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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Herrschaft gelangen. Wem ein so seltnes Glück widerfahren ist, der hat wohl
Grund, sich dessen zu freuen, unbekümmert darum, ob sein einstiges Wirken für
die nunmehr zum Siege gelangten Gedanken inzwischen der Vergessenheit anheim¬
gefallen ist. sWir haben in den Grenzboten an dieses Verdienst des Philosophen
sehr oft erinnert.^ Denn wem es Ernst ist mit der Sache, für den sind Personen¬
fragen gleichgiltig. Die biologischen Wissenschaften beurteilen jetzt den Darwinismus
so, wie ich ihn vor einem Menschenalter beurteilt habe. Daß aber die zweckmäßigen
Ergebnisse im Organismus nur aus zwecktätig wirkenden Kräften entspringen
skonnenj, diese andre Seite und Hauptsache in meiner Naturphilosophie des Orga¬
nischen ist noch weit davon entfernt, allgemeinere Anerkennung in den Kreisen der
Biologen zu finden. Wenn ich auch nicht am Siege des neu aufstrebenden Vita¬
lismus in den biologischen Wissenschaften zweifle, so habe ich doch keine Aussicht
mehr, ihn auch noch zu erleben." Warum sich die Naturwissenschafter so sträuben
gegen die Anerkennung der jedem nicht Stockblinden deutlich sichtbaren Teleologie
in der Natur, das wissen wir ja alle, und niemand weiß es besser, als die
Herren selbst.


Vom "Roten Kreuz" im Altertum.

Über die Ausgrabungen auf der Jusel
Kos und die für das Altertum wie für die Geschichte des Johanniterordens gleich¬
mäßig interessanten Resultate, die der Tübinger Archäologe R. Herzog dort zutage
gefordert hat, haben die Tageszeitungen, die in unserm Zeitalter eine merkwürdige,
von uns wahrlich nicht getadelte Vorliebe für "Archäologisches" haben, berichtet.
Jetzt gibt das kürzlich erschienene Deutsche Archäologische Jahrbuch in seinem "An¬
zeiger" den "Vorläufigen Bericht über die archäologische Expedition auf der Insel
Kos im Jahre 1992," aus dem wir eine an der Freitreppe, die zu dem Asklepieion
führt, von Herzog gefundne Inschrift zur nähern Betrachtung herausnehmen; sie
veranlaßt uns von einem "roten Kreuz" im Altertum zu spreche". Wie heutzutage
Ärzte auch aus solchen Nationen, die bei einem Kriege nicht direkt beteiligt sind,
sich irgend einer der kriegführenden Nationen anschließen, um Verwundeten und
Kranken ohne Unterschied, welchem Lager sie angehören, zu helfen, so laßt sich ein
ähnliches Verhältnis für das Altertum aus einem Briefe der Knosier auf Kreta
herauslesen, der uns in der erwähnten Inschrift erhalten ist. Der Brief, den man
auf einer in zwei Stücke gebrochnen Stele von weißem Marmor in kretischen Dialekt
lesen kann, stammt aus der Zeit der kretischen Wirren von 221 bis 219 vor Christo.
Es geht daraus hervor: Die Gortynier auf Kreta hatten sich von dem koischen Staat
einen Arzt erbeten; denn Kos war ein Zentralpunkt medizinischer Kunst und
Wissenschaft. Die Koer hatten ihrer Bitte bereitwilligst entsprochen und ihnen den
in der Geschichte der Medizin sonst nicht bekannten Hermias als Arzt abkommandiert.
Nun war es in Gorthn, der durch ihre berühmte Verfassuugs- und Gesetzgebungs¬
inschrift bekannten Stadt, zu einem Bürgerkriege zwischen den Alten und den Jungen
gekonunen. Die Alten riefen ihre Bundesgenossen, die Knosier, herbei, die auch
tausend Mann citolische Hilfstruppen mitbrachten. Die Schlacht wurde in der
Stadt Gortyn um den Besitz der Akropolis geschlagen und endete mit der Ver¬
treibung der Jungen. In dieser Schlacht gab es viele Verwundete, und als
natürliche Folge der fehlenden Aseptik viele schwere Krankheiten. Aus diesen rettete
der fremde, kölsche Arzt Hermias "durch seine aufopfernde Pflege," wie es Zeile 12
der Inschrift heißt, viele Gortynier, Knosier und Ätoler und zeigte sich anch sonst
jedermann hilfsbereit. Als es nachher um den Besitz von Phaistos, wo die Italiener
in letzter Zeit so hervorragende Neste ans der mykenischen Zeit ans Licht gefordert
haben und noch Ausgrabungen machen, wiederum zum Kampfe kam, stellte Hermias
mit demselben Eifer und Erfolg seine menschenfreundlichen Dienste als Militärarzt zur
Verfügung. -- Von solchen Dingen erzählt die koische Inschrift und zeigt zugleich,
daß sich die militärärztliche Tätigkeit vor mehr als zweitausend Jahren keineswegs
M- auf die unmittelbare Chirurgie beschränkte.




