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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Würden, das kann trotz dem liberalen Bürgertum und der "Los von Rom-Bewegung,"
die die Massen doch nicht fortreißt, gar nicht zweifelhaft sein. Wie dann unser
Reichstag aussehen würde, das kann man sich leicht vorstellen, und daß mit einem
solchen Reichstage eine deutsch-nationale Politik im Sinne unsrer Liberalen nicht
gemacht werden könnte, daß die politisch in so und so viele Parteien zerfahrenen
protestantischen Landesteile völlig ins Schlepptau der katholischen genommen werden
würden, daß das Übergewicht Preußens, das allem den Bestand des Reichs ver¬
bürgt, dann uicht haltbar Ware, das alles liegt doch wohl auf der Hand. Wer
also den Einfluß des Zentrums nicht ins Ungemessene verstärken und das Reich
nicht mit fremden Bevölkerungsteilen überladen will, wer seine Grundlagen nicht
erschüttern will, der kann den Einschluß Deutsch-Österreichs nicht wollen. Nur den
Kulturzusammenhang mit den österreichischen Deutschen können und sollen wir pflegen,
und das völkerrechtliche Bündnis mit der Gesamtmonarchie müssen wir festhalten,
alles andre ist eine unklare, ja schädliche Träumerei.

Woran liegt es denn nun. daß die Begeisterung für unser Deutsches Reich,
wie es aus den Kämpfen von 1864 bis 1871 hervorgegangen ist, im "Abflauen"
ist. daß die kindische "Neichsverdrossenhcit" überhaupt aufkommen konnte? Abge¬
sehen von unsrer schon charakterisierten Eigentümlichkeit trägt das allgemeine Ver¬
blassen idealer Gesinnung und das Vordrängen einer brutalen Interessenpolitik eine
Hauptschuld. Von unsern großen Parteien haben heute eigentlich nur zwei noch
Ideale, d. h. große, über das materielle Interesse Hinansreichende Ziele, das
Zentrum und die Sozinldemokratie, und darin liegt ihre Stärke. Da dafür gesorgt
ist, daß sie beide diese ihre Ziele nicht erreichen, das Zentrum nicht, weil der
moderne Staat die volle "Freiheit" der Kirche nicht gewähren kann, die Sozial¬
demokratie nicht, weil die Herrschaft des Proletariats kulturfeindlich wäre und also
unter allen Umständen verhindert werden muß, so haben beide Parteien noch lange
Zeit, sich an ihren Idealen zu begeistern. Die andern Parteien sind heute nur
"och verhüllte wirtschaftliche Interessengruppen, die unter verbrauchten, immer
wiederholten Schlagworten für materielle Vorteile streiten und politische Ideale
nicht mehr verfolgen, weil diese ihre Ideale mit der Ausbildung der konstitutionellen
Verfassungen und der Errichtung des Deutschen Reichs längst verwirklicht sind;
erfüllte Ideale aber sind keine mehr. Diese "staatserhaltenden" Parteien könnten
neue Ideale haben, wenn sie mit ganzer Kraft die Wcltpolitik des Reichs unter¬
stützten, aber gerade diese überlassen sie kurzsichtig im ganzen der Regierung, oder
sie bekämpfen sie much geradezu. Deun Schillers Satz: "Es wächst der Mensch
mit seinen größern Zwecken" findet in der jüngsten Geschichte des deutschen Volkes
leider nur wenig Bestätigung. Wie sehr wir vollends von allen unsern alten
Bildungsidealen abgefallen sind, wie sich hier der Haß gegen diese Ideale mit
Platten Bnnauseutum in der unerfreulichste" Weise verbindet, das soll hier nicht
weiter ausgeführt werden. Aber anch die auswärtige Politik der großen Mächte ist
sozusagen ideenlos geworden und wird nur von materiellen Interessen beherrscht.
