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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Aus der Jugendzeit

Bei der letzten Strophe mußte ausgetrunken werden. Das Merkwürdigste dabei
aber ist die kulturgeschichtlich nachgewiesne Tatsache, daß diese Spottverse schon um
die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in der Mark Brandenburg auf Kaiser Karl
den Vierten gesungen wurden, der dort bekanntlich als ein gestrenger Herr nach
der Zeit der Wittelsbacher wieder Ordnung geschafft hat. Die Quedlinburger
Bürger hatten also nur ein fast fünfhundert Jahre altes Spottlied kopiert und auf
den benachbarten Herzog Alexins von Anhalt-Bernburg umgemodelt. Welche selt¬
samen und kaum erklärlichen Zusammenhänge!

Doch zurück zur Feier unsrer harmlosen Familienfeste. Auf Weihnachten folgt
Neujahr, und auf den Christabend der Silvesterabend. Auch an diesem Tage
wurde zu der Zeit meiner Jugend in den Quedlinburger Kirchen kein Gottesdienst
gehalten. Es gab auch in den Kirchen, abgesehen von den beiden Altarkerzen und
einigen alten, nie mehr gebrauchten Kronleuchtern, keine Beleuchtuugsvvrrichtungcn.
Die Geistlichen sprachen, wenn die Einrichtung von Abendgottesdiensten angeregt
wurde, die Besorgnis aus, daß darin nach den früher gemachten Erfnhruugeu leicht
Unfug vorkomme. Das wurde auch als das Motiv für die Abschaffung der in
frühern Jahren üblich gewesenen Christmetten und Vespern angegeben. Nur in
der Schloßkirche hatte sich die Christmette am ersten Weihnachtsfeiertag erhalten.
Sie fand frühmorgens um fünf Uhr statt, und jeder Besucher brachte sich dazu
sein Licht selbst mit. Zur Christbcscherung in meinem Vaterhause paßte aber die
Tageszeit nicht recht, zumal da der Weg bis hinauf auf das Schloß ziemlich weit
war. Die Schloßgemeinde war auf diese Christmetten nicht wenig stolz und hielt
zäh daran fest. Sie wurden auch aus der Stadt viel besucht. Ich habe nie gehört,
daß dabei Unordnungen vorgekommen wären.

Am Silvesterabend wurde weitaus in den meisten Familien Punsch getrunken
und in den wohlhabender" vorher Karpfen gegessen. Eine Schuppe vou den
Silvesterkarpf?n steckte man sich gern in den Geldbeutel. Sie sollte Glück bringen
und ein Vorzeichen sein, daß man im neuen Jahre immer Geld haben werde. In
den Gasthäusern hatten die Stammgäste am Abend des Silvestertags freie Zeche-
Sie wurden auch dort mit Punsch und Prilken bewirtet. Die Kellner -- ^
nannte mau sie damals aber noch nicht, man rief sie vielmehr, weil sie beim
Billardspielcn den Stand des Spiels markieren mußten: Markeur! -- schmückten
dann die Stammpfeife und den Stammkrug der Gäste mit einem roten Seiden-
bändchen und bekamen dafür ein sehr mäßig bemessenes Trinkgeld. Von den
heutigen Trinkgeldernnsitten war damals noch keine Rede.

In den meisten Bürgerhäusern, auch bei uns, blieb die Familie bei einem
Glase Punsch zusammen. Nach Tisch, bevor die Punschterriue auf den Tisch kam,
pflegte mein Vater eine Neujahrsbetrachtung oder ans dem Gesangbuch das schöne
Neujahrslied von Paul Gerhardt vorzulesen': "Nun laßt uns gehn und treten mit
Singen und mit Bete" zum Herrn, der unserm Leben bis hierher Kraft ge¬
geben" usw. Bei dem ersten Glockenschlnge der Mitternachtsstunde gab man sich
die Hand oder auch wohl einen Kuß und gratulierte sich gegenseitig zum neuen
Jahre. In manchen Familien sang man dann das Lied: "Nun danket alle Gott.
In der Volksschule wurde schon vor Weihnachten der "Nenjahrswunsch" geschrieben,
und zwar ans besondern Briefbogen mit einem Vordruck in Goldschrift, die mein
für einige Pfennige beim Buchbinder gekauft hatte. Dieser Neujahrswunsch war
ein kurzes Gratulatiousgedicht. das alle Schüler der Klasse so sauber und schon
wie möglich unter Aufficht des Lehrers nachschreiben und auswendig lernen mußten.
Am Vormittage des Silvestertags gingen die Kinder dann, natürlich ohne Bucher,


