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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Maßgebliches und Unmaßgebliches
Der Sieg der Sozialdemokratie in Sachsen.

Mit fliegenden Fahnen
ist der weitüberwiegende Teil der Reichstagswähler des Königreichs Sachsen in
das Lager der Sozialdemokratie übergegangen. Von den 23 Reichstagssitzen des
Landes hat sie in der Hanptwnhl am 16. Juni schon 18, in der Stichwahl noch
4 erobert, also im ganzen 22, statt der bisherigen 12; nur der überwiegend länd¬
liche und wendische Wahlkreis Bautzen ist von den "staatserhaltenden," den "bürger¬
lichen" Parteien behauptet worden, sonst sind diese überall völlig zusammengebrochen.
Wäre die Entscheidung auch sonst im Reiche ähnlich ausgefallen, wäre die Zahl
der sozialdemokratischen Stimmen und Sitze überall in demselben ungeheuerlichen
Verhältnis gewachsen, wie in Sachsen, wo sie sich seit der letzten Neichstagswahl
sast verdoppelt hat, so würde heute die Neichsregierung einem so gut wie völlig
sozialdemokratischen Reichstage gegenüberstehn, worin nur noch ein paar schwache
"bürgerliche" Fraktionen vorhanden wären, und mit dem sie überhaupt nicht arbeiten
könnte. Da liegt die Vermutung nahe, daß in Sachsen neben dem allgemeinen
Anwachsen der städtisch-industriellen Bevölkerung, das doch hier keineswegs schwerer
als anderwärts in die Wagschnle fällt, und neben der Gedankenarmut der "bürger¬
lichen" Parteien noch besondre Umstände mitgewirkt haben, eine weitverbreitete
Unzufriedenheit und Verstimmung zu erregen, wie sie jetzt in dieser bisher un¬
erhörten, nahezu vollständigen Eroberung eiues Mittelstaats durch die Sozialdemo¬
kratie zum Ausdruck gekommen ist.

Über diese Gründe ist man in Sachsen selbst gar nicht im Zweifel; nur die
landesübliche Leisetreterei, auch der liberalen Blätter, die zwar an preußischen Ver¬
hältnissen eine fortlaufende scharfe und oft ungerechte Kritik üben, aber sehr empfind¬
lich werden, wenn eine preußische Zeitung an Sachsen etwas auszusetzen hat, hütet
sich, das offen auszusprechen. Das erste ist das unglückliche Wahlgesetz von 1896,
das die Arbeiterschaft vom sächsischen Landtage tatsächlich ausgeschlossen hat, das
gemeinsame Angstprodukt der konservativen und der liberalen Partei, dessen auf¬
reizende, erbitternde Wirkung sich natürlich erst allmählich fühlbar gemacht hat und
deshalb bei der Reichstagswahl von 1898 noch nicht so stark hervorgetreten ist.
Daraus ist in der zweiten Kaminer eine konservativ-agrarische Zweidrittelmehrheit
erwachsen, die den Landtag völlig beherrscht, die Liberalen zur Ohnmacht verdammt,
jedes ihr genehme Gesetz durchbringen, jedes ihr unangenehme verhindern kann, und
das in einem Lande, das kaum noch rein ackerbauende Bezirke hat, im deutschen
Belgien! Zu welchen Ergebnissen diese konservative Parteiherrschaft und Partei¬
wirtschaft führen, das zeigen der mißliche Zustand der früher so blühenden sächsischen
Finanzen, der Steuerzuschlag von 25 Prozent, eine Etsenbahnpolitik, die jedes
Kirchturininteresse sorgfältig berücksichtigte, falls das ähnliche eines andern Wahl¬
kreises auch befriedigt wurde, und den Zinsenertrag von Jahr zu Jahr herabdrückte,
übertrieben kostspielige und teilweise ganz überflüssige Staatsbauten und dergleichen
mehr. Die von, Landtag einmütig, ohne jeden Widerspruch bewilligte Erhöhung
der Zivilliste mag sachlich an sich gerechtfertigt gewesen sein, aber sie hat, was man
an maßgebender Stelle noch immer nicht einzusehen scheint, furchtbar böses Blut
gemacht, weil sie mit der ersten Erhebung des Steuerzuschlngs und mit der un¬
würdigen Beschneidung des dringend notwendigen, längst versprochnen Wohnungs¬
geldes für die Beamten zusammenfiel. Daß auch die geradezu unerhörten Versuche,
größere Steuererträge herauszupressen, hier mitgewirkt haben, liegt auf der Hand.

