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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Versicherungsschutz und Schutz gegen Versicherung

wird noch heute entschieden, und in der Tat verhilft einem das schauderhafte
Schachteldeutsch, worin ältere Bedingungen vielfach abgefaßt sind, bisweilen
zu der Annahme einer g-moiMiws, bei der die Auslegung zugunsten der
Billigkeit einsetzen kann. Dies hat aber an einem klaren Wortlaut seine un¬
verrückbare Grenze. Auch das Bürgerliche Gesetzbuch ist dabei stehn geblieben,
daß Vertrüge so auszulegen sind, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf
die Verkehrssitte es verlangen (Paragraph 157); eine Handhabe zur Beseitigung
unbilliger Vertragsbestimmungen bietet es nicht.

Demnach bleibt in der Tat nichts übrig, als hier mit einem scharfen
Schnitte einzugreifen und zwingendes Recht zu schaffen, das von den Ver¬
sicherern weder mit Hilfe der Allgemeinen Versicherungsbedingnngen noch sonst
umgangen werden kann. Hierin liegt die praktische Bedeutung des neuen
Gesetzentwurfs, der seine Vorschriften überall da mit zwingender Kraft aus¬
stattet, wo es zum Schutze besonders wichtiger Interessen der Versicherten
notwendig erscheint. Die Begründung spricht sich darüber mit einiger Zurück¬
haltung aus: "Die Bedingungen enthalten auch jetzt noch hin und wieder
Bestimmungen von übermäßiger Strenge. Diese Bestimmungen werden aller¬
dings seitens der Versicherungsunternehmer nicht immer nach dem Buchstaben
zur Anwendung gebracht. In manchen Fällen aber findet eine solche An¬
wendung doch statt, und sie trifft dann die Beteiligten mit unberechtigter Härte."
Hierzu ist zweierlei zu bemerken:

Erstens: Einem Berliner Richter wird das folgende Geschichtchen nach¬
erzählt, zu dessen Verständnis vorauszuschicken ist, daß in Berlin die Berufungen
und die Beschwerden aus allen 76 Prozeßabteilungen des Amtsgerichts, soweit
eine Versicherungsgesellschaft Partei ist, einer einzigen Zivilkammer, der sech¬
zehnten, zugewiesen sind. Dieser Richter wurde einst von einem Agenten zum
Abschluß irgend einer Versicherung gedrängt; als er ihn gar nicht los werden
konnte, erklärte er endlich: "Ich bin nämlich Mitglied der sechzehnten Zivil¬
kammer," worauf -- kein Wort mehr sagen, seinen Hut ergreifen und lautlos
verschwinden für den Agenten eins war. Es ist dies eine Nutzanwendung,
die sich unweigerlich jedem aufdrängt, der sich häufiger mit Versicherungssachen
zu beschäftigen Gelegenheit hat. Allerdings kaun man dagegen einwenden,
daß der Prozeßrichter nur den kleinen Teil der Schadenersatzansprüche kennen
lerne, der streitig werde, während die vielen Millionen sich seiner Kenntnis
entzögen, die freiwillig als Entschädigung gezahlt würden. Das ist richtig.
Andrerseits kann mau aber auch wieder sagen, daß streitig nur die Fälle
werden, in denen der Verstoß gegen die Bedingungen zweifelhaft ist, wo also
ein Prozeß einige Aussicht auf Erfolg verspricht; daß dagegen die Fülle, in
denen ein an sich begründeter Entschädignngsansprnch an eitlem klaren Form¬
verstoß gegen die Bedingungen scheitert, gleichfalls in aller Stille erledigt
werden, indem sich der Versicherte bei der Weigerung der Gesellschaft beruhigt.
Wie es sich damit wirklich verhält, kann dahingestellt bleiben; im allgemeinen
wird man sich dem Eindrucke nicht verschließen können, daß keine einzige Ver¬
sicherungsgesellschaft es verschmäht, sich bei Gelegenheit auch durch eine Hinter¬
tür ihrer Bedingungen vor einem unbequemen Entschädigungsanspruch zu retten.


