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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Lügen Mouton

er als ein Schlaraffenland, wo man damals spottbillig lebte und von Gast¬
wirten wie von Quartierwirtinnen mit Delikatessen gestopft wurde. Soll man
es charakteristisch finden, daß die frommen Vendeer unter andern wunderlichen
Heiligen auch eine Menschenfresserin verehren? Die Frau Beatrix von Fvnte-
nelles ließ sich täglich ein kleines Kind braten. Nachdem sie die meisten Kinder
der Umgegend verzehrt hatte, flohen die Mütter der noch übrigen mit ihren
Lieblingen in die Wälder, und der Verwalter mußte eines Tags der Schlo߬
herrin melden, es gebe keinen Kiuderbraten mehr. Was? rief diese, du hast
jn selbst ein Kind! Sofort läßt du das zubereiten! Die Frau des Verwalters
aber schlachtete statt ihres Söhnchens einen Hund. Die Gnädige war sehr
ungnädig ob des Betrugs: statt des Kindes hast du einen armen Hund ge¬
schlachtet! O, rief ihr zu Füßen fallend der Verwalter, was hat ein Hunde-
nwrd gegen einen Kindermord zu bedeuten! Da gingen der oxrssso die Augen
auf. Sie erkannte ihr Verbrechen, tat Buße und fuhr im nächsten Kloster
stracks gen Himmel. Zu ihrem Grabe aber wallfahrten die Mütter kranker
Kinder nud erlangen von ihr die Heilung. Diese verrückte Geschichte hat
Mouton in einer Ballade besungen, die mit Bewilligung und zur großen Freude
des Dichters für die Bänkelsänger gedruckt worden ist. Auch ein wirklich sehr
hübsches Hochzeitsgedicht hat er gemacht und die Bauernhochzeit, für die es
bestimmt war, mit seiner Gegenwart verherrlicht. In Jonsac hat er mit Arbeitern
Kirchenkonzerte veranstaltet -- er hatte einen sehr schönen Bariton und war
ein leidenschaftlicher Sänger --, am Jnnuugsball der Maurer teilgenommen
und sich mit einem Punsch revanchiert, den er ihnen gab. Dabei sang einer
der jungen Männer mit prachtvoller Stimme und unglaublicher Leidenschaft ein
revolutionäres Lied; etwas so ergreifendes, versichert der Staatsanwalt, habe er
or Leben nicht mehr gehört; das schönste aber sei gewesen, daß der Sänger
und die ganze harmlose Gesellschaft von dem gefährlichen Charakter des Liedes
keine Ahnung gehabt hätten. Eine merkwürdige Wahrnehmung macht er in
Fontenay, das ebenfalls in der Vendee liegt. Verbreche" kämen dn wenig vor,
und das sei dem tief religiösen Sinne der Bevölkerung zu verdanken. Ver¬
hältnismäßig häufig sei jedoch -- außer Sittlichkeitsvergehen von jungen Leuten --
der Kindermord, und daran sei nun gerade die Religion schuld. In ungläubigen
Gegenden werde eine uneheliche Geburt leicht genommen, in religiösen aber
gelte sie als ein Fluch und treibe die Schuldige zur Verzweiflung: "Der Kinder-
mord ist ein Verbrechen anständiger Personen." In den katholischen Alpen-
lnndern, wenigstens in dem bayrischen und in dem österreichischen Teile, scheint
die Religiosität diese Wirkung nicht zu üben. In der letzten Zeit seiner Amts¬
führung beschäftigten Mouton sehr lebhaft pädagogische Fragen, besonders neue
Unterrichtsmethoden. Er wurde darauf geführt durch die Sorge für seineu
Sohn (er war glücklich verheiratet) und durch den Umstand, daß infolge von
Unordnungen dem Staatsanwalt der Vorsitz im Kuratorium der Taubstummen¬
anstalt übertragen worden war. Zuletzt gründete er noch eine Volksbiblivthek,
dle er in folgender Weise organisierte. Es wurden vierundvierzig verschließbare
und leicht tragbare Kästchen angefertigt, in jedes zwanzig Bücher und ein Ver¬
zeichnis gelegt und durch die Gemeindcdiener vierundvierzig Gemeinden zugeschickt.


