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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Erinnerungen an die Paulskirche ^3^8

Die Beratung der deutschen Grundrechte erfuhr mannigfache Unter¬
brechung, und bald gingen die Wogen höher. Abgeschafft und aufgehoben
wurde, was nur möglich war, so die Handwerkerzünfte, soweit sie nicht,
wie in Preußen, längst aufgelöst waren. Da liefen allseitig Petitionen ein,
besonders aus Bayern, denn die Realrechte repräsentierten ein großes Ver¬
mögen. Sie hatten auch ein langverbricftes Anrecht auf den Fortbestand;
denn nicht bloß die Gesetze des Numa hielten sie aufrecht schon vor dritthalb-
tausend Jahren, sondern in der arabischen Welt wie in Indien bestehn sie seit
unvordenklicher Zeit und noch heute. Damit waren Reife gesprengt, die die
Gesellschaft zusammenhielten, und Grundsteine pulverisiert, "vorauf der feste
Stantsbau ruhen sollte. Mau durfte die Engherzigkeit beseitigen, womit die
Meister cingegangne Gerechtsame an die Zunftlade kauften, wobei zudem nur
Meistersöhne aufgenommen wurden, wie mit vorläufigen Eintrag ins Handwerks¬
buch auch der Schreiber dieser Zeiten. Füglich soll jeder seine Anlagen und Kräfte
verwerten können. Die Gewerbe führten nicht umsonst den Namen "ehrsames
Handwerk"; darin rückte der Lehrjunge zum Gesellen, der Gehilfe zum Meister
vor, wie der Fuchs zum Korpsburschcn und Senior. Ordnung muß sein, und
sie erzwingt sich, damit sich nicht jeder beliebig für einen Meister erklärt, der
nicht erst Geselle war. Wir erleben, wie sich jetzt aus freien Stücken wieder
Innungen bilden, Lehrlinge öffentlich freigesprochen, sogar unter den Angen
ihrer Eltern beschenkt werden, und sich durch die Aufnahme in ehrsamen Hand¬
werkerstand anch den bürgerlichen Stolz aneignen, sich nicht wie gemeine
Menschen wegzuwerfen und den Genossen gar Schande zuzufügen. Sie ver¬
langen die Anerkennung als Korporation.

.Hatte hier das Parlament dem neuerungslustigcn Zeitgeist zu viel nach¬
gegeben, so wurde die Aufhebung der Spielbanken und all der Lottos
mit allgemeinem Jubel begrüßt. Es war in der Tat ein erbaulicher Anblick,
deu Landgrafen von Hessen - Homburg mit solcher Gesellschaft am Spieltisch
sitzen zu sehen, wie er eine Rolle um die andre kommen ließ und das Geld
seiner Uutertciucu verspielte. Bei der Abschaffung kam jedoch ein liberales
Mitglied in grausame Verlegenheit, nämlich der vom Wahlkreise Homburg er¬
wählte Jakob Neuedey. Wie er auf der Rednerbühne jammerte und wider
bessere Überzeugung flehte, das hohe Haus möge doch Rücksicht nehmen und
nicht ohne weiteres und nicht sogleich das Langgcwohnte ans der Welt schaffen!
Er kam so zwischen zwei Feuer. Gewiß war es für die Bankhalter erträglich,
wenn auch gerade die ärmere Klasse die Fortuna herausforderte und dadurch
noch ärmer wurde. Und ist es nicht ein Ärgernis in den Augen von ganz
Europa, daß in Monte Carlo noch eine Gcneralspiclhölle fortbesteht, mag auch
der Fürst von Monaco von seinen wenigen Untertanen wegen des reichen Er¬
trägnisses der Bank für sich keine Steuern einfordern. Wie wenn Dutzende von
fremdem Adel, leichtsinnige Söhne von guten Familien, Brautpaare, die ihr
Glück auf der Hochzeitreise versuchen, Jahr für Jahr ruiniert werden und zum
Revolver greifen, um den Friedhof zu bevölkern! Wieviel solche Skandale
bekommt man zu lesen! Auch für den Staat besteht den Untertanen gegen¬
über das Gebot: Führe uns nicht in Versuchung!


