Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die verfassmigsfrage in Llsaß-Lothringen

zu wollen . . , das kann doch wohl als ein unbegreiflicher Irrtum bezeichnet
werden." -- "Man war verblüfft, einen glorreichen preußischen Soldaten,
Statthalter des deutschen Kaisers, hauptsächlich von Neichsfeinden umgeben zu
sehen. Die Leute bemerkten gleich, wie er den frechsten unter ihnen Avancen
und Besuche machte, die nicht einmal erwidert wurden, wie er den oft sehr
unbescheidnen, ja gesetzwidrigen Begehrlichkeiten dieser Herren willfährig
entgegenkam. Mit einem Worte: sie sahen alle rändigen Schafe angelockt und
am Herzen gehegt, während der Deutschgesinnte an die Wand gedrückt wurde."

Der beste Beweis für das unheilvolle Wirken Manteuffels sind die
Reichstagswahlen vom 21. Februar 1837, die schwerste Niederlage, die die
deutsche Sache jemals in Elsaß-Lothringen erlitten hat. Auf Grund der an¬
geführten Tatsachen erscheint die Behauptung gerechtfertigt, daß die günstigen
politischen Verhältnisse, die heute in Elsaß-Lothringen bestehn, noch viel schneller
und sicherer eingetreten wären, wenn die Verwaltung nach deu bewährten
Grundsätzen des Oberpräsidenten von Möller weitergeführt worden wäre.

Durch die Trennung der Reichs- von der Landesregierung ist nicht bloß
die Macht der Landesregierung erhöht worden, sondern zugleich auch die
Macht des Landesausschusses. Dieser hat nun den Machtzuwachs vielfach
-- besonders in sozialpolitischen Fragen -- dazu benutzt, notwendige Reformen
zu verhindern oder wenigstens zu verzögern. Dieser hemmende Einfluß des
Landesausschusses zeigt sich am deutlichsten auf dem Gebiete der Armenpflege.
In Elsaß-Lothringen besteht nicht die deutsche obligatorische Armenpflege,
sondern die französische Art der freiwilligen Armenpflege. In Deutschland
hat der Arme ein Recht auf Unterstützung, das er zwar nicht durch die
Klage, wohl aber durch eine Beschwerde geltend machen kann. In Elsaß-
Lothringen hat der Arme kein Recht, sondern nur einen moralischen Anspruch
auf Unterstützung; kein Kommunalverband kann gezwungen werden, den mora¬
lischen Anspruch des Armen auf Unterstützung zu befriedigen. Das Maß der
Unterstützung wird in Deutschland durch das Bedürfnis der Armen bestimmt;
in Elsaß-Lothringen ist das Maß der Unterstützung von dein Betrage der vor-
handnen Geldmittel abhängig. Die Mittel zur Unterstützung werden in Deutsch¬
land von den Kommunalverbänden, in Elsaß-Lothringen von den Armenrüten,
Hospizen und Hospitälern aufgebracht; diese Anstalten haben in der Regel
keine festen Einnahmen, sondern sind in der Hauptsache auf freiwillige Zu¬
wendungen von Privatpersonen und Gemeinden angewiesen.

Im Landcsausschuß ist es üblich, große Lobreden auf das französische
Verfahren der freiwilligen Armenpflege zu halten. Der Abgeordnete Winterer
zum Beispiel hat in der Sitzung vom 3. Mürz 1896 behauptet, die freiwillige
Unterstützung sei nicht blos; vorteilhafter, sondern auch edler als die Zwangs¬
unterstützung. Ganz anders dagegen lauten die Urteile, die Fachmänner wie
Ruland und Schwander in ihren Schriften über das reichsländische Armen¬
wesen gefällt haben. Schwander sagt in dem Vorwort zu seinem Buche
"Das Armenrecht in Elsaß-Lothringen" (1899), daß, abgesehen von einigen


Die verfassmigsfrage in Llsaß-Lothringen

zu wollen . . , das kann doch wohl als ein unbegreiflicher Irrtum bezeichnet
werden." — „Man war verblüfft, einen glorreichen preußischen Soldaten,
Statthalter des deutschen Kaisers, hauptsächlich von Neichsfeinden umgeben zu
sehen. Die Leute bemerkten gleich, wie er den frechsten unter ihnen Avancen
und Besuche machte, die nicht einmal erwidert wurden, wie er den oft sehr
unbescheidnen, ja gesetzwidrigen Begehrlichkeiten dieser Herren willfährig
entgegenkam. Mit einem Worte: sie sahen alle rändigen Schafe angelockt und
am Herzen gehegt, während der Deutschgesinnte an die Wand gedrückt wurde."

