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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Aus der Jugendzeit

mit einem großen Messer gewandt abschlachtete und an die wartenden Dienstmädchen,
dus Pfund für acht gute Groschen, verkaufte. Auch kleine Bitterfische und Schmerlen,
Zählgründlinge und Barsche als Bratfische gab es bei Hieronymus zu kaufen. Die
Schmerle, einer der feinsten Flußfische, die es gibt, verschwindet leider aus der
Bode mehr und mehr, seitdem die wachsende Industrie das Wasser des Flusses
verunreinigt. Jetzt erhält man sie nur noch im obern Bodetal, in Treseburg,
Altenbrak oder Weudefurt, und sie ist allmählich ein Luxusfisch geworden. In meiner
Jugend kamen Schmerlen aber noch oft ans unsern Abendtisch,

Hieronymus hatte eine in Leder gebundue und mit Spangen geschlossene,
wunderschöne und große Familienbibel. Diese Bibel enthielt auf angebnndnen
Blättern Schreibpapiers eine in mancher Hinsicht ganz interessante Hauschronik.
Da waren -- schon von den Voreltern des jetzigen Besitzers -- alle wichtigen
Familienereignisse, Heiraten, Geburten und Todesfälle handschriftlich eingetragen.
Daneben, ja dazwischen fanden sich aber auch allerhand Notizen aus der Chronik
der Stadt oder der Zeit über Vorkommnisse, die dem Besitzer der Bibel wichtig
erschienen waren, wie die Abreise und der Tod der letzten Äbtissin von Quedlin¬
burg, das Trauergeläut für sie, die höchsten und niedrigsten Getreidepreise, be¬
sonders ergiebige Fischzüge, in der Stadt vorgekommene Mißgeburten, Hinrich¬
tungen, Feuersbrünste, Überschwemmungen, Ungewitter und Blitzschläge, große Hitze
oder Kälte, die Namen der Bürgermeister und dergleichen mehr. Die Nachbarn
und Freunde des Fischers Hieronymus kannten diese Chronik sehr genau, Sie
genoß eines großen Ansehens, und 'wenn beim Erzählen von solchen Seltsam¬
keiten oder Ereignissen ans der Geschichte der Stadt Zweifel entstanden, galt die
Fnmiltenbibel als unbedingt zuverlässige Autorität.

Zu der Zeit, als der Brillhoffsche Zirkus in Quedlinburg Vorstellungen gab,
hatte an einem Sonntagnachmittag Hieronymus Besuch von ein paar Freunden
und Nachbarn gehabt. Unter ihnen waren auch mein Vater und dessen schon er¬
wähnter Schwager Uhlemann gewesen. Dieser war ein ziemlich mürrischer, wunder¬
licher, verschlossener Kauz. Aber auch er war natürlich bei Brillhvff im Zirkus
gewesen. Die Wunder, die er dort gesehen hatte, hatten es ihm angetan. Er war
Feuer und Flamme für Brillhoff. In der Sonntagsaussprache bei Hieronymus
verstieg er sich so weit, daß er behauptete, Brillhoffs Anwesenheit in Quedlinburg
sei ein so wichtiges Ereignis, daß es in die Familienbibel kommen müsse. Hiero¬
nymus sah aber bei allem Respekt vor Brillhoffs Künsten die Kunstreiterei bedeutend
kühler an. Er erklärte ruhig, aber entschieden, Brillhoff gehöre nicht in die Bibel.
Uhlemann nahm das krumm und plädierte eifrig für seinen Vorschlag. Brillhoff
dürfe nicht bloß in die Bibel, meinte er, sondern er gehöre da hinein. "Rin note
hei!" rief er aus. "Hei kimmt nich rin," sagte Hieronymus, Natürlich lachten
die übrigen Anwesenden. Uhlemann setzte einen Trumpf ans seine Ansicht und
erbot sich, acht Groschen in die Armenkasse zu zahlen, wenn Brillhoff in die Bibel
käme, "Hei kimmt ook for acht Groschen nich rin," sagte Jronimus ruhig. Desto
eifriger wurde Uhlemann. Er bot schließlich einen Taler, zwei, drei Taler, aber
Jronimus war unerbittlich. Schließlich verstieg Uhlemann bei dieser seltsamen
Lizitation sich immer höher, bis er auf zehn Taler kam. Da gab der Fischer nach.
Uhlemann zahlte zehn Taler für die Armenkasse, und für diesen Preis ist Brillhoff
in die Familienbibel gekommen. Mein Vater erzählte diese von ihm selbst mit¬
erlebte Geschichte sehr ergötzlich.

