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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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politische Anthropologie

in 2l>. Hefte des vorigen Jahrgangs der Grenzboten hat Otto
von Linstow aus einer Reihe von Betrachtungen über den In¬
stinkt der Tiere den Schluß gezogen: "Die seelischen Eigenschaften
der Menschen und der Tiere sind also nicht nur quantitativ,
sondern qualitativ verschieden, und darum ist der Mensch kein
höher entwickeltes Tier- das Darwin-Häckelsche Affenevangelium, das solches
lehrt, muß demnach als ein unbewiesenes, irrtümliches Dogma zurückgewiesen
werden"; und ein andrer Mitarbeiter der Grenzboten hat in einer reizenden
Satire die biologisch-rationelle Menschenzüchtung überaus geistreich verspottet.
Aber die Biologen arbeiten weiter, und da doch nicht alles Unsinn ist, was sie
sagen, so müssen wir von Zeit zu Zeit über das Ergebnis ihrer Arbeiten be¬
richten. In der soeben (bei der Thüringischen Verlagsanstalt in Eisenach und
Leipzig, 1903) erschienenen Politischen Anthropologie von Ludwig Wolt-
mann, dem Herausgeber der Politisch-anthropologischen Revue, ist das Poli¬
tische im ganzen verständig, sodaß mau vielem, wenn auch nicht allem, zu¬
stimmen kann. Die Ideale des Sozialismus und des politischen Liberalismus
werden darin zerstört durch den Hinweis auf die unausrottbaren Unterschiede
in der Begabung der Individuen und der Nassen, auf die Notwendigkeit fort¬
dauernder Konkurrenz- und Auslesekämpfe, und auf die Tatsache, daß gesell¬
schaftliche Organisation ohne Überordnung und Unterordnung nicht denkbar
ist, allgemeine Freiheit und Gleichheit also unmöglich sind. Dagegen müssen
wir den Versuch, diese altbekannten Wahrheiten ans den Darwinismus zu
gründen und durch diesen erst verständlich zu uneben, für verunglückt erklären.
Zu solchen Versuchen treibt der berechtigte und edle philosophische Drang, die
Welt als eine Einheit zu begreifen. Aber Illusion ist es, zu glauben, dieses
Ziel könne auf darwinischen Wegen erreicht werden oder sei gar schon erreicht:
organische Einheit geht niemals von unten, sondern immer von oben aus,
nicht vou der Peripherie sondern vom Zentrum, wie ja gerade Woltmann für
das politische Gebiet nachweist. Einbildung ist es, zu glauben, man habe die
Entstehung der Arten begreiflich gemacht, wenn man einige Kräfte und Um¬
stände nachgewiesen hat, die möglicherweise beim Entwicklungsprozeß mitgewirkt


