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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Leipziger Theaterplauderei

Wir bilden uns nicht ein, in diesem Aufsatz irgend etwas gesagt zu haben,
was für die "Tolstoigemeinde" von Wichtigkeit wäre, wir haben ihn auch nicht
für sie geschrieben, sondern für die vielen, denen bei dein Anwachsen der Tolstoi¬
bibliothek und den Anpreisungen ihrer Verarbeiter in allen Formen der litera¬
rischen Mitteilung himmelangst werden könnte in dem Gedanken: Muß ich denn
das alles lesen, um nicht in meiner Bildung zurückzubleiben? Es ist ja leider
so, wir Deutschen haben als politisches Volk die Kinderschuhe noch lange nicht
ausgetreten, und in der Literatur, wo wir doch seit hundert Jahren als das Volk
der Dichter und der Denker gelten wollen, da lauft der gute deutsche Hans
häudcklatschend hinter jedem fremdländischen Gefieder her, ob es sich Tolstoi
oder Gabriele d'Annunzio oder Maeterlinck oder gar Sienkiewiez oder wie immer
nennen mag, und wenn anch diese Fremden von uns Deutschen noch so wenig
wissen wollen. Auch Leo Tolstoi ist bekanntlich nicht gerade unser Freund.
Da ziemt es sich doch wohl auch einmal darüber nachzudenken, ob denn wirklich
die Nöte des heiligen Rußlands so sehr unsre eignen Nöte und Sorgen sind, daß
wir darüber in Teilnahme und Begeisterung uns selbst vergessen und von unsrer
leidigen Fähigkeit, in eine fremde Haut zu schlüpfen, wieder einmal einen nach¬
gerade unzeitgemäßer und höchst lächerlichen Gebrauch machen. Daß der Buch¬
handel, der mit seinen Artikeln verdienen will und muß, seine Prospekte auf
die höchste Tonlage stimmt, ist eine Konveuienz, der man sich fügt, weil
man sie kennt und versteht. Wenn aber literarische Halbbildung -- nach der
zutreffenden Bezeichnung Samson-Himmelstjernas -- sich ausschließlich am
Gewiß eines einzelnen importierten Produkts berauscht, alle Maßstäbe verliert,
sich einen wissenschaftlichen Mantel umhängt und Zungenschlag vollführt, so
wird es erlaubt sein, darnu zu erinnern, daß Reklame und wissenschaftliche
Kritik zwei ganz verschiedne Dinge sind.




Leipziger Theaterplauderei
Wilhelm Teil

putschen Schauspielern liegen die meisten Rollen im Tell besser als
lsvlche, in denen sie Hofleute, große Herren und verschmitzte Intri¬
ganten darstellen sollen. Barbaren, wofür der Engländer und der
Franzose die Deutschen halten, sind sie nun zwar nicht, denn dazu sind
bei ihnen Geist und Herz meist zu sorgsam gebildet, aber ihre Haltung
!und ihr Betragen haben dafür oft etwas, was an die taciteischen
Schilderungen von der urwüchsigen Biederkeit der alten Germanen erinnert. Wenn
auch das viele Bier und die zu dessen kommentmäßiger Vertilgung nötigen Sitzungen
an der bisweilen etwas ungeschlachten Erscheinung des Deutschen schon in jungen
Jahren, mehr aber noch im vorgerückten Alter ihren Anteil haben, so ist doch der
eigentliche Grund, warum der mit Deutschen verkehrende Ausländer es bisweilen
mit einem ihm etwas unheimlichen, nur scheinbar gezähmten Wesen zu tun zu haben
glaubt, in der Rasse begründet. Beschreiben läßt sich das nicht und erklären noch
weniger. Die andern müssen uns nehmen, wie wir sind, und wir selbst müssen


Leipziger Theaterplauderei

Wir bilden uns nicht ein, in diesem Aufsatz irgend etwas gesagt zu haben,
was für die „Tolstoigemeinde" von Wichtigkeit wäre, wir haben ihn auch nicht
für sie geschrieben, sondern für die vielen, denen bei dein Anwachsen der Tolstoi¬
bibliothek und den Anpreisungen ihrer Verarbeiter in allen Formen der litera¬
rischen Mitteilung himmelangst werden könnte in dem Gedanken: Muß ich denn
das alles lesen, um nicht in meiner Bildung zurückzubleiben? Es ist ja leider
so, wir Deutschen haben als politisches Volk die Kinderschuhe noch lange nicht
ausgetreten, und in der Literatur, wo wir doch seit hundert Jahren als das Volk
der Dichter und der Denker gelten wollen, da lauft der gute deutsche Hans
häudcklatschend hinter jedem fremdländischen Gefieder her, ob es sich Tolstoi
oder Gabriele d'Annunzio oder Maeterlinck oder gar Sienkiewiez oder wie immer
nennen mag, und wenn anch diese Fremden von uns Deutschen noch so wenig
wissen wollen. Auch Leo Tolstoi ist bekanntlich nicht gerade unser Freund.
Da ziemt es sich doch wohl auch einmal darüber nachzudenken, ob denn wirklich
die Nöte des heiligen Rußlands so sehr unsre eignen Nöte und Sorgen sind, daß
wir darüber in Teilnahme und Begeisterung uns selbst vergessen und von unsrer
leidigen Fähigkeit, in eine fremde Haut zu schlüpfen, wieder einmal einen nach¬
gerade unzeitgemäßer und höchst lächerlichen Gebrauch machen. Daß der Buch¬
handel, der mit seinen Artikeln verdienen will und muß, seine Prospekte auf
die höchste Tonlage stimmt, ist eine Konveuienz, der man sich fügt, weil
man sie kennt und versteht. Wenn aber literarische Halbbildung — nach der
zutreffenden Bezeichnung Samson-Himmelstjernas — sich ausschließlich am
Gewiß eines einzelnen importierten Produkts berauscht, alle Maßstäbe verliert,
sich einen wissenschaftlichen Mantel umhängt und Zungenschlag vollführt, so
wird es erlaubt sein, darnu zu erinnern, daß Reklame und wissenschaftliche
Kritik zwei ganz verschiedne Dinge sind.




Leipziger Theaterplauderei
Wilhelm Teil

putschen Schauspielern liegen die meisten Rollen im Tell besser als
lsvlche, in denen sie Hofleute, große Herren und verschmitzte Intri¬
ganten darstellen sollen. Barbaren, wofür der Engländer und der
Franzose die Deutschen halten, sind sie nun zwar nicht, denn dazu sind
bei ihnen Geist und Herz meist zu sorgsam gebildet, aber ihre Haltung
!und ihr Betragen haben dafür oft etwas, was an die taciteischen
Schilderungen von der urwüchsigen Biederkeit der alten Germanen erinnert. Wenn
auch das viele Bier und die zu dessen kommentmäßiger Vertilgung nötigen Sitzungen
an der bisweilen etwas ungeschlachten Erscheinung des Deutschen schon in jungen
Jahren, mehr aber noch im vorgerückten Alter ihren Anteil haben, so ist doch der
eigentliche Grund, warum der mit Deutschen verkehrende Ausländer es bisweilen
mit einem ihm etwas unheimlichen, nur scheinbar gezähmten Wesen zu tun zu haben
glaubt, in der Rasse begründet. Beschreiben läßt sich das nicht und erklären noch
weniger. Die andern müssen uns nehmen, wie wir sind, und wir selbst müssen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/42>, abgerufen am 25.11.2024.