Der beste Beweis für das unheilvolle Wirken Manteuffels sind die
Reichstagswahlen vom 21. Februar 1837, die schwerste Niederlage, die die
deutsche Sache jemals in Elsaß-Lothringen erlitten hat. Auf Grund der an¬
geführten Tatsachen erscheint die Behauptung gerechtfertigt, daß die günstigen
politischen Verhältnisse, die heute in Elsaß-Lothringen bestehn, noch viel schneller
und sicherer eingetreten wären, wenn die Verwaltung nach deu bewährten
Grundsätzen des Oberpräsidenten von Möller weitergeführt worden wäre.

Durch die Trennung der Reichs- von der Landesregierung ist nicht bloß
die Macht der Landesregierung erhöht worden, sondern zugleich auch die
Macht des Landesausschusses. Dieser hat nun den Machtzuwachs vielfach
— besonders in sozialpolitischen Fragen — dazu benutzt, notwendige Reformen
zu verhindern oder wenigstens zu verzögern. Dieser hemmende Einfluß des
Landesausschusses zeigt sich am deutlichsten auf dem Gebiete der Armenpflege.
In Elsaß-Lothringen besteht nicht die deutsche obligatorische Armenpflege,
sondern die französische Art der freiwilligen Armenpflege. In Deutschland
hat der Arme ein Recht auf Unterstützung, das er zwar nicht durch die
Klage, wohl aber durch eine Beschwerde geltend machen kann. In Elsaß-
Lothringen hat der Arme kein Recht, sondern nur einen moralischen Anspruch
auf Unterstützung; kein Kommunalverband kann gezwungen werden, den mora¬
lischen Anspruch des Armen auf Unterstützung zu befriedigen. Das Maß der
Unterstützung wird in Deutschland durch das Bedürfnis der Armen bestimmt;
in Elsaß-Lothringen ist das Maß der Unterstützung von dein Betrage der vor-
handnen Geldmittel abhängig. Die Mittel zur Unterstützung werden in Deutsch¬
land von den Kommunalverbänden, in Elsaß-Lothringen von den Armenrüten,
Hospizen und Hospitälern aufgebracht; diese Anstalten haben in der Regel
keine festen Einnahmen, sondern sind in der Hauptsache auf freiwillige Zu¬
wendungen von Privatpersonen und Gemeinden angewiesen.

