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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Deutsche Rechtsaltertümer in unsrer heutigen deutschen Sprache

forscher bekannt. Nach der Wiedergabe der "Sache" (^ Rechtssache) durch
das lateinische viiusa (frz. ollnss, nat. vosu., echt. Kos-Y entstand nänilich zu¬
nächst ein davon abgeleitetes Verbum eausari (-- einen Rechtshändel führen,
gerichtlich verhandeln), daraus sodann das deutsche Lehnwort "kosen" (ahd.
Icüsöir), das anfänglich in derselben, später allmählich in der allgemeinern Be¬
deutung "ein Gespräch führen, sich unterhalten, plaudern" gebraucht wurde,
in der neuern Zeit aber schließlich wieder den engern, dem Rechtswegen jedoch
völlig fernliegenden Sinn "ein Liebesgespräch führen" oder überhaupt wohl
allgemein "freundlich plaudern," "schmeichlerisch, vertraulich (wie unter Liebenden)
reden" angenommen hat, nach dem Vorbilde von "liebkosen," mit dem es in
der Literatur zuweilen auch gleichbedeutend gebraucht worden ist.

In der ältern Zeit konnte ein eigentliches Gerichtsverfahren unter Um¬
ständen ganz wegfallen oder doch der Prozeß sehr beschleunigt werden, wenn
ein Verbrecher "auf handfester Tat" -- in it^iMti -- ergriffen wurde.
Wer eine solche Tat wahrnahm, mußte aber sofort einen lauten Ruf erheben,
der die Nachbarn ("Schreimannen") aufforderte, zur Hilfe oder zur Zeugenschaft
herbeizueilen, worauf der Missetäter, falls sein Verbrechen mit Friedlosigleit
belegt war (namentlich auch bei seiner Widersetzung gegen die Festnahme), auf
der Stelle getötet werdeu, sonst wenigstens sofort (ohne Ladung und förm¬
liche Klage) vor Gericht geführt werdeu durfte zum Zwecke summarischer Ab¬
urteilung des Falles. Die Erhebung jenes Rufes an die Gemeindegenossen
aber nannte man das "Gerüste" (ahd. KiruM, ahd. Gloss. ela-mon Acllruolti,
ahd. gxzrllcilts) oder "Gerüchte" -- ein juristischer Kunstausdruck, auf den höchst
wahrscheinlich unsre modernen Wörter "Gerücht" (-- "Ruf," in dem jemand
steht), "berüchtigt," "ruchbar," "anrüchig" (älter "anrüchtig"), ja
vielleicht auch noch die Redensart "in keinem guten Gerüche stehn" zuriick-
gchn. Die Gerüchtsinterjektionen, die uns allerdings erst durch spätere Quellen
überliefert sind, stammen zum Teil schon aus dein höchsten Altertum und hatten
meist die Bedeutung "Kommt heraus, kommt hierher," wie z. B. das nieder¬
deutsche tioclütk (-- ziehet heraus) und das hochdeutsche MtLr, Wwr (^ xislist
Kar), von dem wohl unser "Zeterschrei" herkommt, das wir heute auch bei
gerichtlich völlig belanglosen Vorgängen "erheben" können (vgl. auch "Zeter,"
"Zetterund Wetter," "Gezeter," "zetern," "zetternund wettern" u.a.in.). Einzelne
Ausrufe bezogen sich auch auf die besondre Veranlassung, wie ckibio, iriorclio
(vgl. das noch erhaltne "Zeter und Mvrdio, Zeter-Mordio") oder ivurüi
(als Ausruf zur Unterstützililg bei Feuersbrünsten, "Feuerlärm," noch in neuerer
Zeit vielfach gebräuchlich), während wieder andre Formen des Gerüsts Hilfe,
namentlich bewaffnete Hilfe begehrten, so die Rufe luit'lo, -wApsnio, das
romanische -ulunml (nat. g-rins, franz. Al>!U'in.s, d. h. zu den Waffen), die
Quelle unsers Fremdworts "Alarm" (Alarmruf, Lärm), und endlich das llculu-IIö
(Hcilallgeschrei), das manche anch in dem bekannten Weidmanusruf "Halali"
(bei Erlegung des gehetzten Wildes) haben wieder erkennen wollen.*)

Handelte es sich nicht um "handfeste Tat," so mußte der in seinem Rechte Ver¬
letzte immer ausdrücklich die "Klage erheben," d. h. eigentlich mit lauter Stimme,
mit Wehegeschrei das vorbringen, wodurch er sich gekränkt oder gestört fühlte.
Nur dann konnte ihn der Richter "rovktos llvlvvQ," während andernfalls nach
dem bekannten Motto: "Wo kein Kläger, da (ist janchj) kein Richter"
-- das hente auch schon mehr den Charakter eines allgemeinen Sprichworts an
sich trägt -- die Sache unverfolgt bleiben mußte. Eingeleitet wurde aber die