Grenzboten M 1903 77
Lügen Mouton

er als ein Schlaraffenland, wo man damals spottbillig lebte und von Gast¬
wirten wie von Quartierwirtinnen mit Delikatessen gestopft wurde. Soll man
es charakteristisch finden, daß die frommen Vendeer unter andern wunderlichen
Heiligen auch eine Menschenfresserin verehren? Die Frau Beatrix von Fvnte-
nelles ließ sich täglich ein kleines Kind braten. Nachdem sie die meisten Kinder
der Umgegend verzehrt hatte, flohen die Mütter der noch übrigen mit ihren
Lieblingen in die Wälder, und der Verwalter mußte eines Tags der Schlo߬
herrin melden, es gebe keinen Kiuderbraten mehr. Was? rief diese, du hast
jn selbst ein Kind! Sofort läßt du das zubereiten! Die Frau des Verwalters
aber schlachtete statt ihres Söhnchens einen Hund. Die Gnädige war sehr
ungnädig ob des Betrugs: statt des Kindes hast du einen armen Hund ge¬
schlachtet! O, rief ihr zu Füßen fallend der Verwalter, was hat ein Hunde-
nwrd gegen einen Kindermord zu bedeuten! Da gingen der oxrssso die Augen
auf. Sie erkannte ihr Verbrechen, tat Buße und fuhr im nächsten Kloster
stracks gen Himmel. Zu ihrem Grabe aber wallfahrten die Mütter kranker
Kinder nud erlangen von ihr die Heilung. Diese verrückte Geschichte hat
Mouton in einer Ballade besungen, die mit Bewilligung und zur großen Freude
des Dichters für die Bänkelsänger gedruckt worden ist. Auch ein wirklich sehr
hübsches Hochzeitsgedicht hat er gemacht und die Bauernhochzeit, für die es
bestimmt war, mit seiner Gegenwart verherrlicht. In Jonsac hat er mit Arbeitern
Kirchenkonzerte veranstaltet — er hatte einen sehr schönen Bariton und war
ein leidenschaftlicher Sänger —, am Jnnuugsball der Maurer teilgenommen
und sich mit einem Punsch revanchiert, den er ihnen gab. Dabei sang einer
der jungen Männer mit prachtvoller Stimme und unglaublicher Leidenschaft ein
revolutionäres Lied; etwas so ergreifendes, versichert der Staatsanwalt, habe er
or Leben nicht mehr gehört; das schönste aber sei gewesen, daß der Sänger
und die ganze harmlose Gesellschaft von dem gefährlichen Charakter des Liedes
keine Ahnung gehabt hätten. Eine merkwürdige Wahrnehmung macht er in
Fontenay, das ebenfalls in der Vendee liegt. Verbreche» kämen dn wenig vor,
und das sei dem tief religiösen Sinne der Bevölkerung zu verdanken. Ver¬
hältnismäßig häufig sei jedoch — außer Sittlichkeitsvergehen von jungen Leuten —
der Kindermord, und daran sei nun gerade die Religion schuld. In ungläubigen
Gegenden werde eine uneheliche Geburt leicht genommen, in religiösen aber
gelte sie als ein Fluch und treibe die Schuldige zur Verzweiflung: „Der Kinder-
mord ist ein Verbrechen anständiger Personen." In den katholischen Alpen-
lnndern, wenigstens in dem bayrischen und in dem österreichischen Teile, scheint
die Religiosität diese Wirkung nicht zu üben. In der letzten Zeit seiner Amts¬
führung beschäftigten Mouton sehr lebhaft pädagogische Fragen, besonders neue
Unterrichtsmethoden. Er wurde darauf geführt durch die Sorge für seineu
Sohn (er war glücklich verheiratet) und durch den Umstand, daß infolge von
Unordnungen dem Staatsanwalt der Vorsitz im Kuratorium der Taubstummen¬
anstalt übertragen worden war. Zuletzt gründete er noch eine Volksbiblivthek,
dle er in folgender Weise organisierte. Es wurden vierundvierzig verschließbare
und leicht tragbare Kästchen angefertigt, in jedes zwanzig Bücher und ein Ver¬
zeichnis gelegt und durch die Gemeindcdiener vierundvierzig Gemeinden zugeschickt.


