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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Die Sprachen- und Boamtenfnige in Böhmen

Das ist aber ein bloßer Lehrsatz, der die Sprachenbedürfnisfrage gänzlich außer
acht läßt. Deutsche wie Tschechen würden sich sicher einmütig dagegen wehren,
wenn man ihnen etwa Südtiroler, die nur Italienisch verstünden, als Beamte
nach Böhmen setzen wollte, obgleich dies nach dem Artikel 13 vollkommen zu¬
lässig wäre. Übrigens ist der Artikel nach seiner ganzen Entstehungsgeschichte
gegen das frühere Privilegium des Adels auf gewisse Beamtenstellen und
gegen den Ausschluß ganzer Glaubensbekenntnisse von der Staatsanstellung
gerichtet und hat ans die Sprachenfrage der Beamten ursprünglich keine Be¬
ziehung.

Von einer historischen Abneigung der Dentschen gegen die tschechische
Sprache läßt sich eigentlich nicht sprechen, diese ist in den letzten Jahrzehnten
erst künstlich großgezogen worden. Die Notwendigkeit zwingt Tausende von
deutschet, Eltern, ihren Kindern tschechischen Unterricht erteilen zu lassen. In
Böhmen, namentlich in Prag, gibt es hervorragende deutsche Industrielle, die
ihren .Kindern durch Privatunterricht eine gründliche Kenntnis der tschechischen
Sprache beibringen lassen. Sogar im geschlossenen Sprachgebiet vermag man
sich den Forderungen des praktischen Lebens nicht zu entziehn. Ju frühern
Zeiten war der sogenannte "Kindertausch" in Böhmen eine ziemlich weit ver¬
breitete Einrichtung. Tschechische Eltern gaben ihre Kinder ans mehrere Jahre
in eine deutsche Familie, während sie deren Kinder aufnahmen, damit die
Kleinen die für sie nötige andre Landessprache praktisch lernten. Auch heute
finden sich noch öfters in deutschen Blättern Aufforderungen zum Kindertansch,
obgleich namentlich die Dentschradikalen jeden als nationalen Verräter brand¬
marken, der seine Kinder tschechisch lernen läßt. Wenn es der Vorteil des
Kaufmanns erfordert, so lernt er auch die andre Landessprache und gebraucht
sie der Kundschaft gegenüber. Zu seinem Besten dient es auch, daß er in
anderssprachigen Landesteilen bei Amt und Gericht in seiner Sprache ankommen
kann, und wenn sein Billigkeitsgcfühl nicht getrübt ist, so wird er gar nichts
dagegen einwenden, wenn dem anderssprachigen Landsmann dieselbe Mög¬
lichkeit geboten wird. Die UnHaltbarkeit des gegenwärtigen Zustandes beweisen
ferner die zahlreichen "tschechischen Sprachkurse" in deutschen Städten, die
tschechischen Sprachlehrer, die gesucht werden, und nicht minder die sich mehrenden
Ansuchen deutscher höherer Lehranstalten um Einführung des nicht obliga¬
torischen Unterrichts in der tschechischen Sprache, da die Schulgesetzgebung die
Einführung als vollberechtigtes Lehrfach abwehrt. Das Bedürfnis und die Not¬
wendigkeiten des praktischen Lebens erweisen sich auch hier stärker als die
Parteischablone und die überspannte nationale Theorie. In wirtschaftlichen
Dingen verstehn sich die Deutschen und die Tschechen ganz gut, denn der
Gang der Geschäfte stockt nicht, wenn man sich auch in den Vcrtretungskörpern
streitet und schlägt. Die Bauern verkaufen einander ihre Rinder auf dem
Markte, die Arbeiter reichen sich in der Werkstatt das Werkzeug, die Fabri¬
kanten und die Kaufleute schließen ihre Kondore nicht wegen der nationalen
und der Sprachstreitigkeiten. Nationale Bohkottversuche haben nirgends eine
größere Bedeutung erlangt und unterscheiden sich in ihrer Tragweite nicht von
andern aus eigennützigen Absichten und nicht ans nationalen Gründen erfolgten


