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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Der Marquis von Marigny

waldige, eine Bouteille von demselben Weine bestellten, den der alte Royalist ge¬
rade trank, und an die Erlaubnis baten, mit ihm auf den endlichen Sieg der ge¬
rechten Sache anstoßen zu dürfen. Dann flössen gewöhnlich einige Tränen der
Rührung, da aber Tränen Salz enthalten, und Salz Durst verursacht, so blieb es
nicht bei der einen Bouteille, und Henri, der den Weinkeller unter sich hatte,
stellte dann draußen in selner dunkeln Klause mit Vergnügen fest, daß drinnen im
Speisesaal wieder einmal die gerechte Sache auf der Tagesordnung stehn müsse.

Trotz der Bemühungen der Gäste gelangte freilich das. was man die gerechte
Sache nannte, doch nicht zum Siege. Der jungen Republik waren Schwingen ge¬
wachsen, und zum Erstaunen der Welt bewies sie, daß sie diese Schwingen zu ge¬
brauchen verstand. Ihre ruhmreichen Trikoloren rauschten über den Reisfeldern
Italiens wie über den Sandwüsten Äghptens.

Wenn an der Wirtstafel zu Lcutesdorf der Name des Generals Bonaparte
genannt wurde -- und das geschah immer häufiger --, Pflegte der alte, wohl¬
frisierte Herr, der am Hofe des letzten Königs von Frankreich eine so bedeutende
Rolle gespielt haben sollte, in tiefes°Schweigen zu versinken. Er glaubte es seiner
Vergangenheit schuldig zu sein, den Emporkömmling, der Miene machte, Alexander
und Cäsar den Feldherrnlorbeer zu entwinden, unbeachtet zu lassen. Aber tief im
innersten Herzen fühlte der Royalist doch etwas wie Stolz und Genugtuung
darüber, daß der alte Ruhm des französischen Namens wieder aufzuleben begann.

Eines Tags, als Marigny in seinem Wohngemach am Fenster stand und auf
den Rhein hinausschaute, der mit Treibeis ging, trat Marguerite zu ihm, legte
ihre Hand auf seine Schulter und sagte: Vater, ich bringe eine frohe Botschaft.
Der erste Konsul will den Emigrierten die Hand zur Versöhnung reichen. Frank¬
reich steht uns wieder offen.

Nichts von Versöhnung! sagte der alte Edelmann schroff. Was kümmert uns
der erste Konsul! Wenn er der Mann ist, der zu sein er vorgibt, wenn er die
Rebellion verabscheut und der Ordnung zum Siege verhelfen will, so mag er die
Gewalt in die Hände Ludwigs des Achtzehnter legen. Und mit weicherer Stimme
fügte er hinzu: Frankreich wird uns auch ferner verschlossen bleiben. Aber was
tuts? Das Schicksal hat es gut mit uns gemeint. Weil wir nicht ins Vaterland
zurückkehren durften, ist das Vaterland zu uns gekommen.

Er öffnete das Fenster und wies nach den Türmen von Andernach hinüber,
auf denen gerade der Sonntag eingeläutet wurde. Hörst du den Klang? fragte
er. Das sind die Glocken französischer Kirchen!

Und seitdem fand man ihn oft, wie er verklärten Blickes nach den Bergen
seines großen Vaterlands hinüberschaute. Die Erfüllung seiner stillen Hoffnungen,
daß der Bruder Ludwigs des Sechzehnten den Thron seines Vorfahren wieder
einnehmen möchte, erlebte der Marquis freilich nicht mehr. Dafür blieb ihm aber
auch der Schmerz erspart, das Vaterland, das ihm so nahe gekommen war, wieder
vom Rheine zurückweichen zu sehen. An häuslichen Freuden fehlte es dem alten
Edelmanns nicht. Er sah den geliebten Enkel zu einem frischen Jüngling heran¬
wachsen und an der Seite des Knaben ein zierliches Schwesterchen erblühen, das
auf den Großvater große Stücke hielt und sich mit unfehlbarer Sicherheit in der
Küche einfnnd, wenn es wußte, daß der alte Herr die Zubereitung einer süßen
Schüssel "überwachte." Diese Vorliebe für die Küche war aber auch das Einzige,
was die kleine Henriette von den Marignys hatte. In allen übrigen Punkten
war sie eine echte Villeroi. Vielleicht floß in ihren Adern sogar ein Tröpfchen
demokratischen Blutes, denn sie heiratete später, bevor Eltern und Bruder nach der
Restauration wieder in die alte Heimat zogen, einen Landsmann mit dem bürger¬
lichen Namen Delveaux, der den Gasthof übernahm und mit Erfolg weiterführte.