Versicherungsschutz und Schutz gegen Versicherung

wird noch heute entschieden, und in der Tat verhilft einem das schauderhafte
Schachteldeutsch, worin ältere Bedingungen vielfach abgefaßt sind, bisweilen
zu der Annahme einer g-moiMiws, bei der die Auslegung zugunsten der
Billigkeit einsetzen kann. Dies hat aber an einem klaren Wortlaut seine un¬
verrückbare Grenze. Auch das Bürgerliche Gesetzbuch ist dabei stehn geblieben,
daß Vertrüge so auszulegen sind, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf
die Verkehrssitte es verlangen (Paragraph 157); eine Handhabe zur Beseitigung
unbilliger Vertragsbestimmungen bietet es nicht.

Demnach bleibt in der Tat nichts übrig, als hier mit einem scharfen
Schnitte einzugreifen und zwingendes Recht zu schaffen, das von den Ver¬
sicherern weder mit Hilfe der Allgemeinen Versicherungsbedingnngen noch sonst
umgangen werden kann. Hierin liegt die praktische Bedeutung des neuen
Gesetzentwurfs, der seine Vorschriften überall da mit zwingender Kraft aus¬
stattet, wo es zum Schutze besonders wichtiger Interessen der Versicherten
notwendig erscheint. Die Begründung spricht sich darüber mit einiger Zurück¬
haltung aus: „Die Bedingungen enthalten auch jetzt noch hin und wieder
Bestimmungen von übermäßiger Strenge. Diese Bestimmungen werden aller¬
dings seitens der Versicherungsunternehmer nicht immer nach dem Buchstaben
zur Anwendung gebracht. In manchen Fällen aber findet eine solche An¬
wendung doch statt, und sie trifft dann die Beteiligten mit unberechtigter Härte."
Hierzu ist zweierlei zu bemerken:

Erstens: Einem Berliner Richter wird das folgende Geschichtchen nach¬
erzählt, zu dessen Verständnis vorauszuschicken ist, daß in Berlin die Berufungen
und die Beschwerden aus allen 76 Prozeßabteilungen des Amtsgerichts, soweit
eine Versicherungsgesellschaft Partei ist, einer einzigen Zivilkammer, der sech¬
zehnten, zugewiesen sind. Dieser Richter wurde einst von einem Agenten zum
Abschluß irgend einer Versicherung gedrängt; als er ihn gar nicht los werden
konnte, erklärte er endlich: „Ich bin nämlich Mitglied der sechzehnten Zivil¬
kammer," worauf — kein Wort mehr sagen, seinen Hut ergreifen und lautlos
verschwinden für den Agenten eins war. Es ist dies eine Nutzanwendung,
die sich unweigerlich jedem aufdrängt, der sich häufiger mit Versicherungssachen
zu beschäftigen Gelegenheit hat. Allerdings kaun man dagegen einwenden,
daß der Prozeßrichter nur den kleinen Teil der Schadenersatzansprüche kennen
lerne, der streitig werde, während die vielen Millionen sich seiner Kenntnis
entzögen, die freiwillig als Entschädigung gezahlt würden. Das ist richtig.
Andrerseits kann mau aber auch wieder sagen, daß streitig nur die Fälle
werden, in denen der Verstoß gegen die Bedingungen zweifelhaft ist, wo also
ein Prozeß einige Aussicht auf Erfolg verspricht; daß dagegen die Fülle, in
denen ein an sich begründeter Entschädignngsansprnch an eitlem klaren Form¬
verstoß gegen die Bedingungen scheitert, gleichfalls in aller Stille erledigt
werden, indem sich der Versicherte bei der Weigerung der Gesellschaft beruhigt.
Wie es sich damit wirklich verhält, kann dahingestellt bleiben; im allgemeinen
wird man sich dem Eindrucke nicht verschließen können, daß keine einzige Ver¬
sicherungsgesellschaft es verschmäht, sich bei Gelegenheit auch durch eine Hinter¬
tür ihrer Bedingungen vor einem unbequemen Entschädigungsanspruch zu retten.