Erinnerungen an die Paulskirche ^3^8

Die Beratung der deutschen Grundrechte erfuhr mannigfache Unter¬
brechung, und bald gingen die Wogen höher. Abgeschafft und aufgehoben
wurde, was nur möglich war, so die Handwerkerzünfte, soweit sie nicht,
wie in Preußen, längst aufgelöst waren. Da liefen allseitig Petitionen ein,
besonders aus Bayern, denn die Realrechte repräsentierten ein großes Ver¬
mögen. Sie hatten auch ein langverbricftes Anrecht auf den Fortbestand;
denn nicht bloß die Gesetze des Numa hielten sie aufrecht schon vor dritthalb-
tausend Jahren, sondern in der arabischen Welt wie in Indien bestehn sie seit
unvordenklicher Zeit und noch heute. Damit waren Reife gesprengt, die die
Gesellschaft zusammenhielten, und Grundsteine pulverisiert, »vorauf der feste
Stantsbau ruhen sollte. Mau durfte die Engherzigkeit beseitigen, womit die
Meister cingegangne Gerechtsame an die Zunftlade kauften, wobei zudem nur
Meistersöhne aufgenommen wurden, wie mit vorläufigen Eintrag ins Handwerks¬
buch auch der Schreiber dieser Zeiten. Füglich soll jeder seine Anlagen und Kräfte
verwerten können. Die Gewerbe führten nicht umsonst den Namen „ehrsames
Handwerk"; darin rückte der Lehrjunge zum Gesellen, der Gehilfe zum Meister
vor, wie der Fuchs zum Korpsburschcn und Senior. Ordnung muß sein, und
sie erzwingt sich, damit sich nicht jeder beliebig für einen Meister erklärt, der
nicht erst Geselle war. Wir erleben, wie sich jetzt aus freien Stücken wieder
Innungen bilden, Lehrlinge öffentlich freigesprochen, sogar unter den Angen
ihrer Eltern beschenkt werden, und sich durch die Aufnahme in ehrsamen Hand¬
werkerstand anch den bürgerlichen Stolz aneignen, sich nicht wie gemeine
Menschen wegzuwerfen und den Genossen gar Schande zuzufügen. Sie ver¬
langen die Anerkennung als Korporation.

.Hatte hier das Parlament dem neuerungslustigcn Zeitgeist zu viel nach¬
gegeben, so wurde die Aufhebung der Spielbanken und all der Lottos
mit allgemeinem Jubel begrüßt. Es war in der Tat ein erbaulicher Anblick,
deu Landgrafen von Hessen - Homburg mit solcher Gesellschaft am Spieltisch
sitzen zu sehen, wie er eine Rolle um die andre kommen ließ und das Geld
seiner Uutertciucu verspielte. Bei der Abschaffung kam jedoch ein liberales
Mitglied in grausame Verlegenheit, nämlich der vom Wahlkreise Homburg er¬
wählte Jakob Neuedey. Wie er auf der Rednerbühne jammerte und wider
bessere Überzeugung flehte, das hohe Haus möge doch Rücksicht nehmen und
nicht ohne weiteres und nicht sogleich das Langgcwohnte ans der Welt schaffen!
Er kam so zwischen zwei Feuer. Gewiß war es für die Bankhalter erträglich,
wenn auch gerade die ärmere Klasse die Fortuna herausforderte und dadurch
noch ärmer wurde. Und ist es nicht ein Ärgernis in den Augen von ganz
Europa, daß in Monte Carlo noch eine Gcneralspiclhölle fortbesteht, mag auch
der Fürst von Monaco von seinen wenigen Untertanen wegen des reichen Er¬
trägnisses der Bank für sich keine Steuern einfordern. Wie wenn Dutzende von
fremdem Adel, leichtsinnige Söhne von guten Familien, Brautpaare, die ihr
Glück auf der Hochzeitreise versuchen, Jahr für Jahr ruiniert werden und zum
Revolver greifen, um den Friedhof zu bevölkern! Wieviel solche Skandale
bekommt man zu lesen! Auch für den Staat besteht den Untertanen gegen¬
über das Gebot: Führe uns nicht in Versuchung!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/728>, abgerufen am 23.11.2024.