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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Aus der Jugendzeit

Mehr als das Theater interessierte mich damals "das Bruch/' ein frucht¬
barer, ehemals sumpfiger, allmählich aber rationell meliorierter Landstrich zwischen
dem Huywalde und dem Elm. Im Bruch und an seinem Rande liegen eine ganze
Reihe stattlicher Dörfer. Diese Dörfer aber waren in meiner Jugend das Hnupt-
absatzgebiet für den in der Brennerei meines Vaters hergestellten Alkohol. Hier
wohnten unsre "Kundleute," das heißt behäbige Bauern, die zugleich Schaukwirte
waren. Von Zeit zu Zeit kamen sie mit ihren stattlichen Gespannen nach Quedlin¬
burg, um dort ihre leeren Brauutweiufcisser wieder füllen zu lassen. Sie spannten
dann in unserm Hause aus, wurden freundlich aufgenommen und als altbekannte
Gäste des Hauses mit einer gewissen Vertraulichkeit behandelt. Sie aßen mit an
unserm Tisch und übernachteten in einem besonders für sie bereit gehaltnen Zimmer,
der Kuudmannskammer. Ju der Frühe des andern Tags fuhren sie dann mit
ihren inzwischen gefüllten Fässern und den etwa sonst noch in der Stadt gemachten
Einkäufen wieder ab. Sie waren auch für uns Kinder gern gesehene Gäste.
Meistens brachten sie uns kleine Geschenke mit: Kiebitzeier, besonders schönes Obst,
Erdäpfel, auch selbst gezimmertes Spielwerk, zum Beispiel eine mannshohe Windmühle
und ähnliches. In ihren laugen, dunkelblauen oder schwarzen, rot gefütterten Röcken
Süden sie äußerst stattlich aus. Sie waren nicht ohne hartköpfiges Selbstbewußt¬
sein, rechte Typen des wohl sanierten niedersächsischen Bauern. Abends nach Tisch
saßen die anwesenden Kundleute mit meinen Eltern, uns Kindern und auch wohl
dem einen oder dem andern Nachbarn in unsrer Wohnstube um den großen Tisch
herum. Dort wurden dann allerlei nützliche, zuweilen sehr lebhafte und ergötzliche
Gespräche geführt. Ich entsinne mich namentlich der bei solchen Gelegenheiten ge-
pflvgueu Unterhaltungen über die damals in der Luft liegenden kirchlichen und
politischen Fragen. In dem Dorfe Anderbeck um Huy und in den benachbarten
Ortschaften wohnte eine große Zahl unsrer Kundleute. In Anderbeck wirkte zu
teuer Zeit ein Pastor König, ein Hnuptführer der sogenannten Lichtfreunde. Diese
Lichtfreunde hielten in den Jahren vor 1848 unter Führung der Pastoren Uhlich
"us Pömmelte und Wislicenus aus Halle auf dem Bahnhofe in Köthen freisinnig
gerichtete, zahlreich besuchte Versammlungen ab, und die dort verhandelten Fragen
bewegten damals die Herzen bis in die Tiefe. Unsre Kundleute aus Audcrbcck
und der Umgegend waren natürlich von der lichtfreundlichen Bewegung ebenso¬
wenig unberührt geblieben wie mein Vater. Nur schnitten sie nach echter Banernnrt
"lie Fragen mehr oder weniger persönlich auf den ihnen bekannten Pastor König
gu- Teils nahmen sie für, teils gegen ihn Stellung, und zuweilen gab es aus
diesem Anlaß an unserm Tische heiße Kämpfe. Doch gelang es meinem Vater
immer, den äußern Frieden wieder herzustellen. Ich war noch zu jung, als daß
die Einzelheiten dieser lebhaften Erörterungen bei mir haften geblieben wären.
Nur eine dieser Szenen ist bei mir unvergessen. Eines Abends hatte man lebhaft
über die Begriffe Gesetz und Evangelium diskutiert. Dabei schlug ein Kundmann
"us Dingelstedt am Huy, namens Römmer, ein kluger Mann, im Eifer des Ge¬
sprächs mit der Hand auf den Tisch und rief ans: Was ist denn ein Gesetz?