Einige Jahre später hat diese Familienbibel noch einmal eine Rolle gespielt,
aber eine würdigere. Der alte Hieronymus, den ich noch gut gekannt habe, war
bald nach jener Szene bei einer großen Feuersbrunst im Dienste helfender n"o
rettender Menschenliebe umgekommen. Er war mit Wasserherbeischaffen und Löschnngs-
arbeiten wohl allzu eifrig beschäftigt gewesen, hatte sich dabei zu weit vorgewagt
und war von einer einstürzenden Wand erschlagen worden. Ein späterer Bewohner
des Fischerhanses konnte sich mit seiner Frau nicht recht vertragen und ging de?-


Aus der Jugendzeit

mit einem großen Messer gewandt abschlachtete und an die wartenden Dienstmädchen,
dus Pfund für acht gute Groschen, verkaufte. Auch kleine Bitterfische und Schmerlen,
Zählgründlinge und Barsche als Bratfische gab es bei Hieronymus zu kaufen. Die
Schmerle, einer der feinsten Flußfische, die es gibt, verschwindet leider aus der
Bode mehr und mehr, seitdem die wachsende Industrie das Wasser des Flusses
verunreinigt. Jetzt erhält man sie nur noch im obern Bodetal, in Treseburg,
Altenbrak oder Weudefurt, und sie ist allmählich ein Luxusfisch geworden. In meiner
Jugend kamen Schmerlen aber noch oft ans unsern Abendtisch,

Hieronymus hatte eine in Leder gebundue und mit Spangen geschlossene,
wunderschöne und große Familienbibel. Diese Bibel enthielt auf angebnndnen
Blättern Schreibpapiers eine in mancher Hinsicht ganz interessante Hauschronik.
Da waren — schon von den Voreltern des jetzigen Besitzers — alle wichtigen
Familienereignisse, Heiraten, Geburten und Todesfälle handschriftlich eingetragen.
Daneben, ja dazwischen fanden sich aber auch allerhand Notizen aus der Chronik
der Stadt oder der Zeit über Vorkommnisse, die dem Besitzer der Bibel wichtig
erschienen waren, wie die Abreise und der Tod der letzten Äbtissin von Quedlin¬
burg, das Trauergeläut für sie, die höchsten und niedrigsten Getreidepreise, be¬
sonders ergiebige Fischzüge, in der Stadt vorgekommene Mißgeburten, Hinrich¬
tungen, Feuersbrünste, Überschwemmungen, Ungewitter und Blitzschläge, große Hitze
oder Kälte, die Namen der Bürgermeister und dergleichen mehr. Die Nachbarn
und Freunde des Fischers Hieronymus kannten diese Chronik sehr genau, Sie
genoß eines großen Ansehens, und 'wenn beim Erzählen von solchen Seltsam¬
keiten oder Ereignissen ans der Geschichte der Stadt Zweifel entstanden, galt die
Fnmiltenbibel als unbedingt zuverlässige Autorität.