Grenzboten III 1903 90
Die Sprachen- und Boamtenfnige in Böhmen

Das ist aber ein bloßer Lehrsatz, der die Sprachenbedürfnisfrage gänzlich außer
acht läßt. Deutsche wie Tschechen würden sich sicher einmütig dagegen wehren,
wenn man ihnen etwa Südtiroler, die nur Italienisch verstünden, als Beamte
nach Böhmen setzen wollte, obgleich dies nach dem Artikel 13 vollkommen zu¬
lässig wäre. Übrigens ist der Artikel nach seiner ganzen Entstehungsgeschichte
gegen das frühere Privilegium des Adels auf gewisse Beamtenstellen und
gegen den Ausschluß ganzer Glaubensbekenntnisse von der Staatsanstellung
gerichtet und hat ans die Sprachenfrage der Beamten ursprünglich keine Be¬
ziehung.

Von einer historischen Abneigung der Dentschen gegen die tschechische
Sprache läßt sich eigentlich nicht sprechen, diese ist in den letzten Jahrzehnten
erst künstlich großgezogen worden. Die Notwendigkeit zwingt Tausende von
deutschet, Eltern, ihren Kindern tschechischen Unterricht erteilen zu lassen. In
Böhmen, namentlich in Prag, gibt es hervorragende deutsche Industrielle, die
ihren .Kindern durch Privatunterricht eine gründliche Kenntnis der tschechischen
Sprache beibringen lassen. Sogar im geschlossenen Sprachgebiet vermag man
sich den Forderungen des praktischen Lebens nicht zu entziehn. Ju frühern
Zeiten war der sogenannte „Kindertausch" in Böhmen eine ziemlich weit ver¬
breitete Einrichtung. Tschechische Eltern gaben ihre Kinder ans mehrere Jahre
in eine deutsche Familie, während sie deren Kinder aufnahmen, damit die
Kleinen die für sie nötige andre Landessprache praktisch lernten. Auch heute
finden sich noch öfters in deutschen Blättern Aufforderungen zum Kindertansch,
obgleich namentlich die Dentschradikalen jeden als nationalen Verräter brand¬
marken, der seine Kinder tschechisch lernen läßt. Wenn es der Vorteil des
Kaufmanns erfordert, so lernt er auch die andre Landessprache und gebraucht
sie der Kundschaft gegenüber. Zu seinem Besten dient es auch, daß er in
anderssprachigen Landesteilen bei Amt und Gericht in seiner Sprache ankommen
kann, und wenn sein Billigkeitsgcfühl nicht getrübt ist, so wird er gar nichts
dagegen einwenden, wenn dem anderssprachigen Landsmann dieselbe Mög¬
lichkeit geboten wird. Die UnHaltbarkeit des gegenwärtigen Zustandes beweisen
ferner die zahlreichen „tschechischen Sprachkurse" in deutschen Städten, die
tschechischen Sprachlehrer, die gesucht werden, und nicht minder die sich mehrenden
Ansuchen deutscher höherer Lehranstalten um Einführung des nicht obliga¬
torischen Unterrichts in der tschechischen Sprache, da die Schulgesetzgebung die
Einführung als vollberechtigtes Lehrfach abwehrt. Das Bedürfnis und die Not¬
wendigkeiten des praktischen Lebens erweisen sich auch hier stärker als die
Parteischablone und die überspannte nationale Theorie. In wirtschaftlichen
Dingen verstehn sich die Deutschen und die Tschechen ganz gut, denn der
Gang der Geschäfte stockt nicht, wenn man sich auch in den Vcrtretungskörpern
streitet und schlägt. Die Bauern verkaufen einander ihre Rinder auf dem
Markte, die Arbeiter reichen sich in der Werkstatt das Werkzeug, die Fabri¬
kanten und die Kaufleute schließen ihre Kondore nicht wegen der nationalen
und der Sprachstreitigkeiten. Nationale Bohkottversuche haben nirgends eine
größere Bedeutung erlangt und unterscheiden sich in ihrer Tragweite nicht von
andern aus eigennützigen Absichten und nicht ans nationalen Gründen erfolgten