Wißt ihr denn, was ein Gesetz ist? Die Anwesenden, auch mein Vater, schwiegen.
Keiner von ihnen mochte wohl im Augenblick den rechten Ausdruck dafür finden,
was für thu der Begriff des Gesetzes bedeutete. Römmer aber sagte ruhig und
würdevoll: Ich will es euch richtig sagen, ein Gesetz ist ein bekannt gemachter
Wille. Dagegen konnte niemand etwas einwenden, und das Gespräch gewann dnrchmese Wendung wieder eine ruhigere und sachliche Richtung. Mein Vater hat später
diese von dem Bauern Römmer aus Dingelstedt gegebne Begriffsbestimmung des
Gesetzes noch oft zitiert. Jedenfalls war sie die erste juristische Definition, die ichw meinem Leben gehört habe. Ich habe sie, so jung ich damals war, nie wieder
vergessen. Als ich später in Heidelberg studierte, spitzte ich die Ohren, als der
-Professur vou Vangerow in seiner Paudektenvorlesung die Frage auswarf: Was ist
ein Gesetz? Lächelnd mußte ich daran denken, daß ich schon als kleiner Knabe aus


Aus der Jugendzeit

Mehr als das Theater interessierte mich damals „das Bruch/' ein frucht¬
barer, ehemals sumpfiger, allmählich aber rationell meliorierter Landstrich zwischen
dem Huywalde und dem Elm. Im Bruch und an seinem Rande liegen eine ganze
Reihe stattlicher Dörfer. Diese Dörfer aber waren in meiner Jugend das Hnupt-
absatzgebiet für den in der Brennerei meines Vaters hergestellten Alkohol. Hier
wohnten unsre „Kundleute," das heißt behäbige Bauern, die zugleich Schaukwirte
waren. Von Zeit zu Zeit kamen sie mit ihren stattlichen Gespannen nach Quedlin¬
burg, um dort ihre leeren Brauutweiufcisser wieder füllen zu lassen. Sie spannten
dann in unserm Hause aus, wurden freundlich aufgenommen und als altbekannte
Gäste des Hauses mit einer gewissen Vertraulichkeit behandelt. Sie aßen mit an
unserm Tisch und übernachteten in einem besonders für sie bereit gehaltnen Zimmer,
der Kuudmannskammer. Ju der Frühe des andern Tags fuhren sie dann mit
ihren inzwischen gefüllten Fässern und den etwa sonst noch in der Stadt gemachten
Einkäufen wieder ab. Sie waren auch für uns Kinder gern gesehene Gäste.
Meistens brachten sie uns kleine Geschenke mit: Kiebitzeier, besonders schönes Obst,
Erdäpfel, auch selbst gezimmertes Spielwerk, zum Beispiel eine mannshohe Windmühle
und ähnliches. In ihren laugen, dunkelblauen oder schwarzen, rot gefütterten Röcken
Süden sie äußerst stattlich aus. Sie waren nicht ohne hartköpfiges Selbstbewußt¬
sein, rechte Typen des wohl sanierten niedersächsischen Bauern. Abends nach Tisch
saßen die anwesenden Kundleute mit meinen Eltern, uns Kindern und auch wohl
dem einen oder dem andern Nachbarn in unsrer Wohnstube um den großen Tisch
herum. Dort wurden dann allerlei nützliche, zuweilen sehr lebhafte und ergötzliche
Gespräche geführt. Ich entsinne mich namentlich der bei solchen Gelegenheiten ge-
pflvgueu Unterhaltungen über die damals in der Luft liegenden kirchlichen und
politischen Fragen. In dem Dorfe Anderbeck um Huy und in den benachbarten
Ortschaften wohnte eine große Zahl unsrer Kundleute. In Anderbeck wirkte zu
teuer Zeit ein Pastor König, ein Hnuptführer der sogenannten Lichtfreunde. Diese
Lichtfreunde hielten in den Jahren vor 1848 unter Führung der Pastoren Uhlich
"us Pömmelte und Wislicenus aus Halle auf dem Bahnhofe in Köthen freisinnig
gerichtete, zahlreich besuchte Versammlungen ab, und die dort verhandelten Fragen
bewegten damals die Herzen bis in die Tiefe. Unsre Kundleute aus Audcrbcck
und der Umgegend waren natürlich von der lichtfreundlichen Bewegung ebenso¬
wenig unberührt geblieben wie mein Vater. Nur schnitten sie nach echter Banernnrt
"lie Fragen mehr oder weniger persönlich auf den ihnen bekannten Pastor König
gu- Teils nahmen sie für, teils gegen ihn Stellung, und zuweilen gab es aus
diesem Anlaß an unserm Tische heiße Kämpfe. Doch gelang es meinem Vater
immer, den äußern Frieden wieder herzustellen. Ich war noch zu jung, als daß
die Einzelheiten dieser lebhaften Erörterungen bei mir haften geblieben wären.