Zu der Zeit, als der Brillhoffsche Zirkus in Quedlinburg Vorstellungen gab,
hatte an einem Sonntagnachmittag Hieronymus Besuch von ein paar Freunden
und Nachbarn gehabt. Unter ihnen waren auch mein Vater und dessen schon er¬
wähnter Schwager Uhlemann gewesen. Dieser war ein ziemlich mürrischer, wunder¬
licher, verschlossener Kauz. Aber auch er war natürlich bei Brillhvff im Zirkus
gewesen. Die Wunder, die er dort gesehen hatte, hatten es ihm angetan. Er war
Feuer und Flamme für Brillhoff. In der Sonntagsaussprache bei Hieronymus
verstieg er sich so weit, daß er behauptete, Brillhoffs Anwesenheit in Quedlinburg
sei ein so wichtiges Ereignis, daß es in die Familienbibel kommen müsse. Hiero¬
nymus sah aber bei allem Respekt vor Brillhoffs Künsten die Kunstreiterei bedeutend
kühler an. Er erklärte ruhig, aber entschieden, Brillhoff gehöre nicht in die Bibel.
Uhlemann nahm das krumm und plädierte eifrig für seinen Vorschlag. Brillhoff
dürfe nicht bloß in die Bibel, meinte er, sondern er gehöre da hinein. „Rin note
hei!" rief er aus. „Hei kimmt nich rin," sagte Hieronymus, Natürlich lachten
die übrigen Anwesenden. Uhlemann setzte einen Trumpf ans seine Ansicht und
erbot sich, acht Groschen in die Armenkasse zu zahlen, wenn Brillhoff in die Bibel
käme, „Hei kimmt ook for acht Groschen nich rin," sagte Jronimus ruhig. Desto
eifriger wurde Uhlemann. Er bot schließlich einen Taler, zwei, drei Taler, aber
Jronimus war unerbittlich. Schließlich verstieg Uhlemann bei dieser seltsamen
Lizitation sich immer höher, bis er auf zehn Taler kam. Da gab der Fischer nach.
Uhlemann zahlte zehn Taler für die Armenkasse, und für diesen Preis ist Brillhoff
in die Familienbibel gekommen. Mein Vater erzählte diese von ihm selbst mit¬
erlebte Geschichte sehr ergötzlich.

Einige Jahre später hat diese Familienbibel noch einmal eine Rolle gespielt,
aber eine würdigere. Der alte Hieronymus, den ich noch gut gekannt habe, war
bald nach jener Szene bei einer großen Feuersbrunst im Dienste helfender n»o
rettender Menschenliebe umgekommen. Er war mit Wasserherbeischaffen und Löschnngs-
arbeiten wohl allzu eifrig beschäftigt gewesen, hatte sich dabei zu weit vorgewagt
und war von einer einstürzenden Wand erschlagen worden. Ein späterer Bewohner
des Fischerhanses konnte sich mit seiner Frau nicht recht vertragen und ging de?-