Das achtzehnte Jahrhundert hatte sein Humanitätsideal, und es ist ein großer
Zug der französischen Revolution, daß sie die Freiheit, die sie daheim errungen
zu haben glaubte, auch andern Völkern bringen wollte. Im neunzehnten Jahr-
hundert begeisterte man sich für die Freiheitskämpfe der Griechen und der Polen,
Napoleon der Dritte stellte das Nationalitätsprinzip auf und verhalf ihm in Italien
praktisch zur Geltung, was keineswegs so ohne weiteres im französischen Interesse
war, und Garibaldi kam 1870 den Franzosen zu Hilfe, nur weil er die Republik,
sein eignes politisches Ideal, verteidigen zu müssen meinte. Von solcher "Schwärmerei"
sind wir klugen Leute jetzt unendlich weit entfernt. Es ist uns ja seit Jahrzehnten
vorgepredigt worden, daß wir mir unsre eignen Interessen zu vertreten hätten, daßuns "lies sonst nichts anginge, und praktisch hat sich daraus die Theorie von der
Nichtinterventionspolitik entwickelt, die jeden Staat sich selbst überläßt und auch die
größten Greuel duldet, wenn sie nur das eigne Interesse nicht berühren. Gewiß,


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Würden, das kann trotz dem liberalen Bürgertum und der „Los von Rom-Bewegung,"
die die Massen doch nicht fortreißt, gar nicht zweifelhaft sein. Wie dann unser
Reichstag aussehen würde, das kann man sich leicht vorstellen, und daß mit einem
solchen Reichstage eine deutsch-nationale Politik im Sinne unsrer Liberalen nicht
gemacht werden könnte, daß die politisch in so und so viele Parteien zerfahrenen
protestantischen Landesteile völlig ins Schlepptau der katholischen genommen werden
würden, daß das Übergewicht Preußens, das allem den Bestand des Reichs ver¬
bürgt, dann uicht haltbar Ware, das alles liegt doch wohl auf der Hand. Wer
also den Einfluß des Zentrums nicht ins Ungemessene verstärken und das Reich
nicht mit fremden Bevölkerungsteilen überladen will, wer seine Grundlagen nicht
erschüttern will, der kann den Einschluß Deutsch-Österreichs nicht wollen. Nur den
Kulturzusammenhang mit den österreichischen Deutschen können und sollen wir pflegen,
und das völkerrechtliche Bündnis mit der Gesamtmonarchie müssen wir festhalten,
alles andre ist eine unklare, ja schädliche Träumerei.

Woran liegt es denn nun. daß die Begeisterung für unser Deutsches Reich,
wie es aus den Kämpfen von 1864 bis 1871 hervorgegangen ist, im „Abflauen"
ist. daß die kindische „Neichsverdrossenhcit" überhaupt aufkommen konnte? Abge¬
sehen von unsrer schon charakterisierten Eigentümlichkeit trägt das allgemeine Ver¬
blassen idealer Gesinnung und das Vordrängen einer brutalen Interessenpolitik eine
Hauptschuld. Von unsern großen Parteien haben heute eigentlich nur zwei noch
Ideale, d. h. große, über das materielle Interesse Hinansreichende Ziele, das
Zentrum und die Sozinldemokratie, und darin liegt ihre Stärke. Da dafür gesorgt
ist, daß sie beide diese ihre Ziele nicht erreichen, das Zentrum nicht, weil der
moderne Staat die volle „Freiheit" der Kirche nicht gewähren kann, die Sozial¬
demokratie nicht, weil die Herrschaft des Proletariats kulturfeindlich wäre und also
unter allen Umständen verhindert werden muß, so haben beide Parteien noch lange
Zeit, sich an ihren Idealen zu begeistern. Die andern Parteien sind heute nur
"och verhüllte wirtschaftliche Interessengruppen, die unter verbrauchten, immer
wiederholten Schlagworten für materielle Vorteile streiten und politische Ideale
nicht mehr verfolgen, weil diese ihre Ideale mit der Ausbildung der konstitutionellen
Verfassungen und der Errichtung des Deutschen Reichs längst verwirklicht sind;
erfüllte Ideale aber sind keine mehr. Diese „staatserhaltenden" Parteien könnten
neue Ideale haben, wenn sie mit ganzer Kraft die Wcltpolitik des Reichs unter¬
stützten, aber gerade diese überlassen sie kurzsichtig im ganzen der Regierung, oder
sie bekämpfen sie much geradezu. Deun Schillers Satz: „Es wächst der Mensch
mit seinen größern Zwecken" findet in der jüngsten Geschichte des deutschen Volkes
leider nur wenig Bestätigung. Wie sehr wir vollends von allen unsern alten
Bildungsidealen abgefallen sind, wie sich hier der Haß gegen diese Ideale mit
Platten Bnnauseutum in der unerfreulichste» Weise verbindet, das soll hier nicht
weiter ausgeführt werden. Aber anch die auswärtige Politik der großen Mächte ist
sozusagen ideenlos geworden und wird nur von materiellen Interessen beherrscht.