Grmzbotcii IN 1908 9


politische Anthropologie

in 2l>. Hefte des vorigen Jahrgangs der Grenzboten hat Otto
von Linstow aus einer Reihe von Betrachtungen über den In¬
stinkt der Tiere den Schluß gezogen: „Die seelischen Eigenschaften
der Menschen und der Tiere sind also nicht nur quantitativ,
sondern qualitativ verschieden, und darum ist der Mensch kein
höher entwickeltes Tier- das Darwin-Häckelsche Affenevangelium, das solches
lehrt, muß demnach als ein unbewiesenes, irrtümliches Dogma zurückgewiesen
werden"; und ein andrer Mitarbeiter der Grenzboten hat in einer reizenden
Satire die biologisch-rationelle Menschenzüchtung überaus geistreich verspottet.
Aber die Biologen arbeiten weiter, und da doch nicht alles Unsinn ist, was sie
sagen, so müssen wir von Zeit zu Zeit über das Ergebnis ihrer Arbeiten be¬
richten. In der soeben (bei der Thüringischen Verlagsanstalt in Eisenach und
Leipzig, 1903) erschienenen Politischen Anthropologie von Ludwig Wolt-
mann, dem Herausgeber der Politisch-anthropologischen Revue, ist das Poli¬
tische im ganzen verständig, sodaß mau vielem, wenn auch nicht allem, zu¬
stimmen kann. Die Ideale des Sozialismus und des politischen Liberalismus
werden darin zerstört durch den Hinweis auf die unausrottbaren Unterschiede
in der Begabung der Individuen und der Nassen, auf die Notwendigkeit fort¬
dauernder Konkurrenz- und Auslesekämpfe, und auf die Tatsache, daß gesell¬
schaftliche Organisation ohne Überordnung und Unterordnung nicht denkbar
ist, allgemeine Freiheit und Gleichheit also unmöglich sind. Dagegen müssen
wir den Versuch, diese altbekannten Wahrheiten ans den Darwinismus zu
gründen und durch diesen erst verständlich zu uneben, für verunglückt erklären.
Zu solchen Versuchen treibt der berechtigte und edle philosophische Drang, die
Welt als eine Einheit zu begreifen. Aber Illusion ist es, zu glauben, dieses
Ziel könne auf darwinischen Wegen erreicht werden oder sei gar schon erreicht:
organische Einheit geht niemals von unten, sondern immer von oben aus,
nicht vou der Peripherie sondern vom Zentrum, wie ja gerade Woltmann für
das politische Gebiet nachweist. Einbildung ist es, zu glauben, man habe die
Entstehung der Arten begreiflich gemacht, wenn man einige Kräfte und Um¬
stände nachgewiesen hat, die möglicherweise beim Entwicklungsprozeß mitgewirkt


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[0073] [Abbildung] politische Anthropologie in 2l>. Hefte des vorigen Jahrgangs der Grenzboten hat Otto von Linstow aus einer Reihe von Betrachtungen über den In¬ stinkt der Tiere den Schluß gezogen: „Die seelischen Eigenschaften der Menschen und der Tiere sind also nicht nur quantitativ, sondern qualitativ verschieden, und darum ist der Mensch kein höher entwickeltes Tier- das Darwin-Häckelsche Affenevangelium, das solches lehrt, muß demnach als ein unbewiesenes, irrtümliches Dogma zurückgewiesen werden"; und ein andrer Mitarbeiter der Grenzboten hat in einer reizenden Satire die biologisch-rationelle Menschenzüchtung überaus geistreich verspottet. Aber die Biologen arbeiten weiter, und da doch nicht alles Unsinn ist, was sie sagen, so müssen wir von Zeit zu Zeit über das Ergebnis ihrer Arbeiten be¬ richten. In der soeben (bei der Thüringischen Verlagsanstalt in Eisenach und Leipzig, 1903) erschienenen Politischen Anthropologie von Ludwig Wolt- mann, dem Herausgeber der Politisch-anthropologischen Revue, ist das Poli¬ tische im ganzen verständig, sodaß mau vielem, wenn auch nicht allem, zu¬ stimmen kann. Die Ideale des Sozialismus und des politischen Liberalismus werden darin zerstört durch den Hinweis auf die unausrottbaren Unterschiede in der Begabung der Individuen und der Nassen, auf die Notwendigkeit fort¬ dauernder Konkurrenz- und Auslesekämpfe, und auf die Tatsache, daß gesell¬ schaftliche Organisation ohne Überordnung und Unterordnung nicht denkbar ist, allgemeine Freiheit und Gleichheit also unmöglich sind. Dagegen müssen wir den Versuch, diese altbekannten Wahrheiten ans den Darwinismus zu gründen und durch diesen erst verständlich zu uneben, für verunglückt erklären. Zu solchen Versuchen treibt der berechtigte und edle philosophische Drang, die Welt als eine Einheit zu begreifen. Aber Illusion ist es, zu glauben, dieses Ziel könne auf darwinischen Wegen erreicht werden oder sei gar schon erreicht: organische Einheit geht niemals von unten, sondern immer von oben aus, nicht vou der Peripherie sondern vom Zentrum, wie ja gerade Woltmann für das politische Gebiet nachweist. Einbildung ist es, zu glauben, man habe die Entstehung der Arten begreiflich gemacht, wenn man einige Kräfte und Um¬ stände nachgewiesen hat, die möglicherweise beim Entwicklungsprozeß mitgewirkt Grmzbotcii IN 1908 9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/73>, abgerufen am 26.11.2024.