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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Zins der Jugendzeit

unterricht erteilen. Hier war der Erfolg noch mäßiger als bei dem Klavierspielen.
Das mag zum Teil an den Lehrern gelegen haben. Die größte Schuld daran
habe ich aber mir selbst zuzumessen, meinem Mangel an Eifer und Ausdauer. Ich
habe später eine größere Fertigkeit im Zeichnen und im richtigen Sehen der kon¬
kreten Formen oft sehr schmerzlich vermißt. Mein trefflicher Vater aber ist daran
schuldlos. Er ließ uus jede Gelegenheit, bei der es etwas zu lernen gab, benutzen.
Wurde in der Schule ein Bergwerk gezeigt oder kam eine Menagerie in die Stadt
oder auch einmal ein einzelner Elefant oder ein wanderndes Museum, ein Rezi¬
tator oder ein Mann, der naturwissenschaftliche Vorträge hielt oder vergrößerte
Schattenbilder mit einem sogenannten Hydrooxygengas-Mikroskop zeigte, nie wurde
uns für solche Dinge, und wenn sie sich schließlich als Schnurrpfeifereien ent¬
puppten, der nötige Groschen versagt.

Nur vom Theater hielt mein Vater nicht viel, wenigstens soweit es sich um
uns Kinder handelte. Der Musentempel in Quedlinburg war freilich in meiner
Jugend dürftig genug. Auf dem Mummental, einem Gutshöfe, der für landwirt-
schaftliche Zwecke nicht mehr benutzt wurde, hatte man eine alte, geräumige Scheune,
so gut oder so schlecht es gehn wollte, zum Schauspielhaus ausgebaut. Es war
ein öder, häßlicher Raum, aber doch gaben wandernde Schanspielertruppen dort
von Zeit zu Zeit Vorstellungen. Einige Jahre lang kamen sogar die herzoglichen
Hofschauspieler aus Ballenstedt alljährlich für einige Wochen nach Quedlinburg und
spielten dort, nebenbei gesagt, recht gut. Der Vater der nachmals so berühmt ge-
wordnen Johanna Wagner war in Ballenstedt als Baßbuffo engagiert, und seine
Tochter Johanna, später Frau Wagner-Jachmann, hat in Quedlinburg zum ersten¬
mal als Fanchon die Bretter betreten, die die Welt bedeuten. Natürlich zog uns
Kinder das geheimnisvolle, alte Schauspielhaus mächtig an. Mein Vater aber
wollte nichts davon wissen, und uns ein Theaterbillctt zu kaufen, dazu bekamen
wir kein Geld. Nur wenn einmal während der toten Saison ein sogenanntes
mechanisches oder Puppentheater in das alte Schauspielhaus einzog, und dort die
Erstürmung von Magdeburg durch Tilly aufgeführt wurde, ging mein Vater mit
uns hin. Das genügte uns aber nicht. Es war auch dürftig genug, und es ging
bei diesen Vorstellungen unglaublich kleinstädtisch und harmlos, doch aber nicht ohne
einen gewissen Radau her. Auf den Anschlagzetteln hatte gestanden: "Bei voll¬
ständig besetzten? Orchester." Als wir aber hinkamen und unsre Sitze auf dem
ersten Patz eingenommen, unsre Augen steh auch an das Dunkel des durch einige
Öllampen nur äußerst schwach beleuchteten Raumes gewöhnt hatten, sahen wir, daß
das Orchester nur aus einem stadtbekannten, sehr dicken Musiker namens Elias
und dessen noch jungem Sohn bestand, die sich anschickten, der Vater mit der Geige,
der Sohn mit der Pickelflöte "das vollständig besetzte Orchester" zu spielen. Darüber
fing aber das enttäuschte Publikum an laut zu murren. Man rief Plattdeutsch:
"Wat is denn dat? Dat is kein Orschester. Dat is man bloß Ölglas un sin
Sohne! Ölglas rut!" Dabei erhob sich ein ungeheures Trampeln, Zischen,
Schreien und Quietschen. Elias aber ließ sich nicht irremachen und fing ruhig an,
einen Walzer oder eine Polka zu geigen. Er brachte auch den Lärm wirklich zur
Ruhe, und Tilly im roten Rock eroberte wirklich vor unsern Angen das brennende
Magdeburg. Die Sache hatte uns zwar belustigt; wir behaupteten aber, daß wir
dieses Stück zu Hause auf unserm kleinen Puppentheater viel besser aufführten.
Mein Vater gab zu, daß die Vorstellung Wohl einiges zu wünsche" übrig gelassen
habe. Wenn wir ihn aber quälten, er möge doch mit uns nur ein einzigesmal
in das "ordentliche" Theater gehn, so vertröstete er uns regelmäßig auf seine beiden
Lieblingsstücke, die aber nie gegeben wurden. Das eine war ein Lustspiel: "Sieben
Mädchen in Uniform," und das andre war die Oper "Joseph in Ägypten" von
Mehul. Ich wenigstens habe es nicht erlebt, daß eins dieser Stücke in Quedlin¬
burg gegeben wurde."

