in Westindien verlebten Kindheit sind -- das Kolonisieren verabscheut er, als echter Franzose; die paar Dutzend Verschwörer, Intriganten und Quacksalber, die in Paris die Politik machen, sind ihm nämlich keine echten Franzosen, "Kaufleute, Reeber, Industrielle, Volkswirtschaftler, Philanthropen, Deputierte und Minister, die von Stellenbettlern gepeinigt werden, schreien im Chor, um die öffentliche Meinung und die Regierung fortzureißen und einen Auswandrer¬ strom nach neuen Kolonien in Fluß zu bringen. Zuerst schickt man Soldaten hin, die wie die Fliegen wegsterben, dann Beamte, die, soweit sie nicht gleich nach der Ankunft sterben, jedes Jahr sechs Monate auf Urlaub daheim zubringen, was unserm Budget den Nest gibt. Hat man genug Geld und Menschenleben verschwendet und sich endlich überzeugt, daß die Kolonie nichts wert ist, so behält man sie trotzdem, gründet aber eine neue, die sich ebenso schlecht bewährt, und so immer fort. Man tröstet sich damit, daß man unser großartiges Ko¬ lonialreich so laut wie möglich rühmt, dieses Reich, das nur auf den Landkarten vorhanden ist. Frankreich ist mit seinem Klima und seinem Boden immer ein ackerbauendes Land gewesen und wird immer ein solches bleiben. All seiner Torheiten und seiner Unglücksfülle ungeachtet ist es immer noch das beste Land ans Erden, wo es sich besser lebt als sonstwo, das schönste Reich nach dem Himmelreiche, und während die Bewohner andrer Länder in Schwärmen von Millionen kommen (das ist ein bißchen zu hoch gerechnet), um sich an unsrer Sonne zu Wärmen und an ihrem Licht zu erfreuen, da glaubt ihr, ihr werdet die Kinder dieses glücklichen Landes mit schönen Redensarten verlocken, in fremde Länder auszuwandern, euch dort Geld zu verdienen und Beamtenposten zu gründen? Und das in einer Zeit, wo alle Welt über die Entvölkerung jammert? Ist Kolonisation ein Mittel, die Volkszahl zu vermehren? Und vergeßt ihr ganz, daß euer sicherster Kunde der ist, der unmittelbar in eurer Nachbarschaft lebt?" Das wäre also eine Stimme aus der unpolitischen Welt, und zwar aus ihrer intelligentesten Schicht.
Nach der Rückkehr aus Guadeloupe lebte Mondorf Familie mit kurzen Unterbrechungen in Paris. Hier mußte er nun in die Schule. Man hatte auf der Insel schon einen Versuch gemacht, aber der Kleine war vor Schulschlnß nach Hause gekommen und hatte erklärt: Dort ist mirs zu langweilig. Man hatte ihn zurückgebracht, und da war ihm die Idee der Freiheit aufgegangen an ihrem Gegenteil. Diese Idee und die Furcht vor dem Gegenteil wirkten in Paris so stark nach, daß er von einem Diener zur Schule getragen werden mußte, auf dem ganzen ziemlich langen Wege brüllte, sich aus Leibeskräften sträubte und nur mit Hilfe einer List ins Schulhaus hineingebracht werden konnte. Er findet, daß er Recht gehabt hat mit seinein Widerstande. An die Schnlmarter kann er nicht anders als mit Entsetzen denken. In den untern Klassen des Gymnasiums fesselte ihn die Schule von acht bis fünf Uhr -- das kalte zweite Frühstück, das er in einer Büchse mitnahm, wurde unter fort¬ währenden. Lernen in der freien Stunde von zwölf bis ein Uhr verzehrt in den obern Klassen aber von sieben bis sechs, manchmal bis acht Uhr und noch länger. Die häuslichen Arbeiten waren erdrückend, und nach einer Woche voller Plagen erwartete jeder mit Zittern am Sonnabend sein "Bulletin";
Lügen Mouton
