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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Gobineau in französischer Beleuchtung

brechen und zwei Bemerkungen einflechten. Die eine, daß wir in diesen
Gobineauschen Figuren die Vorbilder von Nietzsches Zarathustrawelt haben,
worüber wohl der Franzose im nächsten Band einiges sagen wird. Dann, daß
der Materialismus, der in dieser Hypothese zutage tritt, darum einigermaßen
auffällt, weil Gobineau doch immer noch mit einigen Seelenfädcn am Christen¬
tum hängen geblieben ist. So blind konnte er nicht sein, zu übersehen, daß es
in allen weißen Nationen und in allen Ständen Gotteskinder gibt, die die
edelsten Eigenschaften des Geistes und des Herzens offenbaren, und von denen
manche als große Genies berühmt werden. Glücklicherweise lebt von solchen
tüchtigen und guten Menschen in unserm deutschen Vaterland allein schon mehr
als das hundertfache von dreitausend. Anstatt nun zu glauben, daß Gott
seine köstlichsten Gaben unmittelbar spenden könne ohne Rücksicht auf Ab¬
stammung (nur daß gewisse Gaben ohne einen gesunden Leib, der nicht leicht
als ein Sproß entarteter Eltern vorkommt, nicht wirksam werden können), anstatt
dessen denkt er sich die Genialität und den Charakter an materielle Teilchen
gebunden, die sich, jahrhundertelang in einer Flut unedler Elemente verzettelt,
zufällig wieder einmal zusammenfinden und einen Edelmenschen schaffen. Nicht
einmal mit Weismanns unveränderlichen Keimplasma, das übrigens den gräf¬
lichen Anthropologen entzückt haben würde, läßt sich dieser Prozeß einigermaßen
glaubhaft machen.

Jedem der drei "Derwische" gesellt nun Gobineau in dem Roman eine
Gruppe von Landsleuten zu, unter denen besonders wieder einige Engländer
als Idealgestalten hervorragen. Aus dem, was Seilliere zur ihrer Charakte¬
ristik anführt, heben wir nur zwei Stellen heraus, deren erste einen Zug des
französischen Geistes zeichnet, während beide sehr charakteristisch für den Zeichner
sind. Von einem der Franzosen des Buchs wird gesagt: "Wenn sein englischer
Freund eine Idee ausdrückte, so bemerkte Louis weder ihre Quelle noch er¬
kannte er ihre Tragweite. Der ausgesprochne Gedanke erschien ihm gewöhnlich
mehr sonderbar als richtig; richtig aber fand er einen Satz nur dann, wenn
dieser kurz war, vom Bekannten ausging und in einen Gemeinplatz auslief.
Diese Unfruchtbarkeit, die der Franzose mit dem Namen Präzision zu schmücken
Pflegt, erzürnte Wilfrid, machte ihn jedoch nicht blind für die Gradheit und
Biederkeit seines Reisegefährten, welchen Vorzügen eine schlechte Erziehung und
eine falsche Praxis nichts hatten anhaben können." Den gesunden Menschen¬
verstand, "diese Philistertngend," verachtete Gobineau. In einem andern
Franzosen des Romans, Ccisimir Bullet, schildert nach unserm Kritiker Gobineau
sich selbst. Er sagt von ihm u. a.: "Bullet wußte sehr viel, da er beständig
las. besonders historische Werke, und die Prüfung der Taten, die die Geschichte
erzählt, erfüllte ihn mit Ekel vor denen, die diese Taten verrichtet haben. Erschien
eben ein Gegenstand bei einer gewissen Beleuchtung, die übrigens diesen wahr
"der falsch zeigen mochte, bewundrungswürdig, so hatte er die Gabe, sich durch
ondes von den Folgerungen, die sich ihm daraus ergaben, und von der einmal
ungeschlagnen Bahn ablenken und weglocken zu lassen."

