Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.Die Verfassungsfrage in Llsaß - Lothringen eines preußischen Generals, der z. B. in Hagenau in Garnison steht, in Elsaß- Wenn der preußische Staat im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts den Die Elsaß-Lothringer nun, die bis vor kurzem in den großen Verhält¬ Die Verfassungsfrage in Llsaß - Lothringen eines preußischen Generals, der z. B. in Hagenau in Garnison steht, in Elsaß- Wenn der preußische Staat im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts den Die Elsaß-Lothringer nun, die bis vor kurzem in den großen Verhält¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0404" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/241618"/> <fw type="header" place="top"> Die Verfassungsfrage in Llsaß - Lothringen</fw><lb/> <p xml:id="ID_1623" prev="#ID_1622"> eines preußischen Generals, der z. B. in Hagenau in Garnison steht, in Elsaß-<lb/> Lothringen weder Forstreferendar noch Regierungsassessor oder Richter werden.<lb/> Dasselbe gilt von den Söhnen der Intendantur-, Militnrjustiz-, Post-, Eisen¬<lb/> bahn- und Reichsbankbeamten, die im Reichslande ihren dienstlichen Wohnsitz,<lb/> aber nicht die elsaß-lothringische Staatsangehörigkeit haben. Nach der zweiten<lb/> Auslegung soll bei Konkurrenz zwischen Bewerbern aus eingewanderten und<lb/> autochthonen Familien allemal der Autochthone den Vorrang erhalten. In<lb/> der Sitzung des Landesausschusses vom 28. Februar 1901 hat der Abge¬<lb/> ordneten Dr. Ricklin ganz offen die Theorie verfochten, daß es zwei Klassen<lb/> von Elsaß-Lothringern gebe: Autochthone und Eingewanderte; die Angehörigen<lb/> der ersten Klasse müßten bei der Besetzung von Assistentenstellen in den medi¬<lb/> zinischen Kliniken besonders berücksichtigt werden; weigere sich ein Professor,<lb/> autochthone Assistenten anzustellen, so solle ihm das Gehalt gestrichen werden!<lb/> In dem amtlichen Sitzungsbericht sind die Ausführungen des Dr. Ricklin sehr<lb/> abgeschwächt; den genanen Wortlaut seiner Äußerungen kann man jedoch aus<lb/> der „Straßburger Post" vom 1. März 1901 ersehen. Daß die Ansicht des<lb/> Dr. Ricklin nicht allein steht, beweist ein Artikel der „Straßburger Post" über<lb/> „Einheimische Beamte" vom 13. November 1896, worin ausdrücklich festge¬<lb/> stellt wird: „Man verlangt geradezu, daß die Altdeutschen zugunsten der Ein¬<lb/> heimischen zurückgesetzt werden sollen."</p><lb/> <p xml:id="ID_1624"> Wenn der preußische Staat im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts den<lb/> Grundsatz „Preußen den Preußen" befolgt hätte, so würde die preußische und<lb/> die deutsche Geschichte, ja sogar die Weltgeschichte eine ganz andre Wendung<lb/> genommen haben. Unter den preußischen Feldmarschüllen würden die Mecklen¬<lb/> burger Blücher und Moltke, der Franke Gneisenau und der Sachse Manteuffel<lb/> fehlen; der Hannoveraner Scharnhorst wäre nicht preußischer Kriegsminister,<lb/> zwei andre Hannoveraner — Goeben und Hartmann — wären nicht preußische<lb/> Generale geworden. Die Eingewanderten Stein, Hardenberg und Scharnhorst<lb/> hätten den preußischen Staat nicht reorganisiert; der Kurhesse Motz hätte nicht<lb/> den Zollverein gegründet; der Sachse Otto Manteuffel wäre nicht nach Olmütz<lb/> gegangen. Niebuhr, Altenstein, Eichhorn, Savigny, Bunsen, Nadowitz, Beth¬<lb/> mann-Hollweg, Schleinitz, Leonhard, Miquel, Chlodwig Hohenlohe, Bülow<lb/> Vater und Sohn, die beiden Bernstorff und die beiden Hammerstein und viele<lb/> andre hohe Beamte hätten nicht einflußreiche Stellungen im preußischen Staats¬<lb/> dienst erlangen können; kein einziger von ihnen ist ein preußischer Autochthone<lb/> gewesen. In den deutschen Mittelstaaten dagegen besteht eine festgeschlossene<lb/> Oligarchie verwandter und verschwägerter Beamtenfamilien, die mit vereinte»<lb/> Kräften dafür sorgen, daß die besten Stellen ihrem Klüngel vorbehalten bleiben.<lb/> Klassische Beispiele für diese Nepotenwirtschaft, die der unausrottbare Krebs¬<lb/> schaden aller Kleinstaaterei ist, geben die Geschichte von Hannover und die von<lb/> Württemberg. Daß einmal ein Fremder in einem deutschen Mittelstaat Mi¬<lb/> nister wird, gehört zu den größten Seltenheiten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1625" next="#ID_1626"> Die Elsaß-Lothringer nun, die bis vor kurzem in den großen Verhält¬<lb/> nissen des französischen Staats gelebt haben, sehen heute ihr politisches Ideal<lb/> nicht mehr in dem freien Wettbewerb aller Kräfte, wie er in Frankreich und<lb/> in Preußen besteht, sondern in der Beschränkung des freien Wettbewerbs zu-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0404]
Die Verfassungsfrage in Llsaß - Lothringen
eines preußischen Generals, der z. B. in Hagenau in Garnison steht, in Elsaß-
Lothringen weder Forstreferendar noch Regierungsassessor oder Richter werden.
