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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Gobineau in französischer Beleuchtung

Über diese, über die Sklaven und die Untertanen erhebt." Der Deutsche ergänzt
die Worte des Vorredners: "Ja, diese ausgezeichneten Eigenschaften können nur
mit dem Blute eingegossen sein. Ammenmilch kann sie nicht mitteilen, so er¬
habne Ammen gibt es nicht. Der Charakter eines solchen Menschen besteht
aus adlichen, göttlichen Eigenschaften, deren Fülle uralte Ahnen gehabt haben,
die dann im Laufe der Zeit durch unwürdige Mischungen verhüllt und ge¬
schwächt worden, ja äußerlich ganz geschwunden find, die aber unsichtbar fort¬
lebten und nun in dem Königssohne, wie wir ihn meinen, plötzlich wieder¬
erscheinen." "Also würden eurer Ansicht nach, fährt der Franzose fort, durch
die Welt verstreut in allen möglichen Nationen eine Anzahl Personen leben,
in deren jeder kostbare Atome der edelsten Urahnen zusammengetroffen sind,
sich verbunden und die im langen Verlauf unwürdiger Mischzeugungen eiuge-
strömten schlechten Elemente ausgestoßen haben? Diese Leute also, gleichviel
in welcher Gesellschaftsschicht sie der Himmel hat geboren werden lassen, würden
dann die echten Nachkommen der Amelungen und der Merowinger sein." "So
ist es, entgegnet der Engländer. Viele Jahrhunderte sind verflossen, ehe den
Sklaven und Sklavensöhnen, die ihr Haupt erhoben jsiehe Nietzsches Sklaven-
aufstaudlf, die moderne Gesellschaft ihren Sabbat gebracht hat. In all dieser
Zeit sind die Wackern nie ganz ausgestorben. Sie haben die Flut überstanden,
ein vorstehende Steine, an Pflanzenbüschel, an Gesträuch sich anklammernd.
Beschmutzt und zerschundcn sind sie endlich wieder zum Vorschein gekommen,
mit den Denkzeichen an ihrem Leibe, die sie in dem häßlichen Aufenthaltsort
davon getragen haben, und die man in der Geschichte von den drei einüugigeu
Derwischen symbolisiert findet. Die Zahl dieser Aristokraten des Charakters
läßt sich einigermaßen abschätzen; es mögen ihrer dreitausend oder dreitausend¬
fünfhundert sein in Europa." Der Deutsche hält diese Schätzung für sehr über¬
trieben. Also noch lange nicht einmal die obern Zehntausend, von denen die
Sozialdemokraten immer reden, bemerkt Seilliere. Die Masse ist den drei
Königssöhnen eine Horde wilder, bissiger, trübseliger, häßlicher Barbaren, die
alles gesunde Leben vernichten und nichts schaffen wird. Eine Art Aristokratie
dieser Bande sind die Schelme (clröls8); diese haben ihren Nutzen, denn sie be¬
reiten der modernen Welt das Schicksal, das sie verdient, und kann man sie
auch nicht das Salz der Erde nennen, so sind sie wenigstens eine Salzlake.
Unter ihnen stehn die Einfaltspinsel, die, ohne sich dessen bewußt zu sein, das
Werk der Zerstörer fördern, indem sie die Kleinarbeit verrichten: Schlüssel ab¬
liefern, Türen öffnen, Phrasen erfinden, dann freilich mitunter weinend klagen,
sie hätten sich getäuscht, so was würden sie niemals für möglich gehalten haben-
Zu allerunterst wimmelt das Menschenvieh, das von der ersten dieser drei
Klassen ausgebeutet, von der zweiten losgebunden, herdenweise dem Verderben
(vizrs clss ässtins lAnor68 heißt es euphemistisch) Angepeitscht wird. Über diesem
Chaos, das giftige Dämpfe, Pestbazillen und Heuschreckenschwürme erfüllen,
schweben in heiterm Lichtglanz die dreitausend Auserwählten, die sich von¬
einander angezogen wie die Plejaden zu einer Gruppe vereinigen, und die allein
würdig sind, daß sich eine denkende Seele mit ihnen beschäftige.