Grenzboten III 1903 90
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[0721] Die Sprachen- und Boamtenfnige in Böhmen Das ist aber ein bloßer Lehrsatz, der die Sprachenbedürfnisfrage gänzlich außer acht läßt. Deutsche wie Tschechen würden sich sicher einmütig dagegen wehren, wenn man ihnen etwa Südtiroler, die nur Italienisch verstünden, als Beamte nach Böhmen setzen wollte, obgleich dies nach dem Artikel 13 vollkommen zu¬ lässig wäre. Übrigens ist der Artikel nach seiner ganzen Entstehungsgeschichte gegen das frühere Privilegium des Adels auf gewisse Beamtenstellen und gegen den Ausschluß ganzer Glaubensbekenntnisse von der Staatsanstellung gerichtet und hat ans die Sprachenfrage der Beamten ursprünglich keine Be¬ ziehung. Von einer historischen Abneigung der Dentschen gegen die tschechische Sprache läßt sich eigentlich nicht sprechen, diese ist in den letzten Jahrzehnten erst künstlich großgezogen worden. Die Notwendigkeit zwingt Tausende von deutschet, Eltern, ihren Kindern tschechischen Unterricht erteilen zu lassen. In Böhmen, namentlich in Prag, gibt es hervorragende deutsche Industrielle, die ihren .Kindern durch Privatunterricht eine gründliche Kenntnis der tschechischen Sprache beibringen lassen. Sogar im geschlossenen Sprachgebiet vermag man sich den Forderungen des praktischen Lebens nicht zu entziehn. Ju frühern Zeiten war der sogenannte „Kindertausch" in Böhmen eine ziemlich weit ver¬ breitete Einrichtung. Tschechische Eltern gaben ihre Kinder ans mehrere Jahre in eine deutsche Familie, während sie deren Kinder aufnahmen, damit die Kleinen die für sie nötige andre Landessprache praktisch lernten. Auch heute finden sich noch öfters in deutschen Blättern Aufforderungen zum Kindertansch, obgleich namentlich die Dentschradikalen jeden als nationalen Verräter brand¬ marken, der seine Kinder tschechisch lernen läßt. Wenn es der Vorteil des Kaufmanns erfordert, so lernt er auch die andre Landessprache und gebraucht sie der Kundschaft gegenüber. Zu seinem Besten dient es auch, daß er in anderssprachigen Landesteilen bei Amt und Gericht in seiner Sprache ankommen kann, und wenn sein Billigkeitsgcfühl nicht getrübt ist, so wird er gar nichts dagegen einwenden, wenn dem anderssprachigen Landsmann dieselbe Mög¬ lichkeit geboten wird. Die UnHaltbarkeit des gegenwärtigen Zustandes beweisen ferner die zahlreichen „tschechischen Sprachkurse" in deutschen Städten, die tschechischen Sprachlehrer, die gesucht werden, und nicht minder die sich mehrenden Ansuchen deutscher höherer Lehranstalten um Einführung des nicht obliga¬ torischen Unterrichts in der tschechischen Sprache, da die Schulgesetzgebung die Einführung als vollberechtigtes Lehrfach abwehrt. Das Bedürfnis und die Not¬ wendigkeiten des praktischen Lebens erweisen sich auch hier stärker als die Parteischablone und die überspannte nationale Theorie. In wirtschaftlichen Dingen verstehn sich die Deutschen und die Tschechen ganz gut, denn der Gang der Geschäfte stockt nicht, wenn man sich auch in den Vcrtretungskörpern streitet und schlägt. Die Bauern verkaufen einander ihre Rinder auf dem Markte, die Arbeiter reichen sich in der Werkstatt das Werkzeug, die Fabri¬ kanten und die Kaufleute schließen ihre Kondore nicht wegen der nationalen und der Sprachstreitigkeiten. Nationale Bohkottversuche haben nirgends eine größere Bedeutung erlangt und unterscheiden sich in ihrer Tragweite nicht von andern aus eigennützigen Absichten und nicht ans nationalen Gründen erfolgten Grenzboten III 1903 90

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/721>, abgerufen am 29.11.2024.