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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Rußland in Vorderasien

Napoleon der Erste dachte von Asterabad am Kaspischen Meere, vereint
mit einem russischen Expeditionskorps, auf Herat zu marschieren. Ihm schließen
sich Platow Ssuchosenew in seinem EntWurfe von 1854 und General Chrnlew
in dem von 1855 an. Nur als Demonstration wird in dem Entwürfe von
1854 der gleichzeitige Vormarsch über den Bamian empfohlen. Das nach¬
teilige dieser Entwürfe bei einer Anwendung auf heutige Verhältnisse liegt auf
der Hand. Jede Operation, die Herat zum Ausgangspunkte nimmt, muß mit
zwei Nachteilen rechnen: sie richtet sich gegen die Front der feindlichen Ver¬
teidigung, gegen die Linie Kabul-Ghasni-Kandahar, verzichtet also auf den Vorteil
flankierenden Vorgehens in einer operativ vorzüglich wirksamen Richtung, sie
hat ferner mit Operationslinien von außerordentlicher Länge zu rechnen, denn
die Entfernung bis Kandahar betrügt 550, die bis Kabul 650 Kilometer.

Die zweite Straße des Entwurfs von 1854 führt durch Buchara über
Karschi--Masar i Scherif und die Bmnicmpässe auf Kabul. Sehr erschwerend
wirkt der Übergang über den Ann-Darja, der hier in einer Breite von zwei
Kilometern jeden Brückenschlag unmöglich macht, sodaß der ganze Verkehr in
Flößen erfolgen muß. Auch diesen erschwert ein breiter Snmpfstreifcn, der
den Strom auf beiden Ufern begleitet. Es kommt hinzu, daß das Klima in
der Ebene des Ann-Darja und dem angrenzenden Steppengebiet im Hoch¬
sommer sehr ungünstig ist: heiße Winde werden oft gefährlich, Trinkwasser ist,
wenn überhaupt vorhanden, spärlich und schlecht. Eine andre Jahreszeit aber
können die Russen zum Vormarsch nicht wählen, da sonst der Verkehr über
das Pmnir und den Hindukusch in einem Grade erschwert ist, der sogar sür
russische Truppen eine Operation fast unmöglich macht.

Unzweifelhaft beabsichtigen die Russen, hier mit Teilen, vielleicht mit dem
größten Teil des Operationshecres vorzugchn. Das Projekt, von Katta
Knrgan nicht weit von Samarkand eine Bahn nach Karschi in Buchara zu
bauen, ist der erste Schritt zu einem weitern Ausbau der Verbindungen in
dieser Operationsrichtung, auf die auch die Verteilung russischer Truppen an
der Südgrenze von Buchara hinweist. Unmittelbar am Ann-Darja, in Karschi
und Tormys, liegen die Stäbe von zwei Schützenbrigadcn, sechs Bataillone,
vier Sotnicn und eine Batterie -- eine Truppeuvertcilung, die man bei der
Schwierigkeit von Verschiebungen in diesem Gebiet gewiß nicht angeordnet
hätte, wenn man diese Truppen anders als in der genannten Richtung ver¬
wenden wollte. Auch diese Straße führt, ebenso wie die von Herat, gegen
die Front der englischen Verteidigung. Erst die Operationslinien mehr im
Osten gewinnen die Wirkung gegen die Flanke und den Rücken der englischen
Stellung bei Kabul.

Die beiden Verbindungen, die den Russen ein Vorgehen in dieser Richtung
ermöglichen, sind die Militärstraße über das Pamir und der Weg von Fcisabad
über Schak. Erst in den letzten Jahren ist durch den Bau einer Straße von
Ferghcma über das Pamir ins Murghabtal die Aufmerksamkeit weiterer
Kreise auf ein Vorgehn der Russen in dieser Richtung gelenkt worden. Nach
der Eroberung des Khanats Chokcmd machten die Russen Anspruch auf das
Pamir, schenkten dem dünn bevölkerten, produktionsnrmen Gebiet aber sonst