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Herrschaft gelangen. Wem ein so seltnes Glück widerfahren ist, der hat wohl
Grund, sich dessen zu freuen, unbekümmert darum, ob sein einstiges Wirken für
die nunmehr zum Siege gelangten Gedanken inzwischen der Vergessenheit anheim¬
gefallen ist. sWir haben in den Grenzboten an dieses Verdienst des Philosophen
sehr oft erinnert.^ Denn wem es Ernst ist mit der Sache, für den sind Personen¬
fragen gleichgiltig. Die biologischen Wissenschaften beurteilen jetzt den Darwinismus
so, wie ich ihn vor einem Menschenalter beurteilt habe. Daß aber die zweckmäßigen
Ergebnisse im Organismus nur aus zwecktätig wirkenden Kräften entspringen
skonnenj, diese andre Seite und Hauptsache in meiner Naturphilosophie des Orga¬
nischen ist noch weit davon entfernt, allgemeinere Anerkennung in den Kreisen der
Biologen zu finden. Wenn ich auch nicht am Siege des neu aufstrebenden Vita¬
lismus in den biologischen Wissenschaften zweifle, so habe ich doch keine Aussicht
mehr, ihn auch noch zu erleben." Warum sich die Naturwissenschafter so sträuben
gegen die Anerkennung der jedem nicht Stockblinden deutlich sichtbaren Teleologie
in der Natur, das wissen wir ja alle, und niemand weiß es besser, als die
Herren selbst.


Vom „Roten Kreuz" im Altertum.

Über die Ausgrabungen auf der Jusel
Kos und die für das Altertum wie für die Geschichte des Johanniterordens gleich¬
mäßig interessanten Resultate, die der Tübinger Archäologe R. Herzog dort zutage
gefordert hat, haben die Tageszeitungen, die in unserm Zeitalter eine merkwürdige,
von uns wahrlich nicht getadelte Vorliebe für „Archäologisches" haben, berichtet.
Jetzt gibt das kürzlich erschienene Deutsche Archäologische Jahrbuch in seinem „An¬
zeiger" den „Vorläufigen Bericht über die archäologische Expedition auf der Insel
Kos im Jahre 1992," aus dem wir eine an der Freitreppe, die zu dem Asklepieion
führt, von Herzog gefundne Inschrift zur nähern Betrachtung herausnehmen; sie
veranlaßt uns von einem „roten Kreuz" im Altertum zu spreche». Wie heutzutage
Ärzte auch aus solchen Nationen, die bei einem Kriege nicht direkt beteiligt sind,
sich irgend einer der kriegführenden Nationen anschließen, um Verwundeten und
Kranken ohne Unterschied, welchem Lager sie angehören, zu helfen, so laßt sich ein
ähnliches Verhältnis für das Altertum aus einem Briefe der Knosier auf Kreta
herauslesen, der uns in der erwähnten Inschrift erhalten ist. Der Brief, den man
auf einer in zwei Stücke gebrochnen Stele von weißem Marmor in kretischen Dialekt
lesen kann, stammt aus der Zeit der kretischen Wirren von 221 bis 219 vor Christo.
Es geht daraus hervor: Die Gortynier auf Kreta hatten sich von dem koischen Staat
einen Arzt erbeten; denn Kos war ein Zentralpunkt medizinischer Kunst und
Wissenschaft. Die Koer hatten ihrer Bitte bereitwilligst entsprochen und ihnen den
in der Geschichte der Medizin sonst nicht bekannten Hermias als Arzt abkommandiert.
Nun war es in Gorthn, der durch ihre berühmte Verfassuugs- und Gesetzgebungs¬
inschrift bekannten Stadt, zu einem Bürgerkriege zwischen den Alten und den Jungen
gekonunen. Die Alten riefen ihre Bundesgenossen, die Knosier, herbei, die auch
tausend Mann citolische Hilfstruppen mitbrachten. Die Schlacht wurde in der
Stadt Gortyn um den Besitz der Akropolis geschlagen und endete mit der Ver¬
treibung der Jungen. In dieser Schlacht gab es viele Verwundete, und als
natürliche Folge der fehlenden Aseptik viele schwere Krankheiten. Aus diesen rettete
der fremde, kölsche Arzt Hermias „durch seine aufopfernde Pflege," wie es Zeile 12
der Inschrift heißt, viele Gortynier, Knosier und Ätoler und zeigte sich anch sonst
jedermann hilfsbereit. Als es nachher um den Besitz von Phaistos, wo die Italiener
in letzter Zeit so hervorragende Neste ans der mykenischen Zeit ans Licht gefordert
haben und noch Ausgrabungen machen, wiederum zum Kampfe kam, stellte Hermias
mit demselben Eifer und Erfolg seine menschenfreundlichen Dienste als Militärarzt zur
Verfügung. — Von solchen Dingen erzählt die koische Inschrift und zeigt zugleich,
daß sich die militärärztliche Tätigkeit vor mehr als zweitausend Jahren keineswegs
M- auf die unmittelbare Chirurgie beschränkte.