Desto größer war meine Neugier auf das "ordentliche Theater. Ich war


Zins der Jugendzeit

unterricht erteilen. Hier war der Erfolg noch mäßiger als bei dem Klavierspielen.
Das mag zum Teil an den Lehrern gelegen haben. Die größte Schuld daran
habe ich aber mir selbst zuzumessen, meinem Mangel an Eifer und Ausdauer. Ich
habe später eine größere Fertigkeit im Zeichnen und im richtigen Sehen der kon¬
kreten Formen oft sehr schmerzlich vermißt. Mein trefflicher Vater aber ist daran
schuldlos. Er ließ uus jede Gelegenheit, bei der es etwas zu lernen gab, benutzen.
Wurde in der Schule ein Bergwerk gezeigt oder kam eine Menagerie in die Stadt
oder auch einmal ein einzelner Elefant oder ein wanderndes Museum, ein Rezi¬
tator oder ein Mann, der naturwissenschaftliche Vorträge hielt oder vergrößerte
Schattenbilder mit einem sogenannten Hydrooxygengas-Mikroskop zeigte, nie wurde
uns für solche Dinge, und wenn sie sich schließlich als Schnurrpfeifereien ent¬
puppten, der nötige Groschen versagt.

Nur vom Theater hielt mein Vater nicht viel, wenigstens soweit es sich um
uns Kinder handelte. Der Musentempel in Quedlinburg war freilich in meiner
Jugend dürftig genug. Auf dem Mummental, einem Gutshöfe, der für landwirt-
schaftliche Zwecke nicht mehr benutzt wurde, hatte man eine alte, geräumige Scheune,
so gut oder so schlecht es gehn wollte, zum Schauspielhaus ausgebaut. Es war
ein öder, häßlicher Raum, aber doch gaben wandernde Schanspielertruppen dort
von Zeit zu Zeit Vorstellungen. Einige Jahre lang kamen sogar die herzoglichen
Hofschauspieler aus Ballenstedt alljährlich für einige Wochen nach Quedlinburg und
spielten dort, nebenbei gesagt, recht gut. Der Vater der nachmals so berühmt ge-
wordnen Johanna Wagner war in Ballenstedt als Baßbuffo engagiert, und seine
Tochter Johanna, später Frau Wagner-Jachmann, hat in Quedlinburg zum ersten¬
mal als Fanchon die Bretter betreten, die die Welt bedeuten. Natürlich zog uns
Kinder das geheimnisvolle, alte Schauspielhaus mächtig an. Mein Vater aber
wollte nichts davon wissen, und uns ein Theaterbillctt zu kaufen, dazu bekamen
wir kein Geld. Nur wenn einmal während der toten Saison ein sogenanntes
mechanisches oder Puppentheater in das alte Schauspielhaus einzog, und dort die
Erstürmung von Magdeburg durch Tilly aufgeführt wurde, ging mein Vater mit
uns hin. Das genügte uns aber nicht. Es war auch dürftig genug, und es ging
bei diesen Vorstellungen unglaublich kleinstädtisch und harmlos, doch aber nicht ohne
einen gewissen Radau her. Auf den Anschlagzetteln hatte gestanden: „Bei voll¬
ständig besetzten? Orchester." Als wir aber hinkamen und unsre Sitze auf dem
ersten Patz eingenommen, unsre Augen steh auch an das Dunkel des durch einige
Öllampen nur äußerst schwach beleuchteten Raumes gewöhnt hatten, sahen wir, daß
das Orchester nur aus einem stadtbekannten, sehr dicken Musiker namens Elias
und dessen noch jungem Sohn bestand, die sich anschickten, der Vater mit der Geige,
der Sohn mit der Pickelflöte „das vollständig besetzte Orchester" zu spielen. Darüber
fing aber das enttäuschte Publikum an laut zu murren. Man rief Plattdeutsch:
„Wat is denn dat? Dat is kein Orschester. Dat is man bloß Ölglas un sin
Sohne! Ölglas rut!" Dabei erhob sich ein ungeheures Trampeln, Zischen,
Schreien und Quietschen. Elias aber ließ sich nicht irremachen und fing ruhig an,
einen Walzer oder eine Polka zu geigen. Er brachte auch den Lärm wirklich zur
Ruhe, und Tilly im roten Rock eroberte wirklich vor unsern Angen das brennende
Magdeburg. Die Sache hatte uns zwar belustigt; wir behaupteten aber, daß wir
dieses Stück zu Hause auf unserm kleinen Puppentheater viel besser aufführten.
Mein Vater gab zu, daß die Vorstellung Wohl einiges zu wünsche» übrig gelassen
habe. Wenn wir ihn aber quälten, er möge doch mit uns nur ein einzigesmal
in das „ordentliche" Theater gehn, so vertröstete er uns regelmäßig auf seine beiden
Lieblingsstücke, die aber nie gegeben wurden. Das eine war ein Lustspiel: „Sieben
Mädchen in Uniform," und das andre war die Oper „Joseph in Ägypten" von
Mehul. Ich wenigstens habe es nicht erlebt, daß eins dieser Stücke in Quedlin¬
burg gegeben wurde."