Aus der Jugendzeit

Bei der letzten Strophe mußte ausgetrunken werden. Das Merkwürdigste dabei
aber ist die kulturgeschichtlich nachgewiesne Tatsache, daß diese Spottverse schon um
die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in der Mark Brandenburg auf Kaiser Karl
den Vierten gesungen wurden, der dort bekanntlich als ein gestrenger Herr nach
der Zeit der Wittelsbacher wieder Ordnung geschafft hat. Die Quedlinburger
Bürger hatten also nur ein fast fünfhundert Jahre altes Spottlied kopiert und auf
den benachbarten Herzog Alexins von Anhalt-Bernburg umgemodelt. Welche selt¬
samen und kaum erklärlichen Zusammenhänge!

Doch zurück zur Feier unsrer harmlosen Familienfeste. Auf Weihnachten folgt
Neujahr, und auf den Christabend der Silvesterabend. Auch an diesem Tage
wurde zu der Zeit meiner Jugend in den Quedlinburger Kirchen kein Gottesdienst
gehalten. Es gab auch in den Kirchen, abgesehen von den beiden Altarkerzen und
einigen alten, nie mehr gebrauchten Kronleuchtern, keine Beleuchtuugsvvrrichtungcn.
Die Geistlichen sprachen, wenn die Einrichtung von Abendgottesdiensten angeregt
wurde, die Besorgnis aus, daß darin nach den früher gemachten Erfnhruugeu leicht
Unfug vorkomme. Das wurde auch als das Motiv für die Abschaffung der in
frühern Jahren üblich gewesenen Christmetten und Vespern angegeben. Nur in
der Schloßkirche hatte sich die Christmette am ersten Weihnachtsfeiertag erhalten.
Sie fand frühmorgens um fünf Uhr statt, und jeder Besucher brachte sich dazu
sein Licht selbst mit. Zur Christbcscherung in meinem Vaterhause paßte aber die
Tageszeit nicht recht, zumal da der Weg bis hinauf auf das Schloß ziemlich weit
war. Die Schloßgemeinde war auf diese Christmetten nicht wenig stolz und hielt
zäh daran fest. Sie wurden auch aus der Stadt viel besucht. Ich habe nie gehört,
daß dabei Unordnungen vorgekommen wären.

Am Silvesterabend wurde weitaus in den meisten Familien Punsch getrunken
und in den wohlhabender» vorher Karpfen gegessen. Eine Schuppe vou den
Silvesterkarpf?n steckte man sich gern in den Geldbeutel. Sie sollte Glück bringen
und ein Vorzeichen sein, daß man im neuen Jahre immer Geld haben werde. In
den Gasthäusern hatten die Stammgäste am Abend des Silvestertags freie Zeche-
Sie wurden auch dort mit Punsch und Prilken bewirtet. Die Kellner — ^
nannte mau sie damals aber noch nicht, man rief sie vielmehr, weil sie beim
Billardspielcn den Stand des Spiels markieren mußten: Markeur! — schmückten
dann die Stammpfeife und den Stammkrug der Gäste mit einem roten Seiden-
bändchen und bekamen dafür ein sehr mäßig bemessenes Trinkgeld. Von den
heutigen Trinkgeldernnsitten war damals noch keine Rede.

In den meisten Bürgerhäusern, auch bei uns, blieb die Familie bei einem
Glase Punsch zusammen. Nach Tisch, bevor die Punschterriue auf den Tisch kam,
pflegte mein Vater eine Neujahrsbetrachtung oder ans dem Gesangbuch das schöne
Neujahrslied von Paul Gerhardt vorzulesen': „Nun laßt uns gehn und treten mit
Singen und mit Bete» zum Herrn, der unserm Leben bis hierher Kraft ge¬
geben" usw. Bei dem ersten Glockenschlnge der Mitternachtsstunde gab man sich
die Hand oder auch wohl einen Kuß und gratulierte sich gegenseitig zum neuen
Jahre. In manchen Familien sang man dann das Lied: „Nun danket alle Gott.
In der Volksschule wurde schon vor Weihnachten der „Nenjahrswunsch" geschrieben,
und zwar ans besondern Briefbogen mit einem Vordruck in Goldschrift, die mein
für einige Pfennige beim Buchbinder gekauft hatte. Dieser Neujahrswunsch war
ein kurzes Gratulatiousgedicht. das alle Schüler der Klasse so sauber und schon
wie möglich unter Aufficht des Lehrers nachschreiben und auswendig lernen mußten.
Am Vormittage des Silvestertags gingen die Kinder dann, natürlich ohne Bucher,