Hier müssen wir doch deu Bericht Seillieres auf einen Augenblick unter-


Gobineau in französischer Beleuchtung

Über diese, über die Sklaven und die Untertanen erhebt." Der Deutsche ergänzt
die Worte des Vorredners: „Ja, diese ausgezeichneten Eigenschaften können nur
mit dem Blute eingegossen sein. Ammenmilch kann sie nicht mitteilen, so er¬
habne Ammen gibt es nicht. Der Charakter eines solchen Menschen besteht
aus adlichen, göttlichen Eigenschaften, deren Fülle uralte Ahnen gehabt haben,
die dann im Laufe der Zeit durch unwürdige Mischungen verhüllt und ge¬
schwächt worden, ja äußerlich ganz geschwunden find, die aber unsichtbar fort¬
lebten und nun in dem Königssohne, wie wir ihn meinen, plötzlich wieder¬
erscheinen." „Also würden eurer Ansicht nach, fährt der Franzose fort, durch
die Welt verstreut in allen möglichen Nationen eine Anzahl Personen leben,
in deren jeder kostbare Atome der edelsten Urahnen zusammengetroffen sind,
sich verbunden und die im langen Verlauf unwürdiger Mischzeugungen eiuge-
strömten schlechten Elemente ausgestoßen haben? Diese Leute also, gleichviel
in welcher Gesellschaftsschicht sie der Himmel hat geboren werden lassen, würden
dann die echten Nachkommen der Amelungen und der Merowinger sein." „So
ist es, entgegnet der Engländer. Viele Jahrhunderte sind verflossen, ehe den
Sklaven und Sklavensöhnen, die ihr Haupt erhoben jsiehe Nietzsches Sklaven-
aufstaudlf, die moderne Gesellschaft ihren Sabbat gebracht hat. In all dieser
Zeit sind die Wackern nie ganz ausgestorben. Sie haben die Flut überstanden,
ein vorstehende Steine, an Pflanzenbüschel, an Gesträuch sich anklammernd.
Beschmutzt und zerschundcn sind sie endlich wieder zum Vorschein gekommen,
mit den Denkzeichen an ihrem Leibe, die sie in dem häßlichen Aufenthaltsort
davon getragen haben, und die man in der Geschichte von den drei einüugigeu
Derwischen symbolisiert findet. Die Zahl dieser Aristokraten des Charakters
läßt sich einigermaßen abschätzen; es mögen ihrer dreitausend oder dreitausend¬
fünfhundert sein in Europa." Der Deutsche hält diese Schätzung für sehr über¬
trieben. Also noch lange nicht einmal die obern Zehntausend, von denen die
Sozialdemokraten immer reden, bemerkt Seilliere. Die Masse ist den drei
Königssöhnen eine Horde wilder, bissiger, trübseliger, häßlicher Barbaren, die
alles gesunde Leben vernichten und nichts schaffen wird. Eine Art Aristokratie
dieser Bande sind die Schelme (clröls8); diese haben ihren Nutzen, denn sie be¬
reiten der modernen Welt das Schicksal, das sie verdient, und kann man sie
auch nicht das Salz der Erde nennen, so sind sie wenigstens eine Salzlake.
Unter ihnen stehn die Einfaltspinsel, die, ohne sich dessen bewußt zu sein, das
Werk der Zerstörer fördern, indem sie die Kleinarbeit verrichten: Schlüssel ab¬
liefern, Türen öffnen, Phrasen erfinden, dann freilich mitunter weinend klagen,
sie hätten sich getäuscht, so was würden sie niemals für möglich gehalten haben-
Zu allerunterst wimmelt das Menschenvieh, das von der ersten dieser drei
Klassen ausgebeutet, von der zweiten losgebunden, herdenweise dem Verderben
(vizrs clss ässtins lAnor68 heißt es euphemistisch) Angepeitscht wird. Über diesem
Chaos, das giftige Dämpfe, Pestbazillen und Heuschreckenschwürme erfüllen,
schweben in heiterm Lichtglanz die dreitausend Auserwählten, die sich von¬
einander angezogen wie die Plejaden zu einer Gruppe vereinigen, und die allein
würdig sind, daß sich eine denkende Seele mit ihnen beschäftige.

