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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Die Aomödie auf Uronlwrg

dergleichen gedacht. Verse zu schreiben ist für mich gleichbedeutend mit der Aus¬
übung der Rechenkunst: man muß Silbe zu Silbe addieren, bis man die Summa
der psclos hat, die der Vers braucht.

Welch tiefer Sinn darin liegt! fuhr Will halb für sich fort, ohne ans Jver
Krammes populäre Metrik zu achten. Der Ritter will die eine mit seinen Runen
fesseln, aber sie fallen in den Schoß der andern, und da ist sie gebunden: der
Poet ist selbst nicht Herr der Mächte, die er wnchrnft! -- Jungfer Christenee, singt
das Lied noch einmal, Ihr erfreut mich dadurch I

Und Christeuee sang alle Verse, uoch besser, inniger als vorher, und an jenem
Abend mußte Will zugestehn, daß Christeuee die Seele nicht fehle.




Will erwachte am nächsten Morgen ungewöhnlich früh.

Er hatte unruhig geschlafen, hatte von den Runen geträumt, die der Un¬
rechte" in den Schoß fielen -- die im Grunde doch die Rechte war -- und sie
mit der ganzen, unbegrenzten Macht der Poesie gefangen nahmen.

Bei ihm drinnen war es noch ganz dunkel -- alles war dicht verhängt --,
aber es mußte doch wohl Heller, lichter Tag sein, denn die kleine Kammer uebeunn
-- Christences Schlafstube, zu der die Tür halb aufgesprungen war -- durch¬
strömte ein schmaler, scharfer Streif goldnen Sonnenscheins, der durch eine Öffnung
zwischen deu Fensterläden fiel.

Will lag mit halbgeöffneten Augen da, ganz still, noch vom Hnlbschlnmmer
umfangen. Da aber wurde ihm ein Anblick, der ihn völlig wach machte.

Christenee stand mit halbentblößten Oberkörper da und kämmte ihr langes
blondes Haar. Er erkannte nur die Umrisse ihrer Gestalt im Dunkel, was aber
in den Sounenstreif hiueiugeriet, das flammte und schimmerte, als sei es das
Licht selbst.

Bald war es ihr Arm, der einen Augenblick in keckem, rhythmischem Bogen über
den Kopf erhoben, den nächsten gesenkt, gestreckt wurde, als werde er matt, willenlos;
bald war es die weich abfallende runde Schulter mit schwach blauenden Adern in
lebendem Marmor, und zuletzt -- sie machte eine Bewegung, die Leinwand glitt
herab -- zuletzt war es ihr junger Busen selbst, der deu Kuß der Sonne auffing,
weiß wie die schwellende Brust eines Schwans, weißer als alles, was es gab.
Aber war es ein Tropfen Blut, der das gewölbte Heiligtum der linken Brust
färbte? -- Nein, ein Muttermal war es, ein kleiner, runder Purpurfleck, röter,
viel röter als Blut, das auf frischgefnllnen Schnee getropft ist.

Will wagte kaum zu atmen, aus Furcht, deu Anblick zu verscherzen, plötzlich
aber war es, als ahne sie, daß Augen auf ihr ruhten: sie glitt hinter die Tür,
spähte zu ihm hinein und beruhigte sich dann, als sie ihn liegen sah, als schlafe er;
aber die Tür zog sie doch leise zu und schloß sie zwischen ihnen.

Es war wie Musik in der Kammer um Will, wie himmlische Geigen und
Flöten.

Jetzt hatte Christeuee in seinen Augen beides, Seele und Leib.

Eigentümlich glücklich, fast feierlich fühlte er sich den ganzen Morgen, als
habe er eine Offenbarung empfangen, eine Schönheitsoffenbarung; er hatte gesehen,
was kein Mann vor ihm geschaut hatte, er hatte ein Geheimnis, dessen Süße darin
bestand, daß er es mit niemand teilte.




Im Laufe des Tages kam Bull; er hatte etwas, was er Will durchaus an¬
vertrauen mußte. Die Witwe Clayton, bei der er wohnte, hatte eine Tochter
Elisabeth, die für sich in der Stadt lebte, und für die war er schon das erstemal,
"is er hier in der Stadt gewesen war, in heftiger Liebe entbrannt; sie sollte, sie
mußte die Seine werden, und sie hatte ihm auch früher gesagt und mit heiligem


Die Aomödie auf Uronlwrg

dergleichen gedacht. Verse zu schreiben ist für mich gleichbedeutend mit der Aus¬
übung der Rechenkunst: man muß Silbe zu Silbe addieren, bis man die Summa
der psclos hat, die der Vers braucht.