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[0556] Aus der Jugendzeit Bei der letzten Strophe mußte ausgetrunken werden. Das Merkwürdigste dabei aber ist die kulturgeschichtlich nachgewiesne Tatsache, daß diese Spottverse schon um die Mitte des vierzehnten Jahrhunderts in der Mark Brandenburg auf Kaiser Karl den Vierten gesungen wurden, der dort bekanntlich als ein gestrenger Herr nach der Zeit der Wittelsbacher wieder Ordnung geschafft hat. Die Quedlinburger Bürger hatten also nur ein fast fünfhundert Jahre altes Spottlied kopiert und auf den benachbarten Herzog Alexins von Anhalt-Bernburg umgemodelt. Welche selt¬ samen und kaum erklärlichen Zusammenhänge! Doch zurück zur Feier unsrer harmlosen Familienfeste. Auf Weihnachten folgt Neujahr, und auf den Christabend der Silvesterabend. Auch an diesem Tage wurde zu der Zeit meiner Jugend in den Quedlinburger Kirchen kein Gottesdienst gehalten. Es gab auch in den Kirchen, abgesehen von den beiden Altarkerzen und einigen alten, nie mehr gebrauchten Kronleuchtern, keine Beleuchtuugsvvrrichtungcn. Die Geistlichen sprachen, wenn die Einrichtung von Abendgottesdiensten angeregt wurde, die Besorgnis aus, daß darin nach den früher gemachten Erfnhruugeu leicht Unfug vorkomme. Das wurde auch als das Motiv für die Abschaffung der in frühern Jahren üblich gewesenen Christmetten und Vespern angegeben. Nur in der Schloßkirche hatte sich die Christmette am ersten Weihnachtsfeiertag erhalten. Sie fand frühmorgens um fünf Uhr statt, und jeder Besucher brachte sich dazu sein Licht selbst mit. Zur Christbcscherung in meinem Vaterhause paßte aber die Tageszeit nicht recht, zumal da der Weg bis hinauf auf das Schloß ziemlich weit war. Die Schloßgemeinde war auf diese Christmetten nicht wenig stolz und hielt zäh daran fest. Sie wurden auch aus der Stadt viel besucht. Ich habe nie gehört, daß dabei Unordnungen vorgekommen wären. Am Silvesterabend wurde weitaus in den meisten Familien Punsch getrunken und in den wohlhabender» vorher Karpfen gegessen. Eine Schuppe vou den Silvesterkarpf?n steckte man sich gern in den Geldbeutel. Sie sollte Glück bringen und ein Vorzeichen sein, daß man im neuen Jahre immer Geld haben werde. In den Gasthäusern hatten die Stammgäste am Abend des Silvestertags freie Zeche- Sie wurden auch dort mit Punsch und Prilken bewirtet. Die Kellner — ^ nannte mau sie damals aber noch nicht, man rief sie vielmehr, weil sie beim Billardspielcn den Stand des Spiels markieren mußten: Markeur! — schmückten dann die Stammpfeife und den Stammkrug der Gäste mit einem roten Seiden- bändchen und bekamen dafür ein sehr mäßig bemessenes Trinkgeld. Von den heutigen Trinkgeldernnsitten war damals noch keine Rede. In den meisten Bürgerhäusern, auch bei uns, blieb die Familie bei einem Glase Punsch zusammen. Nach Tisch, bevor die Punschterriue auf den Tisch kam, pflegte mein Vater eine Neujahrsbetrachtung oder ans dem Gesangbuch das schöne Neujahrslied von Paul Gerhardt vorzulesen': „Nun laßt uns gehn und treten mit Singen und mit Bete» zum Herrn, der unserm Leben bis hierher Kraft ge¬ geben" usw. Bei dem ersten Glockenschlnge der Mitternachtsstunde gab man sich die Hand oder auch wohl einen Kuß und gratulierte sich gegenseitig zum neuen Jahre. In manchen Familien sang man dann das Lied: „Nun danket alle Gott. In der Volksschule wurde schon vor Weihnachten der „Nenjahrswunsch" geschrieben, und zwar ans besondern Briefbogen mit einem Vordruck in Goldschrift, die mein für einige Pfennige beim Buchbinder gekauft hatte. Dieser Neujahrswunsch war ein kurzes Gratulatiousgedicht. das alle Schüler der Klasse so sauber und schon wie möglich unter Aufficht des Lehrers nachschreiben und auswendig lernen mußten. Am Vormittage des Silvestertags gingen die Kinder dann, natürlich ohne Bucher,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/556>, abgerufen am 23.11.2024.