in Westindien verlebten Kindheit sind — das Kolonisieren verabscheut er, als echter Franzose; die paar Dutzend Verschwörer, Intriganten und Quacksalber, die in Paris die Politik machen, sind ihm nämlich keine echten Franzosen, „Kaufleute, Reeber, Industrielle, Volkswirtschaftler, Philanthropen, Deputierte und Minister, die von Stellenbettlern gepeinigt werden, schreien im Chor, um die öffentliche Meinung und die Regierung fortzureißen und einen Auswandrer¬ strom nach neuen Kolonien in Fluß zu bringen. Zuerst schickt man Soldaten hin, die wie die Fliegen wegsterben, dann Beamte, die, soweit sie nicht gleich nach der Ankunft sterben, jedes Jahr sechs Monate auf Urlaub daheim zubringen, was unserm Budget den Nest gibt. Hat man genug Geld und Menschenleben verschwendet und sich endlich überzeugt, daß die Kolonie nichts wert ist, so behält man sie trotzdem, gründet aber eine neue, die sich ebenso schlecht bewährt, und so immer fort. Man tröstet sich damit, daß man unser großartiges Ko¬ lonialreich so laut wie möglich rühmt, dieses Reich, das nur auf den Landkarten vorhanden ist. Frankreich ist mit seinem Klima und seinem Boden immer ein ackerbauendes Land gewesen und wird immer ein solches bleiben. All seiner Torheiten und seiner Unglücksfülle ungeachtet ist es immer noch das beste Land ans Erden, wo es sich besser lebt als sonstwo, das schönste Reich nach dem Himmelreiche, und während die Bewohner andrer Länder in Schwärmen von Millionen kommen (das ist ein bißchen zu hoch gerechnet), um sich an unsrer Sonne zu Wärmen und an ihrem Licht zu erfreuen, da glaubt ihr, ihr werdet die Kinder dieses glücklichen Landes mit schönen Redensarten verlocken, in fremde Länder auszuwandern, euch dort Geld zu verdienen und Beamtenposten zu gründen? Und das in einer Zeit, wo alle Welt über die Entvölkerung jammert? Ist Kolonisation ein Mittel, die Volkszahl zu vermehren? Und vergeßt ihr ganz, daß euer sicherster Kunde der ist, der unmittelbar in eurer Nachbarschaft lebt?" Das wäre also eine Stimme aus der unpolitischen Welt, und zwar aus ihrer intelligentesten Schicht.
Nach der Rückkehr aus Guadeloupe lebte Mondorf Familie mit kurzen Unterbrechungen in Paris. Hier mußte er nun in die Schule. Man hatte auf der Insel schon einen Versuch gemacht, aber der Kleine war vor Schulschlnß nach Hause gekommen und hatte erklärt: Dort ist mirs zu langweilig. Man hatte ihn zurückgebracht, und da war ihm die Idee der Freiheit aufgegangen an ihrem Gegenteil. Diese Idee und die Furcht vor dem Gegenteil wirkten in Paris so stark nach, daß er von einem Diener zur Schule getragen werden mußte, auf dem ganzen ziemlich langen Wege brüllte, sich aus Leibeskräften sträubte und nur mit Hilfe einer List ins Schulhaus hineingebracht werden konnte. Er findet, daß er Recht gehabt hat mit seinein Widerstande. An die Schnlmarter kann er nicht anders als mit Entsetzen denken. In den untern Klassen des Gymnasiums fesselte ihn die Schule von acht bis fünf Uhr — das kalte zweite Frühstück, das er in einer Büchse mitnahm, wurde unter fort¬ währenden. Lernen in der freien Stunde von zwölf bis ein Uhr verzehrt in den obern Klassen aber von sieben bis sechs, manchmal bis acht Uhr und noch länger. Die häuslichen Arbeiten waren erdrückend, und nach einer Woche voller Plagen erwartete jeder mit Zittern am Sonnabend sein „Bulletin";
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Lügen Mouton