Welch tiefer Sinn darin liegt! fuhr Will halb für sich fort, ohne ans Jver
Krammes populäre Metrik zu achten. Der Ritter will die eine mit seinen Runen
fesseln, aber sie fallen in den Schoß der andern, und da ist sie gebunden: der
Poet ist selbst nicht Herr der Mächte, die er wnchrnft! — Jungfer Christenee, singt
das Lied noch einmal, Ihr erfreut mich dadurch I

Und Christeuee sang alle Verse, uoch besser, inniger als vorher, und an jenem
Abend mußte Will zugestehn, daß Christeuee die Seele nicht fehle.




Will erwachte am nächsten Morgen ungewöhnlich früh.

Er hatte unruhig geschlafen, hatte von den Runen geträumt, die der Un¬
rechte» in den Schoß fielen — die im Grunde doch die Rechte war — und sie
mit der ganzen, unbegrenzten Macht der Poesie gefangen nahmen.

Bei ihm drinnen war es noch ganz dunkel — alles war dicht verhängt —,
aber es mußte doch wohl Heller, lichter Tag sein, denn die kleine Kammer uebeunn
— Christences Schlafstube, zu der die Tür halb aufgesprungen war — durch¬
strömte ein schmaler, scharfer Streif goldnen Sonnenscheins, der durch eine Öffnung
zwischen deu Fensterläden fiel.

Will lag mit halbgeöffneten Augen da, ganz still, noch vom Hnlbschlnmmer
umfangen. Da aber wurde ihm ein Anblick, der ihn völlig wach machte.

Christenee stand mit halbentblößten Oberkörper da und kämmte ihr langes
blondes Haar. Er erkannte nur die Umrisse ihrer Gestalt im Dunkel, was aber
in den Sounenstreif hiueiugeriet, das flammte und schimmerte, als sei es das
Licht selbst.

Bald war es ihr Arm, der einen Augenblick in keckem, rhythmischem Bogen über
den Kopf erhoben, den nächsten gesenkt, gestreckt wurde, als werde er matt, willenlos;
bald war es die weich abfallende runde Schulter mit schwach blauenden Adern in
lebendem Marmor, und zuletzt — sie machte eine Bewegung, die Leinwand glitt
herab — zuletzt war es ihr junger Busen selbst, der deu Kuß der Sonne auffing,
weiß wie die schwellende Brust eines Schwans, weißer als alles, was es gab.
Aber war es ein Tropfen Blut, der das gewölbte Heiligtum der linken Brust
färbte? — Nein, ein Muttermal war es, ein kleiner, runder Purpurfleck, röter,
viel röter als Blut, das auf frischgefnllnen Schnee getropft ist.

Will wagte kaum zu atmen, aus Furcht, deu Anblick zu verscherzen, plötzlich
aber war es, als ahne sie, daß Augen auf ihr ruhten: sie glitt hinter die Tür,
spähte zu ihm hinein und beruhigte sich dann, als sie ihn liegen sah, als schlafe er;
aber die Tür zog sie doch leise zu und schloß sie zwischen ihnen.

Es war wie Musik in der Kammer um Will, wie himmlische Geigen und
Flöten.

Jetzt hatte Christeuee in seinen Augen beides, Seele und Leib.

Eigentümlich glücklich, fast feierlich fühlte er sich den ganzen Morgen, als
habe er eine Offenbarung empfangen, eine Schönheitsoffenbarung; er hatte gesehen,
was kein Mann vor ihm geschaut hatte, er hatte ein Geheimnis, dessen Süße darin
bestand, daß er es mit niemand teilte.