Nur eine dieser Szenen ist bei mir unvergessen. Eines Abends hatte man lebhaft
über die Begriffe Gesetz und Evangelium diskutiert. Dabei schlug ein Kundmann
"us Dingelstedt am Huy, namens Römmer, ein kluger Mann, im Eifer des Ge¬
sprächs mit der Hand auf den Tisch und rief ans: Was ist denn ein Gesetz?
Wißt ihr denn, was ein Gesetz ist? Die Anwesenden, auch mein Vater, schwiegen.
Keiner von ihnen mochte wohl im Augenblick den rechten Ausdruck dafür finden,
was für thu der Begriff des Gesetzes bedeutete. Römmer aber sagte ruhig und
würdevoll: Ich will es euch richtig sagen, ein Gesetz ist ein bekannt gemachter
Wille. Dagegen konnte niemand etwas einwenden, und das Gespräch gewann dnrchmese Wendung wieder eine ruhigere und sachliche Richtung. Mein Vater hat später
diese von dem Bauern Römmer aus Dingelstedt gegebne Begriffsbestimmung des
Gesetzes noch oft zitiert. Jedenfalls war sie die erste juristische Definition, die ichw meinem Leben gehört habe. Ich habe sie, so jung ich damals war, nie wieder
vergessen. Als ich später in Heidelberg studierte, spitzte ich die Ohren, als der
-Professur vou Vangerow in seiner Paudektenvorlesung die Frage auswarf: Was ist
ein Gesetz? Lächelnd mußte ich daran denken, daß ich schon als kleiner Knabe aus


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[0431] Aus der Jugendzeit Mehr als das Theater interessierte mich damals „das Bruch/' ein frucht¬ barer, ehemals sumpfiger, allmählich aber rationell meliorierter Landstrich zwischen dem Huywalde und dem Elm. Im Bruch und an seinem Rande liegen eine ganze Reihe stattlicher Dörfer. Diese Dörfer aber waren in meiner Jugend das Hnupt- absatzgebiet für den in der Brennerei meines Vaters hergestellten Alkohol. Hier wohnten unsre „Kundleute," das heißt behäbige Bauern, die zugleich Schaukwirte waren. Von Zeit zu Zeit kamen sie mit ihren stattlichen Gespannen nach Quedlin¬ burg, um dort ihre leeren Brauutweiufcisser wieder füllen zu lassen. Sie spannten dann in unserm Hause aus, wurden freundlich aufgenommen und als altbekannte Gäste des Hauses mit einer gewissen Vertraulichkeit behandelt. Sie aßen mit an unserm Tisch und übernachteten in einem besonders für sie bereit gehaltnen Zimmer, der Kuudmannskammer. Ju der Frühe des andern Tags fuhren sie dann mit ihren inzwischen gefüllten Fässern und den etwa sonst noch in der Stadt gemachten Einkäufen wieder ab. Sie waren auch für uns Kinder gern gesehene Gäste. Meistens brachten sie uns kleine Geschenke mit: Kiebitzeier, besonders schönes Obst, Erdäpfel, auch selbst gezimmertes Spielwerk, zum Beispiel eine mannshohe Windmühle und ähnliches. In ihren laugen, dunkelblauen oder schwarzen, rot gefütterten Röcken Süden sie äußerst stattlich aus. Sie waren nicht ohne hartköpfiges Selbstbewußt¬ sein, rechte Typen des wohl sanierten niedersächsischen Bauern. Abends