Das alte vornehme Haus mit dem steilen Dache und den schmucken Türmchen
steht heute noch. Den Rheinreisenden ist es wohlbekannt, und mancher Wandrer hat
sich in den geräumigen Sälen mit den altertümlichen Ledertapeten an Speise und


Der Marquis von Marigny

waldige, eine Bouteille von demselben Weine bestellten, den der alte Royalist ge¬
rade trank, und an die Erlaubnis baten, mit ihm auf den endlichen Sieg der ge¬
rechten Sache anstoßen zu dürfen. Dann flössen gewöhnlich einige Tränen der
Rührung, da aber Tränen Salz enthalten, und Salz Durst verursacht, so blieb es
nicht bei der einen Bouteille, und Henri, der den Weinkeller unter sich hatte,
stellte dann draußen in selner dunkeln Klause mit Vergnügen fest, daß drinnen im
Speisesaal wieder einmal die gerechte Sache auf der Tagesordnung stehn müsse.

Trotz der Bemühungen der Gäste gelangte freilich das. was man die gerechte
Sache nannte, doch nicht zum Siege. Der jungen Republik waren Schwingen ge¬
wachsen, und zum Erstaunen der Welt bewies sie, daß sie diese Schwingen zu ge¬
brauchen verstand. Ihre ruhmreichen Trikoloren rauschten über den Reisfeldern
Italiens wie über den Sandwüsten Äghptens.

Wenn an der Wirtstafel zu Lcutesdorf der Name des Generals Bonaparte
genannt wurde — und das geschah immer häufiger —, Pflegte der alte, wohl¬
frisierte Herr, der am Hofe des letzten Königs von Frankreich eine so bedeutende
Rolle gespielt haben sollte, in tiefes°Schweigen zu versinken. Er glaubte es seiner
Vergangenheit schuldig zu sein, den Emporkömmling, der Miene machte, Alexander
und Cäsar den Feldherrnlorbeer zu entwinden, unbeachtet zu lassen. Aber tief im
innersten Herzen fühlte der Royalist doch etwas wie Stolz und Genugtuung
darüber, daß der alte Ruhm des französischen Namens wieder aufzuleben begann.

Eines Tags, als Marigny in seinem Wohngemach am Fenster stand und auf
den Rhein hinausschaute, der mit Treibeis ging, trat Marguerite zu ihm, legte
ihre Hand auf seine Schulter und sagte: Vater, ich bringe eine frohe Botschaft.
Der erste Konsul will den Emigrierten die Hand zur Versöhnung reichen. Frank¬
reich steht uns wieder offen.

Nichts von Versöhnung! sagte der alte Edelmann schroff. Was kümmert uns
der erste Konsul! Wenn er der Mann ist, der zu sein er vorgibt, wenn er die
Rebellion verabscheut und der Ordnung zum Siege verhelfen will, so mag er die
Gewalt in die Hände Ludwigs des Achtzehnter legen. Und mit weicherer Stimme
fügte er hinzu: Frankreich wird uns auch ferner verschlossen bleiben. Aber was
tuts? Das Schicksal hat es gut mit uns gemeint. Weil wir nicht ins Vaterland
zurückkehren durften, ist das Vaterland zu uns gekommen.

Er öffnete das Fenster und wies nach den Türmen von Andernach hinüber,
auf denen gerade der Sonntag eingeläutet wurde. Hörst du den Klang? fragte
er. Das sind die Glocken französischer Kirchen!

Und seitdem fand man ihn oft, wie er verklärten Blickes nach den Bergen
seines großen Vaterlands hinüberschaute. Die Erfüllung seiner stillen Hoffnungen,
daß der Bruder Ludwigs des Sechzehnten den Thron seines Vorfahren wieder
einnehmen möchte, erlebte der Marquis freilich nicht mehr. Dafür blieb ihm aber
auch der Schmerz erspart, das Vaterland, das ihm so nahe gekommen war, wieder
vom Rheine zurückweichen zu sehen. An häuslichen Freuden fehlte es dem alten
Edelmanns nicht. Er sah den geliebten Enkel zu einem frischen Jüngling heran¬
wachsen und an der Seite des Knaben ein zierliches Schwesterchen erblühen, das
auf den Großvater große Stücke hielt und sich mit unfehlbarer Sicherheit in der
Küche einfnnd, wenn es wußte, daß der alte Herr die Zubereitung einer süßen
Schüssel „überwachte." Diese Vorliebe für die Küche war aber auch das Einzige,
was die kleine Henriette von den Marignys hatte. In allen übrigen Punkten
war sie eine echte Villeroi. Vielleicht floß in ihren Adern sogar ein Tröpfchen
demokratischen Blutes, denn sie heiratete später, bevor Eltern und Bruder nach der
Restauration wieder in die alte Heimat zogen, einen Landsmann mit dem bürger¬
lichen Namen Delveaux, der den Gasthof übernahm und mit Erfolg weiterführte.