Aber auch das sächsische liberale Bürgertum hat eine schwere materielle und
moralische Schlappe in dem Leipziger Bankkrach vom Juni 1901 erlitten, der Tausende
und Abertausende aufs tiefste schädigte, mehrere Selbstmorde veranlaßte, vor allem
die Fahrlässigkeit und den Leichtsinn der Leiter des Unternehmens, also einer Reihe
von angesehenen Männern des höhern Leipziger Bürgerstandes, beschämend blo߬
stellte und nach der einfachen Empfindung des schlichten Mannes durch das juristisch
natürlich unanfechtbare gerichtliche Urteil mir eine höchst ungenügende Sühne fand,
etwa nach dem alten Sprichwort: "Die kleinen Diebe hängt man, die großen


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Maßgebliches und Unmaßgebliches
Der Sieg der Sozialdemokratie in Sachsen.

Mit fliegenden Fahnen
ist der weitüberwiegende Teil der Reichstagswähler des Königreichs Sachsen in
das Lager der Sozialdemokratie übergegangen. Von den 23 Reichstagssitzen des
Landes hat sie in der Hanptwnhl am 16. Juni schon 18, in der Stichwahl noch
4 erobert, also im ganzen 22, statt der bisherigen 12; nur der überwiegend länd¬
liche und wendische Wahlkreis Bautzen ist von den „staatserhaltenden," den „bürger¬
lichen" Parteien behauptet worden, sonst sind diese überall völlig zusammengebrochen.
Wäre die Entscheidung auch sonst im Reiche ähnlich ausgefallen, wäre die Zahl
der sozialdemokratischen Stimmen und Sitze überall in demselben ungeheuerlichen
Verhältnis gewachsen, wie in Sachsen, wo sie sich seit der letzten Neichstagswahl
sast verdoppelt hat, so würde heute die Neichsregierung einem so gut wie völlig
sozialdemokratischen Reichstage gegenüberstehn, worin nur noch ein paar schwache
„bürgerliche" Fraktionen vorhanden wären, und mit dem sie überhaupt nicht arbeiten
könnte. Da liegt die Vermutung nahe, daß in Sachsen neben dem allgemeinen
Anwachsen der städtisch-industriellen Bevölkerung, das doch hier keineswegs schwerer
als anderwärts in die Wagschnle fällt, und neben der Gedankenarmut der „bürger¬
lichen" Parteien noch besondre Umstände mitgewirkt haben, eine weitverbreitete
Unzufriedenheit und Verstimmung zu erregen, wie sie jetzt in dieser bisher un¬
erhörten, nahezu vollständigen Eroberung eiues Mittelstaats durch die Sozialdemo¬
kratie zum Ausdruck gekommen ist.