Das achtzehnte Jahrhundert hatte sein Humanitätsideal, und es ist ein großer
Zug der französischen Revolution, daß sie die Freiheit, die sie daheim errungen
zu haben glaubte, auch andern Völkern bringen wollte. Im neunzehnten Jahr-
hundert begeisterte man sich für die Freiheitskämpfe der Griechen und der Polen,
Napoleon der Dritte stellte das Nationalitätsprinzip auf und verhalf ihm in Italien
praktisch zur Geltung, was keineswegs so ohne weiteres im französischen Interesse
war, und Garibaldi kam 1870 den Franzosen zu Hilfe, nur weil er die Republik,
sein eignes politisches Ideal, verteidigen zu müssen meinte. Von solcher „Schwärmerei"
sind wir klugen Leute jetzt unendlich weit entfernt. Es ist uns ja seit Jahrzehnten
vorgepredigt worden, daß wir mir unsre eignen Interessen zu vertreten hätten, daßuns «lies sonst nichts anginge, und praktisch hat sich daraus die Theorie von der
Nichtinterventionspolitik entwickelt, die jeden Staat sich selbst überläßt und auch die
größten Greuel duldet, wenn sie nur das eigne Interesse nicht berühren. Gewiß,


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[0765] Maßgebliches und Unmaßgebliches Würden, das kann trotz dem liberalen Bürgertum und der „Los von Rom-Bewegung," die die Massen doch nicht fortreißt, gar nicht zweifelhaft sein. Wie dann unser Reichstag aussehen würde, das kann man sich leicht vorstellen, und daß mit einem solchen Reichstage eine deutsch-nationale Politik im Sinne unsrer Liberalen nicht gemacht werden könnte, daß die politisch in so und so viele Parteien zerfahrenen protestantischen Landesteile völlig ins Schlepptau der katholischen genommen werden würden, daß das Übergewicht Preußens, das allem den Bestand des Reichs ver¬ bürgt, dann uicht haltbar Ware, das alles liegt doch wohl auf der Hand. Wer also den Einfluß des Zentrums nicht ins Ungemessene verstärken und das Reich nicht mit fremden Bevölkerungsteilen überladen will, wer seine Grundlagen nicht erschüttern will, der kann den Einschluß Deutsch-Österreichs nicht wollen. Nur den Kulturzusammenhang mit den österreichischen Deutschen können und sollen wir pflegen, und das völkerrechtliche Bündnis mit der Gesamtmonarchie müssen wir festhalten, alles andre ist eine unklare, ja schädliche Träumerei. Woran liegt es denn nun. daß die Begeisterung für unser Deutsches Reich, wie es aus den Kämpfen von 1864 bis 1871 hervorgegangen ist, im „Abflauen" ist. daß die kindische „Neichsverdrossenhcit" überhaupt aufkommen konnte? Abge¬ sehen von unsrer schon charakterisierten Eigentümlichkeit trägt das allgemeine Ver¬ blassen idealer Gesinnung und das Vordrängen einer brutalen Interessenpolitik eine Hauptschuld. Von unsern großen Parteien haben heute eigentlich nur zwei noch Ideale, d. h. große, über das materielle Interesse Hinansreichende Ziele, das Zentrum und die Sozinldemokratie, und darin liegt ihre Stärke. Da dafür gesorgt ist, daß sie beide diese ihre Ziele nicht erreichen, das Zentrum nicht, weil der moderne Staat die volle „Freiheit" der Kirche nicht gewähren kann, die Sozial¬ demokratie nicht, weil die Herrschaft des Proletariats kulturfeindlich wäre und also unter allen Umständen verhindert werden muß, so haben beide Parteien noch lange Zeit, sich an ihren Idealen zu begeistern. Die andern Parteien sind heute nur "och verhüllte wirtschaftliche Interessengruppen, die unter verbrauchten, immer wiederholten Schlagworten für materielle Vorteile streiten und politische Ideale nicht mehr verfolgen, weil diese ihre Ideale mit der Ausbildung der konstitutionellen Verfassungen und der Errichtung des Deutschen Reichs längst verwirklicht sind; erfüllte Ideale aber sind keine mehr. Diese „staatserhaltenden" Parteien könnten neue Ideale haben, wenn sie mit ganzer Kraft die Wcltpolitik des Reichs unter¬ stützten, aber gerade diese überlassen sie kurzsichtig im ganzen der Regierung, oder sie bekämpfen sie much geradezu. Deun Schillers Satz: „Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken" findet in der jüngsten Geschichte des deutschen Volkes leider nur wenig Bestätigung. Wie sehr wir vollends von allen unsern alten Bildungsidealen abgefallen sind, wie sich hier der Haß gegen diese Ideale mit Platten Bnnauseutum in der unerfreulichste» Weise verbindet, das soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Aber anch die auswärtige Politik der großen Mächte ist sozusagen ideenlos geworden und wird nur von materiellen Interessen beherrscht. Das achtzehnte Jahrhundert hatte sein Humanitätsideal, und es ist ein großer Zug der französischen Revolution, daß sie die Freiheit, die sie daheim errungen zu haben glaubte, auch andern Völkern bringen wollte. Im neunzehnten Jahr- hundert begeisterte man sich für die Freiheitskämpfe der Griechen und der Polen, Napoleon der Dritte stellte das Nationalitätsprinzip auf und verhalf ihm in Italien praktisch zur Geltung, was keineswegs so ohne weiteres im französischen Interesse war, und Garibaldi kam 1870 den Franzosen zu Hilfe, nur weil er die Republik, sein eignes politisches Ideal, verteidigen zu müssen meinte. Von solcher „Schwärmerei" sind wir klugen Leute jetzt unendlich weit entfernt. Es ist uns ja seit Jahrzehnten vorgepredigt worden, daß wir mir unsre eignen Interessen zu vertreten hätten, daßuns «lies sonst nichts anginge, und praktisch hat sich daraus die Theorie von der Nichtinterventionspolitik entwickelt, die jeden Staat sich selbst überläßt und auch die größten Greuel duldet, wenn sie nur das eigne Interesse nicht berühren. Gewiß,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/765>, abgerufen am 06.10.2024.