Das alte vornehme Haus mit dem steilen Dache und den schmucken Türmchen
steht heute noch. Den Rheinreisenden ist es wohlbekannt, und mancher Wandrer hat
sich in den geräumigen Sälen mit den altertümlichen Ledertapeten an Speise und


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[0443] Der Marquis von Marigny waldige, eine Bouteille von demselben Weine bestellten, den der alte Royalist ge¬ rade trank, und an die Erlaubnis baten, mit ihm auf den endlichen Sieg der ge¬ rechten Sache anstoßen zu dürfen. Dann flössen gewöhnlich einige Tränen der Rührung, da aber Tränen Salz enthalten, und Salz Durst verursacht, so blieb es nicht bei der einen Bouteille, und Henri, der den Weinkeller unter sich hatte, stellte dann draußen in selner dunkeln Klause mit Vergnügen fest, daß drinnen im Speisesaal wieder einmal die gerechte Sache auf der Tagesordnung stehn müsse. Trotz der Bemühungen der Gäste gelangte freilich das. was man die gerechte Sache nannte, doch nicht zum Siege. Der jungen Republik waren Schwingen ge¬ wachsen, und zum Erstaunen der Welt bewies sie, daß sie diese Schwingen zu ge¬ brauchen verstand. Ihre ruhmreichen Trikoloren rauschten über den Reisfeldern Italiens wie über den Sandwüsten Äghptens. Wenn an der Wirtstafel zu Lcutesdorf der Name des Generals Bonaparte genannt wurde — und das geschah immer häufiger —, Pflegte der alte, wohl¬ frisierte Herr, der am Hofe des letzten Königs von Frankreich eine so bedeutende Rolle gespielt haben sollte, in tiefes°Schweigen zu versinken. Er glaubte es seiner Vergangenheit schuldig zu sein, den Emporkömmling, der Miene machte, Alexander und Cäsar den Feldherrnlorbeer zu entwinden, unbeachtet zu lassen. Aber tief im innersten Herzen fühlte der Royalist doch etwas wie Stolz und Genugtuung darüber, daß der alte Ruhm des französischen Namens wieder aufzuleben begann. Eines Tags, als Marigny in seinem Wohngemach am Fenster stand und auf den Rhein hinausschaute, der mit Treibeis ging, trat Marguerite zu ihm, legte ihre Hand auf seine Schulter und sagte: Vater, ich bringe eine frohe Botschaft. Der erste Konsul will den Emigrierten die Hand zur Versöhnung reichen. Frank¬ reich steht uns wieder offen. Nichts von Versöhnung! sagte der alte Edelmann schroff. Was kümmert uns der erste Konsul! Wenn er der Mann ist, der zu sein er vorgibt, wenn er die Rebellion verabscheut und der Ordnung zum Siege verhelfen will, so mag er die Gewalt in die Hände Ludwigs des Achtzehnter legen. Und mit weicherer Stimme fügte er hinzu: Frankreich wird uns auch ferner verschlossen bleiben. Aber was tuts? Das Schicksal hat es gut mit uns gemeint. Weil wir nicht ins Vaterland zurückkehren durften, ist das Vaterland zu uns gekommen. Er öffnete das Fenster und wies nach den Türmen von Andernach hinüber, auf denen gerade der Sonntag eingeläutet wurde. Hörst du den Klang? fragte er. Das sind die Glocken französischer Kirchen! Und seitdem fand man ihn oft, wie er verklärten Blickes nach den Bergen seines großen Vaterlands hinüberschaute. Die Erfüllung seiner stillen Hoffnungen, daß der Bruder Ludwigs des Sechzehnten den Thron seines Vorfahren wieder einnehmen möchte, erlebte der Marquis freilich nicht mehr. Dafür blieb ihm aber auch der Schmerz erspart, das Vaterland, das ihm so nahe gekommen war, wieder vom Rheine zurückweichen zu sehen. An häuslichen Freuden fehlte es dem alten Edelmanns nicht. Er sah den geliebten Enkel zu einem frischen Jüngling heran¬ wachsen und an der Seite des Knaben ein zierliches Schwesterchen erblühen, das auf den Großvater große Stücke hielt und sich mit unfehlbarer Sicherheit in der Küche einfnnd, wenn es wußte, daß der alte Herr die Zubereitung einer süßen Schüssel „überwachte." Diese Vorliebe für die Küche war aber auch das Einzige, was die kleine Henriette von den Marignys hatte. In allen übrigen Punkten war sie eine echte Villeroi. Vielleicht floß in ihren Adern sogar ein Tröpfchen demokratischen Blutes, denn sie heiratete später, bevor Eltern und Bruder nach der Restauration wieder in die alte Heimat zogen, einen Landsmann mit dem bürger¬ lichen Namen Delveaux, der den Gasthof übernahm und mit Erfolg weiterführte. Das alte vornehme Haus mit dem steilen Dache und den schmucken Türmchen steht heute noch. Den Rheinreisenden ist es wohlbekannt, und mancher Wandrer hat sich in den geräumigen Sälen mit den altertümlichen Ledertapeten an Speise und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/443>, abgerufen am 01.09.2024.