nach Tisch saßen die anwesenden Kundleute mit meinen Eltern, uns Kindern und auch wohl dem einen oder dem andern Nachbarn in unsrer Wohnstube um den großen Tisch herum. Dort wurden dann allerlei nützliche, zuweilen sehr lebhafte und ergötzliche Gespräche geführt. Ich entsinne mich namentlich der bei solchen Gelegenheiten ge- pflvgueu Unterhaltungen über die damals in der Luft liegenden kirchlichen und politischen Fragen. In dem Dorfe Anderbeck um Huy und in den benachbarten Ortschaften wohnte eine große Zahl unsrer Kundleute. In Anderbeck wirkte zu teuer Zeit ein Pastor König, ein Hnuptführer der sogenannten Lichtfreunde. Diese Lichtfreunde hielten in den Jahren vor 1848 unter Führung der Pastoren Uhlich "us Pömmelte und Wislicenus aus Halle auf dem Bahnhofe in Köthen freisinnig gerichtete, zahlreich besuchte Versammlungen ab, und die dort verhandelten Fragen bewegten damals die Herzen bis in die Tiefe. Unsre Kundleute aus Audcrbcck und der Umgegend waren natürlich von der lichtfreundlichen Bewegung ebenso¬ wenig unberührt geblieben wie mein Vater. Nur schnitten sie nach echter Banernnrt "lie Fragen mehr oder weniger persönlich auf den ihnen bekannten Pastor König gu- Teils nahmen sie für, teils gegen ihn Stellung, und zuweilen gab es aus diesem Anlaß an unserm Tische heiße Kämpfe. Doch gelang es meinem Vater immer, den äußern Frieden wieder herzustellen. Ich war noch zu jung, als daß die Einzelheiten dieser lebhaften Erörterungen bei mir haften geblieben wären. Nur eine dieser Szenen ist bei mir unvergessen. Eines Abends hatte man lebhaft über die Begriffe Gesetz und Evangelium diskutiert. Dabei schlug ein Kundmann "us Dingelstedt am Huy, namens Römmer, ein kluger Mann, im Eifer des Ge¬ sprächs mit der Hand auf den Tisch und rief ans: Was ist denn ein Gesetz? Wißt ihr denn, was ein Gesetz ist? Die Anwesenden, auch mein Vater, schwiegen. Keiner von ihnen mochte wohl im Augenblick den rechten Ausdruck dafür finden, was für thu der Begriff des Gesetzes bedeutete. Römmer aber sagte ruhig und würdevoll: Ich will es euch richtig sagen, ein Gesetz ist ein bekannt gemachter Wille. Dagegen konnte niemand etwas einwenden, und das Gespräch gewann dnrchmese Wendung wieder eine ruhigere und sachliche Richtung. Mein Vater hat später diese von dem Bauern Römmer aus Dingelstedt gegebne Begriffsbestimmung des Gesetzes noch oft zitiert. Jedenfalls war sie die erste juristische Definition, die ichw meinem Leben gehört habe. Ich habe sie, so jung ich damals war, nie wieder vergessen. Als ich später in Heidelberg studierte, spitzte ich die Ohren, als der -Professur vou Vangerow in seiner Paudektenvorlesung die Frage auswarf: Was ist ein Gesetz? Lächelnd mußte ich daran denken, daß ich schon als kleiner Knabe aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/431>, abgerufen am 26.11.2024.