Im Laufe des Tages kam Bull; er hatte etwas, was er Will durchaus an¬
vertrauen mußte. Die Witwe Clayton, bei der er wohnte, hatte eine Tochter
Elisabeth, die für sich in der Stadt lebte, und für die war er schon das erstemal,
»is er hier in der Stadt gewesen war, in heftiger Liebe entbrannt; sie sollte, sie
mußte die Seine werden, und sie hatte ihm auch früher gesagt und mit heiligem


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[0635] Die Aomödie auf Uronlwrg dergleichen gedacht. Verse zu schreiben ist für mich gleichbedeutend mit der Aus¬ übung der Rechenkunst: man muß Silbe zu Silbe addieren, bis man die Summa der psclos hat, die der Vers braucht. Welch tiefer Sinn darin liegt! fuhr Will halb für sich fort, ohne ans Jver Krammes populäre Metrik zu achten. Der Ritter will die eine mit seinen Runen fesseln, aber sie fallen in den Schoß der andern, und da ist sie gebunden: der Poet ist selbst nicht Herr der Mächte, die er wnchrnft! — Jungfer Christenee, singt das Lied noch einmal, Ihr erfreut mich dadurch I Und Christeuee sang alle Verse, uoch besser, inniger als vorher, und an jenem Abend mußte Will zugestehn, daß Christeuee die Seele nicht fehle. Will erwachte am nächsten Morgen ungewöhnlich früh. Er hatte unruhig geschlafen, hatte von den Runen geträumt, die der Un¬ rechte» in den Schoß fielen — die im Grunde doch die Rechte war — und sie mit der ganzen, unbegrenzten Macht der Poesie gefangen nahmen. Bei ihm drinnen war es noch ganz dunkel — alles war dicht verhängt —, aber es mußte doch wohl Heller, lichter Tag sein, denn die kleine Kammer uebeunn — Christences Schlafstube, zu der die Tür halb aufgesprungen war — durch¬ strömte ein schmaler, scharfer Streif goldnen Sonnenscheins, der durch eine Öffnung zwischen deu Fensterläden fiel. Will lag mit halbgeöffneten Augen da, ganz still, noch vom Hnlbschlnmmer umfangen. Da aber wurde ihm ein Anblick, der ihn völlig wach machte. Christenee stand mit halbentblößten Oberkörper da und kämmte ihr langes blondes Haar. Er erkannte nur die Umrisse ihrer Gestalt im Dunkel, was aber in den Sounenstreif hiueiugeriet, das flammte und schimmerte, als sei es das Licht selbst. Bald war es ihr Arm, der einen Augenblick in keckem, rhythmischem Bogen über den Kopf erhoben, den nächsten gesenkt, gestreckt wurde, als werde er matt, willenlos; bald war es die weich abfallende runde Schulter mit schwach blauenden Adern in lebendem Marmor, und zuletzt — sie machte eine Bewegung, die Leinwand glitt herab — zuletzt war es ihr junger Busen selbst, der deu Kuß der Sonne auffing, weiß wie die schwellende Brust eines Schwans, weißer als alles, was es gab. Aber war es ein Tropfen Blut, der das gewölbte Heiligtum der linken Brust färbte? — Nein, ein Muttermal war es, ein kleiner, runder Purpurfleck, röter, viel röter als Blut, das auf frischgefnllnen Schnee getropft ist. Will wagte kaum zu atmen, aus Furcht, deu Anblick zu verscherzen, plötzlich aber war es, als ahne sie, daß Augen auf ihr ruhten: sie glitt hinter die Tür, spähte zu ihm hinein und beruhigte sich dann, als sie ihn liegen sah, als schlafe er; aber die Tür zog sie doch leise zu und schloß sie zwischen ihnen. Es war wie Musik in der Kammer um Will, wie himmlische Geigen und Flöten. Jetzt hatte Christeuee in seinen Augen beides, Seele und Leib. Eigentümlich glücklich, fast feierlich fühlte er sich den ganzen Morgen, als habe er eine Offenbarung empfangen, eine Schönheitsoffenbarung; er hatte gesehen, was kein Mann vor ihm geschaut hatte, er hatte ein Geheimnis, dessen Süße darin bestand, daß er es mit niemand teilte. Im Laufe des Tages kam Bull; er hatte etwas, was er Will durchaus an¬ vertrauen mußte. Die Witwe Clayton, bei der er wohnte, hatte eine Tochter Elisabeth, die für sich in der Stadt lebte, und für die war er schon das erstemal, »is er hier in der Stadt gewesen war, in heftiger Liebe entbrannt; sie sollte, sie mußte die Seine werden, und sie hatte ihm auch früher gesagt und mit heiligem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/635>, abgerufen am 26.11.2024.