Erst nach den Plejciden veröffentlichte Gobineau die früher erwähnten
Asiatischen Novellen, darauf, 1877, die Renaissance, deren literarischen und


Gobineau in französischer Beleuchtung

brechen und zwei Bemerkungen einflechten. Die eine, daß wir in diesen
Gobineauschen Figuren die Vorbilder von Nietzsches Zarathustrawelt haben,
worüber wohl der Franzose im nächsten Band einiges sagen wird. Dann, daß
der Materialismus, der in dieser Hypothese zutage tritt, darum einigermaßen
auffällt, weil Gobineau doch immer noch mit einigen Seelenfädcn am Christen¬
tum hängen geblieben ist. So blind konnte er nicht sein, zu übersehen, daß es
in allen weißen Nationen und in allen Ständen Gotteskinder gibt, die die
edelsten Eigenschaften des Geistes und des Herzens offenbaren, und von denen
manche als große Genies berühmt werden. Glücklicherweise lebt von solchen
tüchtigen und guten Menschen in unserm deutschen Vaterland allein schon mehr
als das hundertfache von dreitausend. Anstatt nun zu glauben, daß Gott
seine köstlichsten Gaben unmittelbar spenden könne ohne Rücksicht auf Ab¬
stammung (nur daß gewisse Gaben ohne einen gesunden Leib, der nicht leicht
als ein Sproß entarteter Eltern vorkommt, nicht wirksam werden können), anstatt
dessen denkt er sich die Genialität und den Charakter an materielle Teilchen
gebunden, die sich, jahrhundertelang in einer Flut unedler Elemente verzettelt,
zufällig wieder einmal zusammenfinden und einen Edelmenschen schaffen. Nicht
einmal mit Weismanns unveränderlichen Keimplasma, das übrigens den gräf¬
lichen Anthropologen entzückt haben würde, läßt sich dieser Prozeß einigermaßen
glaubhaft machen.

Jedem der drei „Derwische" gesellt nun Gobineau in dem Roman eine
Gruppe von Landsleuten zu, unter denen besonders wieder einige Engländer
als Idealgestalten hervorragen. Aus dem, was Seilliere zur ihrer Charakte¬
ristik anführt, heben wir nur zwei Stellen heraus, deren erste einen Zug des
französischen Geistes zeichnet, während beide sehr charakteristisch für den Zeichner
sind. Von einem der Franzosen des Buchs wird gesagt: „Wenn sein englischer
Freund eine Idee ausdrückte, so bemerkte Louis weder ihre Quelle noch er¬
kannte er ihre Tragweite. Der ausgesprochne Gedanke erschien ihm gewöhnlich
mehr sonderbar als richtig; richtig aber fand er einen Satz nur dann, wenn
dieser kurz war, vom Bekannten ausging und in einen Gemeinplatz auslief.
Diese Unfruchtbarkeit, die der Franzose mit dem Namen Präzision zu schmücken
Pflegt, erzürnte Wilfrid, machte ihn jedoch nicht blind für die Gradheit und
Biederkeit seines Reisegefährten, welchen Vorzügen eine schlechte Erziehung und
eine falsche Praxis nichts hatten anhaben können." Den gesunden Menschen¬
verstand, „diese Philistertngend," verachtete Gobineau. In einem andern
Franzosen des Romans, Ccisimir Bullet, schildert nach unserm Kritiker Gobineau
sich selbst. Er sagt von ihm u. a.: „Bullet wußte sehr viel, da er beständig
las. besonders historische Werke, und die Prüfung der Taten, die die Geschichte
erzählt, erfüllte ihn mit Ekel vor denen, die diese Taten verrichtet haben. Erschien
eben ein Gegenstand bei einer gewissen Beleuchtung, die übrigens diesen wahr
"der falsch zeigen mochte, bewundrungswürdig, so hatte er die Gabe, sich durch
ondes von den Folgerungen, die sich ihm daraus ergaben, und von der einmal
ungeschlagnen Bahn ablenken und weglocken zu lassen."

Erst nach den Plejciden veröffentlichte Gobineau die früher erwähnten
Asiatischen Novellen, darauf, 1877, die Renaissance, deren literarischen und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/743>, abgerufen am 25.11.2024.