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[0617] Lügen Mouton er als ein Schlaraffenland, wo man damals spottbillig lebte und von Gast¬ wirten wie von Quartierwirtinnen mit Delikatessen gestopft wurde. Soll man es charakteristisch finden, daß die frommen Vendeer unter andern wunderlichen Heiligen auch eine Menschenfresserin verehren? Die Frau Beatrix von Fvnte- nelles ließ sich täglich ein kleines Kind braten. Nachdem sie die meisten Kinder der Umgegend verzehrt hatte, flohen die Mütter der noch übrigen mit ihren Lieblingen in die Wälder, und der Verwalter mußte eines Tags der Schlo߬ herrin melden, es gebe keinen Kiuderbraten mehr. Was? rief diese, du hast jn selbst ein Kind! Sofort läßt du das zubereiten! Die Frau des Verwalters aber schlachtete statt ihres Söhnchens einen Hund. Die Gnädige war sehr ungnädig ob des Betrugs: statt des Kindes hast du einen armen Hund ge¬ schlachtet! O, rief ihr zu Füßen fallend der Verwalter, was hat ein Hunde- nwrd gegen einen Kindermord zu bedeuten! Da gingen der oxrssso die Augen auf. Sie erkannte ihr Verbrechen, tat Buße und fuhr im nächsten Kloster stracks gen Himmel. Zu ihrem Grabe aber wallfahrten die Mütter kranker Kinder nud erlangen von ihr die Heilung. Diese verrückte Geschichte hat Mouton in einer Ballade besungen, die mit Bewilligung und zur großen Freude des Dichters für die Bänkelsänger gedruckt worden ist. Auch ein wirklich sehr hübsches Hochzeitsgedicht hat er gemacht und die Bauernhochzeit, für die es bestimmt war, mit seiner Gegenwart verherrlicht. In Jonsac hat er mit Arbeitern Kirchenkonzerte veranstaltet — er hatte einen sehr schönen Bariton und war ein leidenschaftlicher Sänger —, am Jnnuugsball der Maurer teilgenommen und sich mit einem Punsch revanchiert, den er ihnen gab. Dabei sang einer der jungen Männer mit prachtvoller Stimme und unglaublicher Leidenschaft ein revolutionäres Lied; etwas so ergreifendes, versichert der Staatsanwalt, habe er or Leben nicht mehr gehört; das schönste aber sei gewesen, daß der Sänger und die ganze harmlose Gesellschaft von dem gefährlichen Charakter des Liedes keine Ahnung gehabt hätten. Eine merkwürdige Wahrnehmung macht er in Fontenay, das ebenfalls in der Vendee liegt. Verbreche» kämen dn wenig vor, und das sei dem tief religiösen Sinne der Bevölkerung zu verdanken. Ver¬ hältnismäßig häufig sei jedoch — außer Sittlichkeitsvergehen von jungen Leuten — der Kindermord, und daran sei nun gerade die Religion schuld. In ungläubigen Gegenden werde eine uneheliche Geburt leicht genommen, in religiösen aber gelte sie als ein Fluch und treibe die Schuldige zur Verzweiflung: „Der Kinder- mord ist ein Verbrechen anständiger Personen." In den katholischen Alpen- lnndern, wenigstens in dem bayrischen und in dem österreichischen Teile, scheint die Religiosität diese Wirkung nicht zu üben. In der letzten Zeit seiner Amts¬ führung beschäftigten Mouton sehr lebhaft pädagogische Fragen, besonders neue Unterrichtsmethoden. Er wurde darauf geführt durch die Sorge für seineu Sohn (er war glücklich verheiratet) und durch den Umstand, daß infolge von Unordnungen dem Staatsanwalt der Vorsitz im Kuratorium der Taubstummen¬ anstalt übertragen worden war. Zuletzt gründete er noch eine Volksbiblivthek, dle er in folgender Weise organisierte. Es wurden vierundvierzig verschließbare und leicht tragbare Kästchen angefertigt, in jedes zwanzig Bücher und ein Ver¬ zeichnis gelegt und durch die Gemeindcdiener vierundvierzig Gemeinden zugeschickt. Grenzboten M 1903 77

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/617>, abgerufen am 23.11.2024.