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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Leipziger Theciterplanderei

O eine edle 5^an>ielsgal>e ist
Das Licht des Auges!

ein wahrer Genuß. Schade! Er sollte es einmal mit dem verhaltnen. müde
Aufschreie scheuenden Schmerze versuchen. Die auf der Galerie sind doch trotz
allem, was über sie gesagt und gedruckt wird, fühlende Menschen wie wir andern.
Der bescheidne, in sich gekehrte' Jammer würde sie auch rühren, und es wurde
nicht lange dauern, bis sie die wahre Kunst der Effekthascherei vorziehn lernten

So sympathisch einem in der Regel der Schillersche Melchthal ist, so vieles
hat man an dem Mi des alten Freiherrn auszusetze". Er paßt mit feiner Berta
und seiner Pfauenfeder zu den eidgenössischen Freiheitshelden wie die Faust aufs
Auge, und Felix Mendelssohn fand ihn fo jämmerlich, daß er Vorschläge machte wie
er umgekrempelt und veredelt werden könnte. Ja, Mi ist inmitten der Fürst,
Stcmffacher und Melchthal mit seinen feudalen Ideen keine erfreuliche Erscheinung,
um wenigsten auf der Bühne des Leipziger Stndttheaters, wo der Regisseur und
der Ankleider einen schlecht geratneu Psefferkuchenmaun aus ihm machen. Und doch
sollte man ein Übriges für ihn tun und ihn. da er an idealem Schwung zu wünschen
laßt, wenigstens äußerlich möglichst stattlich ausstaffieren, schou feiner Berta zuliebe.
Schiller hat offenbar keinen albernen, verrotteten Junker aus ihm machen wollen
sondern einen Dutzendmenschen, den die Verhältnisse in eine schiefe Lage gebracht
haben, und der sich, wie das ja fo viele tun, blindlings der Liebe als Führern an¬
vertraut. Vom uneigennützigen, idealen Freiheits- und Vaterlandsfreunde hat aller¬
dings Mi. namentlich in der ersten Hälfte des Stücks, wenig an sich, und von ^omvat,
uicht von Gold muß er schon um deswillen sein, da er nicht bloß den eidgenössischen
Freiheitshelden, sondern auch dem alten Freiherr" als Folie dienen soll AVer
im Grunde ist doch zweierlei gut an ihm: er nimmt Rat an, wenn diesen em
hübsches junges Frauenzimmer und uicht ein alter Onkel erteilt, und sobald ihm der
Weg klar geworden ist, auf dem er zu seiner Berta gelangen kann, zeigt er, daf;
er das Herz auf dem rechten Flecke hat. Den orangefarbnen Mantel, dünn wie
Sp <^ ostindischen Stoffs; so etwas kriegt man nicht wieder, innweb,

den er in der ersten Szene des zweiten Auszugs trägt, werde ich nie vergessen: da
Mi auch pfefferkuchengelbe Haare und einen pfefferkuchengelbei. Schnurrbart hat fo
läßt freilich die Sinfonie in gelb an gründlicher Durchführung nichts zu wünschen
Mrig, aber wären die "Seide." die der alte Herr tadelt, und die "Pfauenfeder
und der "Purpurmnntel" diesem miserabeln Anputz uicht doch am Ende noch vorzu-
zehrwesen?

^ AMcmMg. die Schiller Nudeuz verfechten läßt, kaun ja in einem
Stücke wie Wilhelm Tell vor niemandes Auge Gnade finden aber um.kerhaft was
wir heutigestags uuter dieser Eigenschaft leider versteh" müssen ist sie nicht. .M.ge
Frankfurter und Bremer Patrizier, die statt die entschwnndne Libertat chrer Stadt
zu beweinen in preußischen Staatsdienst treten, denken und urteilen wie un, nur
daß uns bei diesem die Art, wie die Liebe eine Wetterfahne aus ihm macht geradezu
komisch berührt. Die sür Mi so brenzlige Stelle, wo er in der zweiten szeiie des
vierten Aktes nochmals gestehn muß, daß es ihm zunächst weniger um die Freiheit
des Landes als um die seiner Berta zu tun ist. sällt in Leipzig weg. Auch Hedwig
erscheint nicht am Totenbett des alten Freiherrn, um Walli zu sehn und an ihr ve-
tummertes Mutter- und Frauenherz zu drücken. ,'

Es wäre wirklich schön, wenn man erführe, warum pas die ^gu^
StreichiUig entschieden hat. Wenn es Herrn Käßmodel und Madame P epenbrin
Mich geschehn ist, so ist ja nichts zu sagen. Ehre, wem Ehre gebührt Aber wenn
jemand so wenig Verständnis hätte, daß er glauben könnte, die Szene soweit es sich
dabei um Hedwigs Verhalten und ihre Reden handelt, sei für den Gang der dra¬
matischen Handlung unwesentlich, so müßte er doch darauf aufmerksam gemacht werden,
daß er auf dem Holzwege wäre.