Über diese Gründe ist man in Sachsen selbst gar nicht im Zweifel; nur die
landesübliche Leisetreterei, auch der liberalen Blätter, die zwar an preußischen Ver¬
hältnissen eine fortlaufende scharfe und oft ungerechte Kritik üben, aber sehr empfind¬
lich werden, wenn eine preußische Zeitung an Sachsen etwas auszusetzen hat, hütet
sich, das offen auszusprechen. Das erste ist das unglückliche Wahlgesetz von 1896,
das die Arbeiterschaft vom sächsischen Landtage tatsächlich ausgeschlossen hat, das
gemeinsame Angstprodukt der konservativen und der liberalen Partei, dessen auf¬
reizende, erbitternde Wirkung sich natürlich erst allmählich fühlbar gemacht hat und
deshalb bei der Reichstagswahl von 1898 noch nicht so stark hervorgetreten ist.
Daraus ist in der zweiten Kaminer eine konservativ-agrarische Zweidrittelmehrheit
erwachsen, die den Landtag völlig beherrscht, die Liberalen zur Ohnmacht verdammt,
jedes ihr genehme Gesetz durchbringen, jedes ihr unangenehme verhindern kann, und
das in einem Lande, das kaum noch rein ackerbauende Bezirke hat, im deutschen
Belgien! Zu welchen Ergebnissen diese konservative Parteiherrschaft und Partei¬
wirtschaft führen, das zeigen der mißliche Zustand der früher so blühenden sächsischen
Finanzen, der Steuerzuschlag von 25 Prozent, eine Etsenbahnpolitik, die jedes
Kirchturininteresse sorgfältig berücksichtigte, falls das ähnliche eines andern Wahl¬
kreises auch befriedigt wurde, und den Zinsenertrag von Jahr zu Jahr herabdrückte,
übertrieben kostspielige und teilweise ganz überflüssige Staatsbauten und dergleichen
mehr. Die von, Landtag einmütig, ohne jeden Widerspruch bewilligte Erhöhung
der Zivilliste mag sachlich an sich gerechtfertigt gewesen sein, aber sie hat, was man
an maßgebender Stelle noch immer nicht einzusehen scheint, furchtbar böses Blut
gemacht, weil sie mit der ersten Erhebung des Steuerzuschlngs und mit der un¬
würdigen Beschneidung des dringend notwendigen, längst versprochnen Wohnungs¬
geldes für die Beamten zusammenfiel. Daß auch die geradezu unerhörten Versuche,
größere Steuererträge herauszupressen, hier mitgewirkt haben, liegt auf der Hand.

Aber auch das sächsische liberale Bürgertum hat eine schwere materielle und
moralische Schlappe in dem Leipziger Bankkrach vom Juni 1901 erlitten, der Tausende
und Abertausende aufs tiefste schädigte, mehrere Selbstmorde veranlaßte, vor allem
die Fahrlässigkeit und den Leichtsinn der Leiter des Unternehmens, also einer Reihe
von angesehenen Männern des höhern Leipziger Bürgerstandes, beschämend blo߬
stellte und nach der einfachen Empfindung des schlichten Mannes durch das juristisch
natürlich unanfechtbare gerichtliche Urteil mir eine höchst ungenügende Sühne fand,
etwa nach dem alten Sprichwort: „Die kleinen Diebe hängt man, die großen


