so sehen wir denn auch,
daß der landwirtschaftliche Osten — von Zentrum und Polen abgesehen, für
deren Wahl ganz andre Gründe den Ausschlag gaben — den Staunn der
Konservativen in den Reichstag entsendet. Für industrielle Gegenden fällt die
Erscheinung nicht so ins Auge, weil hier, von anderm ganz abgesehen, jedesmal
noch der Gegenpart der Sozialdemokratie ins Gewicht füllt. Wer aber die
Verhältnisse industrieller Gegenden näher kennt, wird öfter die Beobachtung
machen können, daß die Konservativen hier im ganzen den Nationalliberalen
viel näher stehn, als im rein ländlichen Osten, daß aber auch die konservative
Richtung ihre Anhänger mehr auf dem Lande, die liberale mehr im Handels¬
stande hat.

Mehr aber noch als alles dies beweist das Auftreten und Verhalten der
einzelnen Parteien im Reichstage selbst. Einen Nachweis darüber zu geben,
würde an dieser Stelle zu weit führen, es bedarf seiner aber auch sogar für
oberflächliche Beobachter der Reichstagsverhandlungen, zumal über die Zolltarif¬
vorlage, nicht. Die jüngste Wahlbeweguug bestätigt nicht nur dieses Drängen
nach berufsständischer Vertretung und Gruppierung im Reichstage, besonders
z. B. in dem Verhalten der rheinischen Bauernvereine gegenüber dem Zentrum,
sie läßt sogar in dem Rufe nach mehr Vertretern der Kaufmannschaft ein
weiteres Vorschreiten auf dieser Bahn deutlich erkennen.

Wenn Nur so sehen, daß die berufsständische Gliederung des deutscheu
Volkes auch auf dem Gebiete der Politik heute mehr und mehr an Boden
gewinnt, sollte man da nicht hoffen dürfen, es werde möglich sein, die Ein¬
führung dieser Erscheinung in das politische und parlamentarische Leben mit
Erfolg weiter zu fördern und durchzuführen, ohne daß innere Schwierigkeiten
dem entgegenstünden?

Hier ist es uun von Interesse, festzustellen, daß ein solcher Versuch in
kleinern Verhältnissen schon durchgeführt worden ist. Die Stadt Chemnitz hat,
um der drohenden Demokratisierung der Stadtverordnetenversammlung vor¬
zubeugen, eine neue Wahlordnung für diese geschaffen, die in der .Hauptsache
nuf den hier vertretnen Grundsätzen beruht. Sie teilt die Wähler neben einer
allgemeinen Abteilung für solche, die in den Hauptgruppen nicht unterzubringen
sind, in die Gruppen des Arbeiterstandes, d. h. der rcichsgesetzlich Vcrsicherungs-
Pflichtigen, des Beamten- und Gelehrtenstandes, des Gewerbe- und endlich des
Handelstandes ein. Auf diese Gruppen sind die Zahlen der Stadtverordneten
nach der Bedeutung der Stände für die Stadt so verteilt, daß die allgemeine
und die Arbeiterabteilung je drei, die Gelehrten- und die Gewerbeabteilung
je vier und die Handelsabteilung fünf Verordnete wählt. Von einem nähern
Eingehn auf die im höchsten Grade interessante Einrichtung der Wahlordnung
kann man hier absehen; ich möchte nur bemerken, daß das Chemnitzer Wahl¬
recht insofern von dem oben Ausgeführten abweicht, als die Gewählten nicht
der Abteilung der Wähler anzugehören brauchen. Das ist für die Einrichtung
der Wahlordnung verhältnismäßig bedeutungslos, für die wirkliche Vertretung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/95>, abgerufen am 01.09.2024.