Leipziger Theciterplanderei

O eine edle 5^an>ielsgal>e ist
Das Licht des Auges!

ein wahrer Genuß. Schade! Er sollte es einmal mit dem verhaltnen. müde
Aufschreie scheuenden Schmerze versuchen. Die auf der Galerie sind doch trotz
allem, was über sie gesagt und gedruckt wird, fühlende Menschen wie wir andern.
Der bescheidne, in sich gekehrte' Jammer würde sie auch rühren, und es wurde
nicht lange dauern, bis sie die wahre Kunst der Effekthascherei vorziehn lernten

So sympathisch einem in der Regel der Schillersche Melchthal ist, so vieles
hat man an dem Mi des alten Freiherrn auszusetze». Er paßt mit feiner Berta
und seiner Pfauenfeder zu den eidgenössischen Freiheitshelden wie die Faust aufs
Auge, und Felix Mendelssohn fand ihn fo jämmerlich, daß er Vorschläge machte wie
er umgekrempelt und veredelt werden könnte. Ja, Mi ist inmitten der Fürst,
Stcmffacher und Melchthal mit seinen feudalen Ideen keine erfreuliche Erscheinung,
um wenigsten auf der Bühne des Leipziger Stndttheaters, wo der Regisseur und
der Ankleider einen schlecht geratneu Psefferkuchenmaun aus ihm machen. Und doch
sollte man ein Übriges für ihn tun und ihn. da er an idealem Schwung zu wünschen
laßt, wenigstens äußerlich möglichst stattlich ausstaffieren, schou feiner Berta zuliebe.
Schiller hat offenbar keinen albernen, verrotteten Junker aus ihm machen wollen
sondern einen Dutzendmenschen, den die Verhältnisse in eine schiefe Lage gebracht
haben, und der sich, wie das ja fo viele tun, blindlings der Liebe als Führern an¬
vertraut. Vom uneigennützigen, idealen Freiheits- und Vaterlandsfreunde hat aller¬
dings Mi. namentlich in der ersten Hälfte des Stücks, wenig an sich, und von ^omvat,
uicht von Gold muß er schon um deswillen sein, da er nicht bloß den eidgenössischen
Freiheitshelden, sondern auch dem alten Freiherr» als Folie dienen soll AVer
im Grunde ist doch zweierlei gut an ihm: er nimmt Rat an, wenn diesen em
hübsches junges Frauenzimmer und uicht ein alter Onkel erteilt, und sobald ihm der
Weg klar geworden ist, auf dem er zu seiner Berta gelangen kann, zeigt er, daf;
er das Herz auf dem rechten Flecke hat. Den orangefarbnen Mantel, dünn wie
Sp <^ ostindischen Stoffs; so etwas kriegt man nicht wieder, innweb,

den er in der ersten Szene des zweiten Auszugs trägt, werde ich nie vergessen: da
Mi auch pfefferkuchengelbe Haare und einen pfefferkuchengelbei. Schnurrbart hat fo
läßt freilich die Sinfonie in gelb an gründlicher Durchführung nichts zu wünschen
Mrig, aber wären die „Seide." die der alte Herr tadelt, und die „Pfauenfeder
und der „Purpurmnntel" diesem miserabeln Anputz uicht doch am Ende noch vorzu-
zehrwesen?

^ AMcmMg. die Schiller Nudeuz verfechten läßt, kaun ja in einem
Stücke wie Wilhelm Tell vor niemandes Auge Gnade finden aber um.kerhaft was
wir heutigestags uuter dieser Eigenschaft leider versteh« müssen ist sie nicht. .M.ge
Frankfurter und Bremer Patrizier, die statt die entschwnndne Libertat chrer Stadt
zu beweinen in preußischen Staatsdienst treten, denken und urteilen wie un, nur
daß uns bei diesem die Art, wie die Liebe eine Wetterfahne aus ihm macht geradezu
komisch berührt. Die sür Mi so brenzlige Stelle, wo er in der zweiten szeiie des
vierten Aktes nochmals gestehn muß, daß es ihm zunächst weniger um die Freiheit
des Landes als um die seiner Berta zu tun ist. sällt in Leipzig weg. Auch Hedwig
erscheint nicht am Totenbett des alten Freiherrn, um Walli zu sehn und an ihr ve-
tummertes Mutter- und Frauenherz zu drücken. ,'

Es wäre wirklich schön, wenn man erführe, warum pas die ^gu^
StreichiUig entschieden hat. Wenn es Herrn Käßmodel und Madame P epenbrin
Mich geschehn ist, so ist ja nichts zu sagen. Ehre, wem Ehre gebührt Aber wenn
jemand so wenig Verständnis hätte, daß er glauben könnte, die Szene soweit es sich
dabei um Hedwigs Verhalten und ihre Reden handelt, sei für den Gang der dra¬
matischen Handlung unwesentlich, so müßte er doch darauf aufmerksam gemacht werden,
daß er auf dem Holzwege wäre.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/47>, abgerufen am 23.11.2024.