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[0514] Maßgebliches und Unmaßgebliches Herrschaft gelangen. Wem ein so seltnes Glück widerfahren ist, der hat wohl Grund, sich dessen zu freuen, unbekümmert darum, ob sein einstiges Wirken für die nunmehr zum Siege gelangten Gedanken inzwischen der Vergessenheit anheim¬ gefallen ist. sWir haben in den Grenzboten an dieses Verdienst des Philosophen sehr oft erinnert.^ Denn wem es Ernst ist mit der Sache, für den sind Personen¬ fragen gleichgiltig. Die biologischen Wissenschaften beurteilen jetzt den Darwinismus so, wie ich ihn vor einem Menschenalter beurteilt habe. Daß aber die zweckmäßigen Ergebnisse im Organismus nur aus zwecktätig wirkenden Kräften entspringen skonnenj, diese andre Seite und Hauptsache in meiner Naturphilosophie des Orga¬ nischen ist noch weit davon entfernt, allgemeinere Anerkennung in den Kreisen der Biologen zu finden. Wenn ich auch nicht am Siege des neu aufstrebenden Vita¬ lismus in den biologischen Wissenschaften zweifle, so habe ich doch keine Aussicht mehr, ihn auch noch zu erleben." Warum sich die Naturwissenschafter so sträuben gegen die Anerkennung der jedem nicht Stockblinden deutlich sichtbaren Teleologie in der Natur, das wissen wir ja alle, und niemand weiß es besser, als die Herren selbst. Vom „Roten Kreuz" im Altertum. Über die Ausgrabungen auf der Jusel Kos und die für das Altertum wie für die Geschichte des Johanniterordens gleich¬ mäßig interessanten Resultate, die der Tübinger Archäologe R. Herzog dort zutage gefordert hat, haben die Tageszeitungen, die in unserm Zeitalter eine merkwürdige, von uns wahrlich nicht getadelte Vorliebe für „Archäologisches" haben, berichtet. Jetzt gibt das kürzlich erschienene Deutsche Archäologische Jahrbuch in seinem „An¬ zeiger" den „Vorläufigen Bericht über die archäologische Expedition auf der Insel Kos im Jahre 1992," aus dem wir eine an der Freitreppe, die zu dem Asklepieion führt, von Herzog gefundne Inschrift zur nähern Betrachtung herausnehmen; sie veranlaßt uns von einem „roten Kreuz" im Altertum zu spreche». Wie heutzutage Ärzte auch aus solchen Nationen, die bei einem Kriege nicht direkt beteiligt sind, sich irgend einer der kriegführenden Nationen anschließen, um Verwundeten und Kranken ohne Unterschied, welchem Lager sie angehören, zu helfen, so laßt sich ein ähnliches Verhältnis für das Altertum aus einem Briefe der Knosier auf Kreta herauslesen, der uns in der erwähnten Inschrift erhalten ist. Der Brief, den man auf einer in zwei Stücke gebrochnen Stele von weißem Marmor in kretischen Dialekt lesen kann, stammt aus der Zeit der kretischen Wirren von 221 bis 219 vor Christo. Es geht daraus hervor: Die Gortynier auf Kreta hatten sich von dem koischen Staat einen Arzt erbeten; denn Kos war ein Zentralpunkt medizinischer Kunst und Wissenschaft. Die Koer hatten ihrer Bitte bereitwilligst entsprochen und ihnen den in der Geschichte der Medizin sonst nicht bekannten Hermias als Arzt abkommandiert. Nun war es in Gorthn, der durch ihre berühmte Verfassuugs- und Gesetzgebungs¬ inschrift bekannten Stadt, zu einem Bürgerkriege zwischen den Alten und den Jungen gekonunen. Die Alten riefen ihre Bundesgenossen, die Knosier, herbei, die auch tausend Mann citolische Hilfstruppen mitbrachten. Die Schlacht wurde in der Stadt Gortyn um den Besitz der Akropolis geschlagen und endete mit der Ver¬ treibung der Jungen. In dieser Schlacht gab es viele Verwundete, und als natürliche Folge der fehlenden Aseptik viele schwere Krankheiten. Aus diesen rettete der fremde, kölsche Arzt Hermias „durch seine aufopfernde Pflege," wie es Zeile 12 der Inschrift heißt, viele Gortynier, Knosier und Ätoler und zeigte sich anch sonst jedermann hilfsbereit. Als es nachher um den Besitz von Phaistos, wo die Italiener in letzter Zeit so hervorragende Neste ans der mykenischen Zeit ans Licht gefordert haben und noch Ausgrabungen machen, wiederum zum Kampfe kam, stellte Hermias mit demselben Eifer und Erfolg seine menschenfreundlichen Dienste als Militärarzt zur Verfügung. — Von solchen Dingen erzählt die koische Inschrift und zeigt zugleich, daß sich die militärärztliche Tätigkeit vor mehr als zweitausend Jahren keineswegs M- auf die unmittelbare Chirurgie beschränkte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/514>, abgerufen am 23.11.2024.