Rußland in Vorderasien

Napoleon der Erste dachte von Asterabad am Kaspischen Meere, vereint
mit einem russischen Expeditionskorps, auf Herat zu marschieren. Ihm schließen
sich Platow Ssuchosenew in seinem EntWurfe von 1854 und General Chrnlew
in dem von 1855 an. Nur als Demonstration wird in dem Entwürfe von
1854 der gleichzeitige Vormarsch über den Bamian empfohlen. Das nach¬
teilige dieser Entwürfe bei einer Anwendung auf heutige Verhältnisse liegt auf
der Hand. Jede Operation, die Herat zum Ausgangspunkte nimmt, muß mit
zwei Nachteilen rechnen: sie richtet sich gegen die Front der feindlichen Ver¬
teidigung, gegen die Linie Kabul-Ghasni-Kandahar, verzichtet also auf den Vorteil
flankierenden Vorgehens in einer operativ vorzüglich wirksamen Richtung, sie
hat ferner mit Operationslinien von außerordentlicher Länge zu rechnen, denn
die Entfernung bis Kandahar betrügt 550, die bis Kabul 650 Kilometer.

Die zweite Straße des Entwurfs von 1854 führt durch Buchara über
Karschi—Masar i Scherif und die Bmnicmpässe auf Kabul. Sehr erschwerend
wirkt der Übergang über den Ann-Darja, der hier in einer Breite von zwei
Kilometern jeden Brückenschlag unmöglich macht, sodaß der ganze Verkehr in
Flößen erfolgen muß. Auch diesen erschwert ein breiter Snmpfstreifcn, der
den Strom auf beiden Ufern begleitet. Es kommt hinzu, daß das Klima in
der Ebene des Ann-Darja und dem angrenzenden Steppengebiet im Hoch¬
sommer sehr ungünstig ist: heiße Winde werden oft gefährlich, Trinkwasser ist,
wenn überhaupt vorhanden, spärlich und schlecht. Eine andre Jahreszeit aber
können die Russen zum Vormarsch nicht wählen, da sonst der Verkehr über
das Pmnir und den Hindukusch in einem Grade erschwert ist, der sogar sür
russische Truppen eine Operation fast unmöglich macht.

Unzweifelhaft beabsichtigen die Russen, hier mit Teilen, vielleicht mit dem
größten Teil des Operationshecres vorzugchn. Das Projekt, von Katta
Knrgan nicht weit von Samarkand eine Bahn nach Karschi in Buchara zu
bauen, ist der erste Schritt zu einem weitern Ausbau der Verbindungen in
dieser Operationsrichtung, auf die auch die Verteilung russischer Truppen an
der Südgrenze von Buchara hinweist. Unmittelbar am Ann-Darja, in Karschi
und Tormys, liegen die Stäbe von zwei Schützenbrigadcn, sechs Bataillone,
vier Sotnicn und eine Batterie — eine Truppeuvertcilung, die man bei der
Schwierigkeit von Verschiebungen in diesem Gebiet gewiß nicht angeordnet
hätte, wenn man diese Truppen anders als in der genannten Richtung ver¬
wenden wollte. Auch diese Straße führt, ebenso wie die von Herat, gegen
die Front der englischen Verteidigung. Erst die Operationslinien mehr im
Osten gewinnen die Wirkung gegen die Flanke und den Rücken der englischen
Stellung bei Kabul.

Die beiden Verbindungen, die den Russen ein Vorgehen in dieser Richtung
ermöglichen, sind die Militärstraße über das Pamir und der Weg von Fcisabad
über Schak. Erst in den letzten Jahren ist durch den Bau einer Straße von
Ferghcma über das Pamir ins Murghabtal die Aufmerksamkeit weiterer
Kreise auf ein Vorgehn der Russen in dieser Richtung gelenkt worden. Nach
der Eroberung des Khanats Chokcmd machten die Russen Anspruch auf das
Pamir, schenkten dem dünn bevölkerten, produktionsnrmen Gebiet aber sonst


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/599>, abgerufen am 22.11.2024.