Hier müssen wir doch deu Bericht Seillieres auf einen Augenblick unter-


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[0742] Gobineau in französischer Beleuchtung Über diese, über die Sklaven und die Untertanen erhebt." Der Deutsche ergänzt die Worte des Vorredners: „Ja, diese ausgezeichneten Eigenschaften können nur mit dem Blute eingegossen sein. Ammenmilch kann sie nicht mitteilen, so er¬ habne Ammen gibt es nicht. Der Charakter eines solchen Menschen besteht aus adlichen, göttlichen Eigenschaften, deren Fülle uralte Ahnen gehabt haben, die dann im Laufe der Zeit durch unwürdige Mischungen verhüllt und ge¬ schwächt worden, ja äußerlich ganz geschwunden find, die aber unsichtbar fort¬ lebten und nun in dem Königssohne, wie wir ihn meinen, plötzlich wieder¬ erscheinen." „Also würden eurer Ansicht nach, fährt der Franzose fort, durch die Welt verstreut in allen möglichen Nationen eine Anzahl Personen leben, in deren jeder kostbare Atome der edelsten Urahnen zusammengetroffen sind, sich verbunden und die im langen Verlauf unwürdiger Mischzeugungen eiuge- strömten schlechten Elemente ausgestoßen haben? Diese Leute also, gleichviel in welcher Gesellschaftsschicht sie der Himmel hat geboren werden lassen, würden dann die echten Nachkommen der Amelungen und der Merowinger sein." „So ist es, entgegnet der Engländer. Viele Jahrhunderte sind verflossen, ehe den Sklaven und Sklavensöhnen, die ihr Haupt erhoben jsiehe Nietzsches Sklaven- aufstaudlf, die moderne Gesellschaft ihren Sabbat gebracht hat. In all dieser Zeit sind die Wackern nie ganz ausgestorben. Sie haben die Flut überstanden, ein vorstehende Steine, an Pflanzenbüschel, an Gesträuch sich anklammernd. Beschmutzt und zerschundcn sind sie endlich wieder zum Vorschein gekommen, mit den Denkzeichen an ihrem Leibe, die sie in dem häßlichen Aufenthaltsort davon getragen haben, und die man in der Geschichte von den drei einüugigeu Derwischen symbolisiert findet. Die Zahl dieser Aristokraten des Charakters läßt sich einigermaßen abschätzen; es mögen ihrer dreitausend oder dreitausend¬ fünfhundert sein in Europa." Der Deutsche hält diese Schätzung für sehr über¬ trieben. Also noch lange nicht einmal die obern Zehntausend, von denen die Sozialdemokraten immer reden, bemerkt Seilliere. Die Masse ist den drei Königssöhnen eine Horde wilder, bissiger, trübseliger, häßlicher Barbaren, die alles gesunde Leben vernichten und nichts schaffen wird. Eine Art Aristokratie dieser Bande sind die Schelme (clröls8); diese haben ihren Nutzen, denn sie be¬ reiten der modernen Welt das Schicksal, das sie verdient, und kann man sie auch nicht das Salz der Erde nennen, so sind sie wenigstens eine Salzlake. Unter ihnen stehn die Einfaltspinsel, die, ohne sich dessen bewußt zu sein, das Werk der Zerstörer fördern, indem sie die Kleinarbeit verrichten: Schlüssel ab¬ liefern, Türen öffnen, Phrasen erfinden, dann freilich mitunter weinend klagen, sie hätten sich getäuscht, so was würden sie niemals für möglich gehalten haben- Zu allerunterst wimmelt das Menschenvieh, das von der ersten dieser drei Klassen ausgebeutet, von der zweiten losgebunden, herdenweise dem Verderben (vizrs clss ässtins lAnor68 heißt es euphemistisch) Angepeitscht wird. Über diesem Chaos, das giftige Dämpfe, Pestbazillen und Heuschreckenschwürme erfüllen, schweben in heiterm Lichtglanz die dreitausend Auserwählten, die sich von¬ einander angezogen wie die Plejaden zu einer Gruppe vereinigen, und die allein würdig sind, daß sich eine denkende Seele mit ihnen beschäftige. Hier müssen wir doch deu Bericht Seillieres auf einen Augenblick unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/742>, abgerufen am 25.11.2024.