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die in Paris die Politik machen, sind ihm nämlich keine echten Franzosen,
„Kaufleute, Reeber, Industrielle, Volkswirtschaftler, Philanthropen, Deputierte
und Minister, die von Stellenbettlern gepeinigt werden, schreien im Chor, um
die öffentliche Meinung und die Regierung fortzureißen und einen Auswandrer¬
strom nach neuen Kolonien in Fluß zu bringen. Zuerst schickt man Soldaten
hin, die wie die Fliegen wegsterben, dann Beamte, die, soweit sie nicht gleich
nach der Ankunft sterben, jedes Jahr sechs Monate auf Urlaub daheim zubringen,
was unserm Budget den Nest gibt. Hat man genug Geld und Menschenleben
verschwendet und sich endlich überzeugt, daß die Kolonie nichts wert ist, so
behält man sie trotzdem, gründet aber eine neue, die sich ebenso schlecht bewährt,
und so immer fort. Man tröstet sich damit, daß man unser großartiges Ko¬
lonialreich so laut wie möglich rühmt, dieses Reich, das nur auf den Landkarten
vorhanden ist. Frankreich ist mit seinem Klima und seinem Boden immer ein
ackerbauendes Land gewesen und wird immer ein solches bleiben. All seiner
Torheiten und seiner Unglücksfülle ungeachtet ist es immer noch das beste Land
ans Erden, wo es sich besser lebt als sonstwo, das schönste Reich nach dem
Himmelreiche, und während die Bewohner andrer Länder in Schwärmen von
Millionen kommen (das ist ein bißchen zu hoch gerechnet), um sich an unsrer
Sonne zu Wärmen und an ihrem Licht zu erfreuen, da glaubt ihr, ihr werdet
die Kinder dieses glücklichen Landes mit schönen Redensarten verlocken, in
fremde Länder auszuwandern, euch dort Geld zu verdienen und Beamtenposten
zu gründen? Und das in einer Zeit, wo alle Welt über die Entvölkerung
jammert? Ist Kolonisation ein Mittel, die Volkszahl zu vermehren? Und
vergeßt ihr ganz, daß euer sicherster Kunde der ist, der unmittelbar in eurer
Nachbarschaft lebt?" Das wäre also eine Stimme aus der unpolitischen Welt,
und zwar aus ihrer intelligentesten Schicht.
Nach der Rückkehr aus Guadeloupe lebte Mondorf Familie mit kurzen
Unterbrechungen in Paris. Hier mußte er nun in die Schule. Man hatte
auf der Insel schon einen Versuch gemacht, aber der Kleine war vor Schulschlnß
nach Hause gekommen und hatte erklärt: Dort ist mirs zu langweilig. Man
hatte ihn zurückgebracht, und da war ihm die Idee der Freiheit aufgegangen
an ihrem Gegenteil. Diese Idee und die Furcht vor dem Gegenteil wirkten
in Paris so stark nach, daß er von einem Diener zur Schule getragen werden
mußte, auf dem ganzen ziemlich langen Wege brüllte, sich aus Leibeskräften
sträubte und nur mit Hilfe einer List ins Schulhaus hineingebracht werden
konnte. Er findet, daß er Recht gehabt hat mit seinein Widerstande. An die
Schnlmarter kann er nicht anders als mit Entsetzen denken. In den untern
Klassen des Gymnasiums fesselte ihn die Schule von acht bis fünf Uhr — das
kalte zweite Frühstück, das er in einer Büchse mitnahm, wurde unter fort¬
währenden. Lernen in der freien Stunde von zwölf bis ein Uhr verzehrt
in den obern Klassen aber von sieben bis sechs, manchmal bis acht Uhr und
noch länger. Die häuslichen Arbeiten waren erdrückend, und nach einer Woche
voller Plagen erwartete jeder mit Zittern am Sonnabend sein „Bulletin";
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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/542>, abgerufen am 24.11.2024.
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