Desto größer war meine Neugier auf das „ordentliche Theater. Ich war


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[0434] Zins der Jugendzeit unterricht erteilen. Hier war der Erfolg noch mäßiger als bei dem Klavierspielen. Das mag zum Teil an den Lehrern gelegen haben. Die größte Schuld daran habe ich aber mir selbst zuzumessen, meinem Mangel an Eifer und Ausdauer. Ich habe später eine größere Fertigkeit im Zeichnen und im richtigen Sehen der kon¬ kreten Formen oft sehr schmerzlich vermißt. Mein trefflicher Vater aber ist daran schuldlos. Er ließ uus jede Gelegenheit, bei der es etwas zu lernen gab, benutzen. Wurde in der Schule ein Bergwerk gezeigt oder kam eine Menagerie in die Stadt oder auch einmal ein einzelner Elefant oder ein wanderndes Museum, ein Rezi¬ tator oder ein Mann, der naturwissenschaftliche Vorträge hielt oder vergrößerte Schattenbilder mit einem sogenannten Hydrooxygengas-Mikroskop zeigte, nie wurde uns für solche Dinge, und wenn sie sich schließlich als Schnurrpfeifereien ent¬ puppten, der nötige Groschen versagt. Nur vom Theater hielt mein Vater nicht viel, wenigstens soweit es sich um uns Kinder handelte. Der Musentempel in Quedlinburg war freilich in meiner Jugend dürftig genug. Auf dem Mummental, einem Gutshöfe, der für landwirt- schaftliche Zwecke nicht mehr benutzt wurde, hatte man eine alte, geräumige Scheune, so gut oder so schlecht es gehn wollte, zum Schauspielhaus ausgebaut. Es war ein öder, häßlicher Raum, aber doch gaben wandernde Schanspielertruppen dort von Zeit zu Zeit Vorstellungen. Einige Jahre lang kamen sogar die herzoglichen Hofschauspieler aus Ballenstedt alljährlich für einige Wochen nach Quedlinburg und spielten dort, nebenbei gesagt, recht gut. Der Vater der nachmals so berühmt ge- wordnen Johanna Wagner war in Ballenstedt als Baßbuffo engagiert, und seine Tochter Johanna, später Frau Wagner-Jachmann, hat in Quedlinburg zum ersten¬ mal als Fanchon die Bretter betreten, die die Welt bedeuten. Natürlich zog uns Kinder das geheimnisvolle, alte Schauspielhaus mächtig an. Mein Vater aber wollte nichts davon wissen, und uns ein Theaterbillctt zu kaufen, dazu bekamen wir kein Geld. Nur wenn einmal während der toten Saison ein sogenanntes mechanisches oder Puppentheater in das alte Schauspielhaus einzog, und dort die Erstürmung von Magdeburg durch Tilly aufgeführt wurde, ging mein Vater mit uns hin. Das genügte uns aber nicht. Es war auch dürftig genug, und es ging bei diesen Vorstellungen unglaublich kleinstädtisch und harmlos, doch aber nicht ohne einen gewissen Radau her. Auf den Anschlagzetteln hatte gestanden: „Bei voll¬ ständig besetzten? Orchester." Als wir aber hinkamen und unsre Sitze auf dem ersten Patz eingenommen, unsre Augen steh auch an das Dunkel des durch einige Öllampen nur äußerst schwach beleuchteten Raumes gewöhnt hatten, sahen wir, daß das Orchester nur aus einem stadtbekannten, sehr dicken Musiker namens Elias und dessen noch jungem Sohn bestand, die sich anschickten, der Vater mit der Geige, der Sohn mit der Pickelflöte „das vollständig besetzte Orchester" zu spielen. Darüber fing aber das enttäuschte Publikum an laut zu murren. Man rief Plattdeutsch: „Wat is denn dat? Dat is kein Orschester. Dat is man bloß Ölglas un sin Sohne! Ölglas rut!" Dabei erhob sich ein ungeheures Trampeln, Zischen, Schreien und Quietschen. Elias aber ließ sich nicht irremachen und fing ruhig an, einen Walzer oder eine Polka zu geigen. Er brachte auch den Lärm wirklich zur Ruhe, und Tilly im roten Rock eroberte wirklich vor unsern Angen das brennende Magdeburg. Die Sache hatte uns zwar belustigt; wir behaupteten aber, daß wir dieses Stück zu Hause auf unserm kleinen Puppentheater viel besser aufführten. Mein Vater gab zu, daß die Vorstellung Wohl einiges zu wünsche» übrig gelassen habe. Wenn wir ihn aber quälten, er möge doch mit uns nur ein einzigesmal in das „ordentliche" Theater gehn, so vertröstete er uns regelmäßig auf seine beiden Lieblingsstücke, die aber nie gegeben wurden. Das eine war ein Lustspiel: „Sieben Mädchen in Uniform," und das andre war die Oper „Joseph in Ägypten" von Mehul. Ich wenigstens habe es nicht erlebt, daß eins dieser Stücke in Quedlin¬ burg gegeben wurde." Desto größer war meine Neugier auf das „ordentliche Theater. Ich war

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/434>, abgerufen am 26.11.2024.