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[0060] Maßgebliches und Unmaßgebliches Maßgebliches und Unmaßgebliches Der Sieg der Sozialdemokratie in Sachsen. Mit fliegenden Fahnen ist der weitüberwiegende Teil der Reichstagswähler des Königreichs Sachsen in das Lager der Sozialdemokratie übergegangen. Von den 23 Reichstagssitzen des Landes hat sie in der Hanptwnhl am 16. Juni schon 18, in der Stichwahl noch 4 erobert, also im ganzen 22, statt der bisherigen 12; nur der überwiegend länd¬ liche und wendische Wahlkreis Bautzen ist von den „staatserhaltenden," den „bürger¬ lichen" Parteien behauptet worden, sonst sind diese überall völlig zusammengebrochen. Wäre die Entscheidung auch sonst im Reiche ähnlich ausgefallen, wäre die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen und Sitze überall in demselben ungeheuerlichen Verhältnis gewachsen, wie in Sachsen, wo sie sich seit der letzten Neichstagswahl sast verdoppelt hat, so würde heute die Neichsregierung einem so gut wie völlig sozialdemokratischen Reichstage gegenüberstehn, worin nur noch ein paar schwache „bürgerliche" Fraktionen vorhanden wären, und mit dem sie überhaupt nicht arbeiten könnte. Da liegt die Vermutung nahe, daß in Sachsen neben dem allgemeinen Anwachsen der städtisch-industriellen Bevölkerung, das doch hier keineswegs schwerer als anderwärts in die Wagschnle fällt, und neben der Gedankenarmut der „bürger¬ lichen" Parteien noch besondre Umstände mitgewirkt haben, eine weitverbreitete Unzufriedenheit und Verstimmung zu erregen, wie sie jetzt in dieser bisher un¬ erhörten, nahezu vollständigen Eroberung eiues Mittelstaats durch die Sozialdemo¬ kratie zum Ausdruck gekommen ist. Über diese Gründe ist man in Sachsen selbst gar nicht im Zweifel; nur die landesübliche Leisetreterei, auch der liberalen Blätter, die zwar an preußischen Ver¬ hältnissen eine fortlaufende scharfe und oft ungerechte Kritik üben, aber sehr empfind¬ lich werden, wenn eine preußische Zeitung an Sachsen etwas auszusetzen hat, hütet sich, das offen auszusprechen. Das erste ist das unglückliche Wahlgesetz von 1896, das die Arbeiterschaft vom sächsischen Landtage tatsächlich ausgeschlossen hat, das gemeinsame Angstprodukt der konservativen und der liberalen Partei, dessen auf¬ reizende, erbitternde Wirkung sich natürlich erst allmählich fühlbar gemacht hat und deshalb bei der Reichstagswahl von 1898 noch nicht so stark hervorgetreten ist. Daraus ist in der zweiten Kaminer eine konservativ-agrarische Zweidrittelmehrheit erwachsen, die den Landtag völlig beherrscht, die Liberalen zur Ohnmacht verdammt, jedes ihr genehme Gesetz durchbringen, jedes ihr unangenehme verhindern kann, und das in einem Lande, das kaum noch rein ackerbauende Bezirke hat, im deutschen Belgien! Zu welchen Ergebnissen diese konservative Parteiherrschaft und Partei¬ wirtschaft führen, das zeigen der mißliche Zustand der früher so blühenden sächsischen Finanzen, der Steuerzuschlag von 25 Prozent, eine Etsenbahnpolitik, die jedes Kirchturininteresse sorgfältig berücksichtigte, falls das ähnliche eines andern Wahl¬ kreises auch befriedigt wurde, und den Zinsenertrag von Jahr zu Jahr herabdrückte, übertrieben kostspielige und teilweise ganz überflüssige Staatsbauten und dergleichen mehr. Die von, Landtag einmütig, ohne jeden Widerspruch bewilligte Erhöhung der Zivilliste mag sachlich an sich gerechtfertigt gewesen sein, aber sie hat, was man an maßgebender Stelle noch immer nicht einzusehen scheint, furchtbar böses Blut gemacht, weil sie mit der ersten Erhebung des Steuerzuschlngs und mit der un¬ würdigen Beschneidung des dringend notwendigen, längst versprochnen Wohnungs¬ geldes für die Beamten zusammenfiel. Daß auch die geradezu unerhörten Versuche, größere Steuererträge herauszupressen, hier mitgewirkt haben, liegt auf der Hand. Aber auch das sächsische liberale Bürgertum hat eine schwere materielle und moralische Schlappe in dem Leipziger Bankkrach vom Juni 1901 erlitten, der Tausende und Abertausende aufs tiefste schädigte, mehrere Selbstmorde veranlaßte, vor allem die Fahrlässigkeit und den Leichtsinn der Leiter des Unternehmens, also einer Reihe von angesehenen Männern des höhern Leipziger Bürgerstandes, beschämend blo߬ stellte und nach der einfachen Empfindung des schlichten Mannes durch das juristisch natürlich unanfechtbare gerichtliche Urteil mir eine höchst ungenügende Sühne fand, etwa nach dem alten Sprichwort: „Die kleinen Diebe hängt man, die großen

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/60>, abgerufen am 27.07.2024.