Dasselbe gilt von den Söhnen der Intendantur-, Militnrjustiz-, Post-, Eisen¬
bahn- und Reichsbankbeamten, die im Reichslande ihren dienstlichen Wohnsitz,
aber nicht die elsaß-lothringische Staatsangehörigkeit haben. Nach der zweiten
Auslegung soll bei Konkurrenz zwischen Bewerbern aus eingewanderten und
autochthonen Familien allemal der Autochthone den Vorrang erhalten. In
der Sitzung des Landesausschusses vom 28. Februar 1901 hat der Abge¬
ordneten Dr. Ricklin ganz offen die Theorie verfochten, daß es zwei Klassen
von Elsaß-Lothringern gebe: Autochthone und Eingewanderte; die Angehörigen
der ersten Klasse müßten bei der Besetzung von Assistentenstellen in den medi¬
zinischen Kliniken besonders berücksichtigt werden; weigere sich ein Professor,
autochthone Assistenten anzustellen, so solle ihm das Gehalt gestrichen werden!
In dem amtlichen Sitzungsbericht sind die Ausführungen des Dr. Ricklin sehr
abgeschwächt; den genanen Wortlaut seiner Äußerungen kann man jedoch aus
der „Straßburger Post" vom 1. März 1901 ersehen. Daß die Ansicht des
Dr. Ricklin nicht allein steht, beweist ein Artikel der „Straßburger Post" über
„Einheimische Beamte" vom 13. November 1896, worin ausdrücklich festge¬
stellt wird: „Man verlangt geradezu, daß die Altdeutschen zugunsten der Ein¬
heimischen zurückgesetzt werden sollen."
Wenn der preußische Staat im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts den
Grundsatz „Preußen den Preußen" befolgt hätte, so würde die preußische und
die deutsche Geschichte, ja sogar die Weltgeschichte eine ganz andre Wendung
genommen haben. Unter den preußischen Feldmarschüllen würden die Mecklen¬
burger Blücher und Moltke, der Franke Gneisenau und der Sachse Manteuffel
fehlen; der Hannoveraner Scharnhorst wäre nicht preußischer Kriegsminister,
zwei andre Hannoveraner — Goeben und Hartmann — wären nicht preußische
Generale geworden. Die Eingewanderten Stein, Hardenberg und Scharnhorst
hätten den preußischen Staat nicht reorganisiert; der Kurhesse Motz hätte nicht
den Zollverein gegründet; der Sachse Otto Manteuffel wäre nicht nach Olmütz
gegangen. Niebuhr, Altenstein, Eichhorn, Savigny, Bunsen, Nadowitz, Beth¬
mann-Hollweg, Schleinitz, Leonhard, Miquel, Chlodwig Hohenlohe, Bülow
Vater und Sohn, die beiden Bernstorff und die beiden Hammerstein und viele
andre hohe Beamte hätten nicht einflußreiche Stellungen im preußischen Staats¬
dienst erlangen können; kein einziger von ihnen ist ein preußischer Autochthone
gewesen. In den deutschen Mittelstaaten dagegen besteht eine festgeschlossene
Oligarchie verwandter und verschwägerter Beamtenfamilien, die mit vereinte»
Kräften dafür sorgen, daß die besten Stellen ihrem Klüngel vorbehalten bleiben.
Klassische Beispiele für diese Nepotenwirtschaft, die der unausrottbare Krebs¬
schaden aller Kleinstaaterei ist, geben die Geschichte von Hannover und die von
Württemberg. Daß einmal ein Fremder in einem deutschen Mittelstaat Mi¬
nister wird, gehört zu den größten Seltenheiten.
Die Elsaß-Lothringer nun, die bis vor kurzem in den großen Verhält¬
nissen des französischen Staats gelebt haben, sehen heute ihr politisches Ideal
nicht mehr in dem freien Wettbewerb aller Kräfte, wie er in Frankreich und
in Preußen besteht, sondern in der Beschränkung des freien Wettbewerbs zu-
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