^) Dafür ist neuerdings bes. Ur. v. Freudorf (Lörrach) eingetreten (in der "Beilage
zur Allgemeinen Zeitung," Jahrg. 1901, Ur. 182, S. 6, 7 Sinn weitern Literaturangnbeuj)! gegen
diesen aber ausdrücklich wieder: Dr. M. S. Moharrem Bey, ebds., 1901, Ur. 2W, S. 7, 8,
nach dem das Wort arabischen Ursprungs sein soll. -- Für Ableitung aus dem Fran¬
zösischen ("da. I" In"y noch H. Paul, Deutsches Wörterbuch, Halle, 1897, S. 198.
Deutsche Rechtsaltertümer in unsrer heutigen deutschen Sprache

forscher bekannt. Nach der Wiedergabe der „Sache" (^ Rechtssache) durch
das lateinische viiusa (frz. ollnss, nat. vosu., echt. Kos-Y entstand nänilich zu¬
nächst ein davon abgeleitetes Verbum eausari (— einen Rechtshändel führen,
gerichtlich verhandeln), daraus sodann das deutsche Lehnwort „kosen" (ahd.
Icüsöir), das anfänglich in derselben, später allmählich in der allgemeinern Be¬
deutung „ein Gespräch führen, sich unterhalten, plaudern" gebraucht wurde,
in der neuern Zeit aber schließlich wieder den engern, dem Rechtswegen jedoch
völlig fernliegenden Sinn „ein Liebesgespräch führen" oder überhaupt wohl
allgemein „freundlich plaudern," „schmeichlerisch, vertraulich (wie unter Liebenden)
reden" angenommen hat, nach dem Vorbilde von „liebkosen," mit dem es in
der Literatur zuweilen auch gleichbedeutend gebraucht worden ist.

In der ältern Zeit konnte ein eigentliches Gerichtsverfahren unter Um¬
ständen ganz wegfallen oder doch der Prozeß sehr beschleunigt werden, wenn
ein Verbrecher „auf handfester Tat" — in it^iMti — ergriffen wurde.
Wer eine solche Tat wahrnahm, mußte aber sofort einen lauten Ruf erheben,
der die Nachbarn („Schreimannen") aufforderte, zur Hilfe oder zur Zeugenschaft
herbeizueilen, worauf der Missetäter, falls sein Verbrechen mit Friedlosigleit
belegt war (namentlich auch bei seiner Widersetzung gegen die Festnahme), auf
der Stelle getötet werdeu, sonst wenigstens sofort (ohne Ladung und förm¬
liche Klage) vor Gericht geführt werdeu durfte zum Zwecke summarischer Ab¬
urteilung des Falles. Die Erhebung jenes Rufes an die Gemeindegenossen
aber nannte man das „Gerüste" (ahd. KiruM, ahd. Gloss. ela-mon Acllruolti,
ahd. gxzrllcilts) oder „Gerüchte" — ein juristischer Kunstausdruck, auf den höchst
wahrscheinlich unsre modernen Wörter „Gerücht" (— „Ruf," in dem jemand
steht), „berüchtigt," „ruchbar," „anrüchig" (älter „anrüchtig"), ja
vielleicht auch noch die Redensart „in keinem guten Gerüche stehn" zuriick-
gchn. Die Gerüchtsinterjektionen, die uns allerdings erst durch spätere Quellen
überliefert sind, stammen zum Teil schon aus dein höchsten Altertum und hatten
meist die Bedeutung „Kommt heraus, kommt hierher," wie z. B. das nieder¬
deutsche tioclütk (— ziehet heraus) und das hochdeutsche MtLr, Wwr (^ xislist
Kar), von dem wohl unser „Zeterschrei" herkommt, das wir heute auch bei
gerichtlich völlig belanglosen Vorgängen „erheben" können (vgl. auch „Zeter,"
„Zetterund Wetter," „Gezeter," „zetern," „zetternund wettern" u.a.in.). Einzelne
Ausrufe bezogen sich auch auf die besondre Veranlassung, wie ckibio, iriorclio
(vgl. das noch erhaltne „Zeter und Mvrdio, Zeter-Mordio") oder ivurüi
(als Ausruf zur Unterstützililg bei Feuersbrünsten, „Feuerlärm," noch in neuerer
Zeit vielfach gebräuchlich), während wieder andre Formen des Gerüsts Hilfe,
namentlich bewaffnete Hilfe begehrten, so die Rufe luit'lo, -wApsnio, das
romanische -ulunml (nat. g-rins, franz. Al>!U'in.s, d. h. zu den Waffen), die
Quelle unsers Fremdworts „Alarm" (Alarmruf, Lärm), und endlich das llculu-IIö
(Hcilallgeschrei), das manche anch in dem bekannten Weidmanusruf „Halali"
(bei Erlegung des gehetzten Wildes) haben wieder erkennen wollen.*)

Handelte es sich nicht um „handfeste Tat," so mußte der in seinem Rechte Ver¬
letzte immer ausdrücklich die „Klage erheben," d. h. eigentlich mit lauter Stimme,
mit Wehegeschrei das vorbringen, wodurch er sich gekränkt oder gestört fühlte.
Nur dann konnte ihn der Richter „rovktos llvlvvQ," während andernfalls nach
dem bekannten Motto: „Wo kein Kläger, da (ist janchj) kein Richter"
— das hente auch schon mehr den Charakter eines allgemeinen Sprichworts an
sich trägt — die Sache unverfolgt bleiben mußte. Eingeleitet wurde aber die



^) Dafür ist neuerdings bes. Ur. v. Freudorf (Lörrach) eingetreten (in der „Beilage
zur Allgemeinen Zeitung," Jahrg. 1901, Ur. 182, S. 6, 7 Sinn weitern Literaturangnbeuj)! gegen
diesen aber ausdrücklich wieder: Dr. M. S. Moharrem Bey, ebds., 1901, Ur. 2W, S. 7, 8,
nach dem das Wort arabischen Ursprungs sein soll. — Für Ableitung aus dem Fran¬
zösischen („da. I» In»y noch H. Paul, Deutsches Wörterbuch, Halle, 1897, S. 198.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/688>, abgerufen am 26.11.2024.