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[0750] Aus der Jugendzeit mit einem großen Messer gewandt abschlachtete und an die wartenden Dienstmädchen, dus Pfund für acht gute Groschen, verkaufte. Auch kleine Bitterfische und Schmerlen, Zählgründlinge und Barsche als Bratfische gab es bei Hieronymus zu kaufen. Die Schmerle, einer der feinsten Flußfische, die es gibt, verschwindet leider aus der Bode mehr und mehr, seitdem die wachsende Industrie das Wasser des Flusses verunreinigt. Jetzt erhält man sie nur noch im obern Bodetal, in Treseburg, Altenbrak oder Weudefurt, und sie ist allmählich ein Luxusfisch geworden. In meiner Jugend kamen Schmerlen aber noch oft ans unsern Abendtisch, Hieronymus hatte eine in Leder gebundue und mit Spangen geschlossene, wunderschöne und große Familienbibel. Diese Bibel enthielt auf angebnndnen Blättern Schreibpapiers eine in mancher Hinsicht ganz interessante Hauschronik. Da waren — schon von den Voreltern des jetzigen Besitzers — alle wichtigen Familienereignisse, Heiraten, Geburten und Todesfälle handschriftlich eingetragen. Daneben, ja dazwischen fanden sich aber auch allerhand Notizen aus der Chronik der Stadt oder der Zeit über Vorkommnisse, die dem Besitzer der Bibel wichtig erschienen waren, wie die Abreise und der Tod der letzten Äbtissin von Quedlin¬ burg, das Trauergeläut für sie, die höchsten und niedrigsten Getreidepreise, be¬ sonders ergiebige Fischzüge, in der Stadt vorgekommene Mißgeburten, Hinrich¬ tungen, Feuersbrünste, Überschwemmungen, Ungewitter und Blitzschläge, große Hitze oder Kälte, die Namen der Bürgermeister und dergleichen mehr. Die Nachbarn und Freunde des Fischers Hieronymus kannten diese Chronik sehr genau, Sie genoß eines großen Ansehens, und 'wenn beim Erzählen von solchen Seltsam¬ keiten oder Ereignissen ans der Geschichte der Stadt Zweifel entstanden, galt die Fnmiltenbibel als unbedingt zuverlässige Autorität. Zu der Zeit, als der Brillhoffsche Zirkus in Quedlinburg Vorstellungen gab, hatte an einem Sonntagnachmittag Hieronymus Besuch von ein paar Freunden und Nachbarn gehabt. Unter ihnen waren auch mein Vater und dessen schon er¬ wähnter Schwager Uhlemann gewesen. Dieser war ein ziemlich mürrischer, wunder¬ licher, verschlossener Kauz. Aber auch er war natürlich bei Brillhvff im Zirkus gewesen. Die Wunder, die er dort gesehen hatte, hatten es ihm angetan. Er war Feuer und Flamme für Brillhoff. In der Sonntagsaussprache bei Hieronymus verstieg er sich so weit, daß er behauptete, Brillhoffs Anwesenheit in Quedlinburg sei ein so wichtiges Ereignis, daß es in die Familienbibel kommen müsse. Hiero¬ nymus sah aber bei allem Respekt vor Brillhoffs Künsten die Kunstreiterei bedeutend kühler an. Er erklärte ruhig, aber entschieden, Brillhoff gehöre nicht in die Bibel. Uhlemann nahm das krumm und plädierte eifrig für seinen Vorschlag. Brillhoff dürfe nicht bloß in die Bibel, meinte er, sondern er gehöre da hinein. „Rin note hei!" rief er aus. „Hei kimmt nich rin," sagte Hieronymus, Natürlich lachten die übrigen Anwesenden. Uhlemann setzte einen Trumpf ans seine Ansicht und erbot sich, acht Groschen in die Armenkasse zu zahlen, wenn Brillhoff in die Bibel käme, „Hei kimmt ook for acht Groschen nich rin," sagte Jronimus ruhig. Desto eifriger wurde Uhlemann. Er bot schließlich einen Taler, zwei, drei Taler, aber Jronimus war unerbittlich. Schließlich verstieg Uhlemann bei dieser seltsamen Lizitation sich immer höher, bis er auf zehn Taler kam. Da gab der Fischer nach. Uhlemann zahlte zehn Taler für die Armenkasse, und für diesen Preis ist Brillhoff in die Familienbibel gekommen. Mein Vater erzählte diese von ihm selbst mit¬ erlebte Geschichte sehr ergötzlich. Einige Jahre später hat diese Familienbibel noch einmal eine Rolle gespielt, aber eine würdigere. Der alte Hieronymus, den ich noch gut gekannt habe, war bald nach jener Szene bei einer großen Feuersbrunst im Dienste helfender n»o rettender Menschenliebe umgekommen. Er war mit Wasserherbeischaffen und Löschnngs- arbeiten wohl allzu eifrig beschäftigt gewesen, hatte sich dabei zu weit vorgewagt und war von einer einstürzenden Wand erschlagen worden. Ein späterer Bewohner des Fischerhanses konnte sich mit seiner Frau nicht recht vertragen und ging de?-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/750>, abgerufen am 27.11.2024.