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[0674] Versicherungsschutz und Schutz gegen Versicherung wird noch heute entschieden, und in der Tat verhilft einem das schauderhafte Schachteldeutsch, worin ältere Bedingungen vielfach abgefaßt sind, bisweilen zu der Annahme einer g-moiMiws, bei der die Auslegung zugunsten der Billigkeit einsetzen kann. Dies hat aber an einem klaren Wortlaut seine un¬ verrückbare Grenze. Auch das Bürgerliche Gesetzbuch ist dabei stehn geblieben, daß Vertrüge so auszulegen sind, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es verlangen (Paragraph 157); eine Handhabe zur Beseitigung unbilliger Vertragsbestimmungen bietet es nicht. Demnach bleibt in der Tat nichts übrig, als hier mit einem scharfen Schnitte einzugreifen und zwingendes Recht zu schaffen, das von den Ver¬ sicherern weder mit Hilfe der Allgemeinen Versicherungsbedingnngen noch sonst umgangen werden kann. Hierin liegt die praktische Bedeutung des neuen Gesetzentwurfs, der seine Vorschriften überall da mit zwingender Kraft aus¬ stattet, wo es zum Schutze besonders wichtiger Interessen der Versicherten notwendig erscheint. Die Begründung spricht sich darüber mit einiger Zurück¬ haltung aus: „Die Bedingungen enthalten auch jetzt noch hin und wieder Bestimmungen von übermäßiger Strenge. Diese Bestimmungen werden aller¬ dings seitens der Versicherungsunternehmer nicht immer nach dem Buchstaben zur Anwendung gebracht. In manchen Fällen aber findet eine solche An¬ wendung doch statt, und sie trifft dann die Beteiligten mit unberechtigter Härte." Hierzu ist zweierlei zu bemerken: Erstens: Einem Berliner Richter wird das folgende Geschichtchen nach¬ erzählt, zu dessen Verständnis vorauszuschicken ist, daß in Berlin die Berufungen und die Beschwerden aus allen 76 Prozeßabteilungen des Amtsgerichts, soweit eine Versicherungsgesellschaft Partei ist, einer einzigen Zivilkammer, der sech¬ zehnten, zugewiesen sind. Dieser Richter wurde einst von einem Agenten zum Abschluß irgend einer Versicherung gedrängt; als er ihn gar nicht los werden konnte, erklärte er endlich: „Ich bin nämlich Mitglied der sechzehnten Zivil¬ kammer," worauf — kein Wort mehr sagen, seinen Hut ergreifen und lautlos verschwinden für den Agenten eins war. Es ist dies eine Nutzanwendung, die sich unweigerlich jedem aufdrängt, der sich häufiger mit Versicherungssachen zu beschäftigen Gelegenheit hat. Allerdings kaun man dagegen einwenden, daß der Prozeßrichter nur den kleinen Teil der Schadenersatzansprüche kennen lerne, der streitig werde, während die vielen Millionen sich seiner Kenntnis entzögen, die freiwillig als Entschädigung gezahlt würden. Das ist richtig. Andrerseits kann mau aber auch wieder sagen, daß streitig nur die Fälle werden, in denen der Verstoß gegen die Bedingungen zweifelhaft ist, wo also ein Prozeß einige Aussicht auf Erfolg verspricht; daß dagegen die Fülle, in denen ein an sich begründeter Entschädignngsansprnch an eitlem klaren Form¬ verstoß gegen die Bedingungen scheitert, gleichfalls in aller Stille erledigt werden, indem sich der Versicherte bei der Weigerung der Gesellschaft beruhigt. Wie es sich damit wirklich verhält, kann dahingestellt bleiben; im allgemeinen wird man sich dem Eindrucke nicht verschließen können, daß keine einzige Ver¬ sicherungsgesellschaft es verschmäht, sich bei Gelegenheit auch durch eine Hinter¬ tür ihrer Bedingungen vor einem unbequemen Entschädigungsanspruch zu retten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/674>, abgerufen am 22.11.2024.