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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Die vorbereitnngszeit des Freiherr" vom Stein

bis an die Nordsee vor. Die großen Erwerbungen von 1815 und 1866
setzten das längst Begonnene nur fort, fügten zu den oftclbischen Kolonial-
landen altdeutsche Gebiete von einer gereiftem Kultur, die jenen an Umfang
nicht mehr so sehr viel nachstanden, wahrend der Staat seine polnischen Pro¬
vinzen großenteils abstieß.

Daß dies nur etwa das Ergebnis einer planmüßigen Politik gewesen
wäre, wird niemand behaupten. Der Große Kurfürst wollte ursprünglich einen
geschlossenen ostdentsch-baltischen Staat zwischen Elbe, Memel und Ostsee mit
der Hauptstadt Stettin begründen; Friedrich Wilhelms des Ersten größte Leistung
war die Eroberung Vorpommerns bis zur Peene, also des Odermündungs¬
landes 1720, und Friedrichs des Großen Absehen war auf die innere Zu¬
sammenfassung und die weitere Abrundung der ostclbischcu Kernlande durch die
Erwerbung Schlesiens, Westpreußens, des Restes von Vorpommern und viel¬
leicht auch Sachsens gerichtet; auf die westdeutschen Provinzen zwischen Weser,
Maas und Nordsee hat er weder seine merkantilistische noch seine militärische
Politik vollständig angewandt, er hat sie zollpolitisch geradezu als Ausland
behandelt, um die junge Industrie seines Ostens gegen den entwickelten Gewerb-
fleiß des Westens zu schützen, und er Hütte sie ganz gern gegen günstiger
liegende Gebiete vertauscht. Wie sehr sich endlich die preußischen Staats¬
männer 1814/15 gegen die Zuweisung der Rheinprovinz gesträubt haben, für
die sie viel lieber ganz Sachsen genommen Hütten, ist bekannt. Und noch 1866
hätte König Wilhelm, wenn es nach ihm gegangen wäre, am liebsten Teile
Sachsens und Böhmens mit Preußen vereinigt und sich im Westen mit einigen
Landstrichen zur territorialen Verbindung zwischen den beiden Hauptmassen
seines Staatsgebiets begnügt.

Und doch sind diese westdeutschen Landschaften von der größten Bedeutung
für die innere Gestaltung des preußischen Staats geworden. In Kleve-Mark
hat zuerst der Berliner Neligionsvcrgleich von 1672 die konfessionelle Ge¬
schlossenheit der deutschen Territorien grundsätzlich gebrochen und die Gleich¬
berechtigung der drei anerkannten Bekenntnisse innerhalb desselben Terri¬
toriums proklamiert; dort siud am Ende des achtzehnten Jahrhunderts die
Einrichtungen vorhanden gewesen oder durchgesetzt worden", die dann für die
innere Neugestaltung Preußens besonders seit 1807 die Vorbilder gaben. Das
war das Werk des großen Westdeutschen Staatsmannes, des Freiherrn Karl
vom Stein, der in diesen Provinzen seine Schule gemacht hatte, und das im
einzelnen nachgewiesen zu haben im ersten Bande seines grundlegenden, ans
den umfassendsten Studien in den Archiven und in der Literatur hervor-
gegangnen Werks über Stein, ist das große Verdienst Max Lehmanns.*) Daß
dabei der Mensch hinter dem Beamten ganz zurücktritt, liegt zunächst in der
Beschaffenheit des Quellenmaterinls, vor allem aber doch in dein Interesse,
das diese Aufgabe einflößt, die innere Geschichte des preußischen Staats zu
schildern.



") Freiherr vom Stein von Max Lehmann. Erster Teil: Vor der Reform, I7S7 bis 1307.
Leipzig, S. Hirzel, 1902. XX und 454 Seiten. Der zweite Band ist soeben erschienen.
Die vorbereitnngszeit des Freiherr» vom Stein

bis an die Nordsee vor. Die großen Erwerbungen von 1815 und 1866
setzten das längst Begonnene nur fort, fügten zu den oftclbischen Kolonial-
landen altdeutsche Gebiete von einer gereiftem Kultur, die jenen an Umfang
nicht mehr so sehr viel nachstanden, wahrend der Staat seine polnischen Pro¬
vinzen großenteils abstieß.

Daß dies nur etwa das Ergebnis einer planmüßigen Politik gewesen
wäre, wird niemand behaupten. Der Große Kurfürst wollte ursprünglich einen
geschlossenen ostdentsch-baltischen Staat zwischen Elbe, Memel und Ostsee mit
der Hauptstadt Stettin begründen; Friedrich Wilhelms des Ersten größte Leistung
war die Eroberung Vorpommerns bis zur Peene, also des Odermündungs¬
landes 1720, und Friedrichs des Großen Absehen war auf die innere Zu¬
sammenfassung und die weitere Abrundung der ostclbischcu Kernlande durch die
Erwerbung Schlesiens, Westpreußens, des Restes von Vorpommern und viel¬
leicht auch Sachsens gerichtet; auf die westdeutschen Provinzen zwischen Weser,
Maas und Nordsee hat er weder seine merkantilistische noch seine militärische
Politik vollständig angewandt, er hat sie zollpolitisch geradezu als Ausland
behandelt, um die junge Industrie seines Ostens gegen den entwickelten Gewerb-
fleiß des Westens zu schützen, und er Hütte sie ganz gern gegen günstiger
liegende Gebiete vertauscht. Wie sehr sich endlich die preußischen Staats¬
männer 1814/15 gegen die Zuweisung der Rheinprovinz gesträubt haben, für
die sie viel lieber ganz Sachsen genommen Hütten, ist bekannt. Und noch 1866
hätte König Wilhelm, wenn es nach ihm gegangen wäre, am liebsten Teile
Sachsens und Böhmens mit Preußen vereinigt und sich im Westen mit einigen
Landstrichen zur territorialen Verbindung zwischen den beiden Hauptmassen
seines Staatsgebiets begnügt.

Und doch sind diese westdeutschen Landschaften von der größten Bedeutung
für die innere Gestaltung des preußischen Staats geworden. In Kleve-Mark
hat zuerst der Berliner Neligionsvcrgleich von 1672 die konfessionelle Ge¬
schlossenheit der deutschen Territorien grundsätzlich gebrochen und die Gleich¬
berechtigung der drei anerkannten Bekenntnisse innerhalb desselben Terri¬
toriums proklamiert; dort siud am Ende des achtzehnten Jahrhunderts die
Einrichtungen vorhanden gewesen oder durchgesetzt worden", die dann für die
innere Neugestaltung Preußens besonders seit 1807 die Vorbilder gaben. Das
war das Werk des großen Westdeutschen Staatsmannes, des Freiherrn Karl
vom Stein, der in diesen Provinzen seine Schule gemacht hatte, und das im
einzelnen nachgewiesen zu haben im ersten Bande seines grundlegenden, ans
den umfassendsten Studien in den Archiven und in der Literatur hervor-
gegangnen Werks über Stein, ist das große Verdienst Max Lehmanns.*) Daß
dabei der Mensch hinter dem Beamten ganz zurücktritt, liegt zunächst in der
Beschaffenheit des Quellenmaterinls, vor allem aber doch in dein Interesse,
das diese Aufgabe einflößt, die innere Geschichte des preußischen Staats zu
schildern.



") Freiherr vom Stein von Max Lehmann. Erster Teil: Vor der Reform, I7S7 bis 1307.
Leipzig, S. Hirzel, 1902. XX und 454 Seiten. Der zweite Band ist soeben erschienen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/588>, abgerufen am 27.11.2024.