Im Landcsausschuß ist es üblich, große Lobreden auf das französische
Verfahren der freiwilligen Armenpflege zu halten. Der Abgeordnete Winterer
zum Beispiel hat in der Sitzung vom 3. Mürz 1896 behauptet, die freiwillige
Unterstützung sei nicht blos; vorteilhafter, sondern auch edler als die Zwangs¬
unterstützung. Ganz anders dagegen lauten die Urteile, die Fachmänner wie
Ruland und Schwander in ihren Schriften über das reichsländische Armen¬
wesen gefällt haben. Schwander sagt in dem Vorwort zu seinem Buche
„Das Armenrecht in Elsaß-Lothringen" (1899), daß, abgesehen von einigen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0400" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/241614"/>
          <fw type="header" place="top"> Die verfassmigsfrage in Llsaß-Lothringen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1607" prev="#ID_1606"> zu wollen . . , das kann doch wohl als ein unbegreiflicher Irrtum bezeichnet<lb/>
werden." &#x2014; &#x201E;Man war verblüfft, einen glorreichen preußischen Soldaten,<lb/>
Statthalter des deutschen Kaisers, hauptsächlich von Neichsfeinden umgeben zu<lb/>
sehen. Die Leute bemerkten gleich, wie er den frechsten unter ihnen Avancen<lb/>
und Besuche machte, die nicht einmal erwidert wurden, wie er den oft sehr<lb/>
unbescheidnen, ja gesetzwidrigen Begehrlichkeiten dieser Herren willfährig<lb/>
entgegenkam. Mit einem Worte: sie sahen alle rändigen Schafe angelockt und<lb/>
am Herzen gehegt, während der Deutschgesinnte an die Wand gedrückt wurde."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1608"> Der beste Beweis für das unheilvolle Wirken Manteuffels sind die<lb/>
Reichstagswahlen vom 21. Februar 1837, die schwerste Niederlage, die die<lb/>
deutsche Sache jemals in Elsaß-Lothringen erlitten hat. Auf Grund der an¬<lb/>
geführten Tatsachen erscheint die Behauptung gerechtfertigt, daß die günstigen<lb/>
politischen Verhältnisse, die heute in Elsaß-Lothringen bestehn, noch viel schneller<lb/>
und sicherer eingetreten wären, wenn die Verwaltung nach deu bewährten<lb/>
Grundsätzen des Oberpräsidenten von Möller weitergeführt worden wäre.</p><lb/>
          <div n="2">
            <head/><lb/>
            <p xml:id="ID_1609"> Durch die Trennung der Reichs- von der Landesregierung ist nicht bloß<lb/>
die Macht der Landesregierung erhöht worden, sondern zugleich auch die<lb/>
Macht des Landesausschusses. Dieser hat nun den Machtzuwachs vielfach<lb/>
&#x2014; besonders in sozialpolitischen Fragen &#x2014; dazu benutzt, notwendige Reformen<lb/>
zu verhindern oder wenigstens zu verzögern. Dieser hemmende Einfluß des<lb/>
Landesausschusses zeigt sich am deutlichsten auf dem Gebiete der Armenpflege.<lb/>
In Elsaß-Lothringen besteht nicht die deutsche obligatorische Armenpflege,<lb/>
sondern die französische Art der freiwilligen Armenpflege. In Deutschland<lb/>
hat der Arme ein Recht auf Unterstützung, das er zwar nicht durch die<lb/>
Klage, wohl aber durch eine Beschwerde geltend machen kann. In Elsaß-<lb/>
Lothringen hat der Arme kein Recht, sondern nur einen moralischen Anspruch<lb/>
auf Unterstützung; kein Kommunalverband kann gezwungen werden, den mora¬<lb/>
lischen Anspruch des Armen auf Unterstützung zu befriedigen. Das Maß der<lb/>
Unterstützung wird in Deutschland durch das Bedürfnis der Armen bestimmt;<lb/>
in Elsaß-Lothringen ist das Maß der Unterstützung von dein Betrage der vor-<lb/>
handnen Geldmittel abhängig. Die Mittel zur Unterstützung werden in Deutsch¬<lb/>
land von den Kommunalverbänden, in Elsaß-Lothringen von den Armenrüten,<lb/>
Hospizen und Hospitälern aufgebracht; diese Anstalten haben in der Regel<lb/>
keine festen Einnahmen, sondern sind in der Hauptsache auf freiwillige Zu¬<lb/>
wendungen von Privatpersonen und Gemeinden angewiesen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1610" next="#ID_1611"> Im Landcsausschuß ist es üblich, große Lobreden auf das französische<lb/>
Verfahren der freiwilligen Armenpflege zu halten. Der Abgeordnete Winterer<lb/>
zum Beispiel hat in der Sitzung vom 3. Mürz 1896 behauptet, die freiwillige<lb/>
Unterstützung sei nicht blos; vorteilhafter, sondern auch edler als die Zwangs¬<lb/>
unterstützung. Ganz anders dagegen lauten die Urteile, die Fachmänner wie<lb/>
Ruland und Schwander in ihren Schriften über das reichsländische Armen¬<lb/>
wesen gefällt haben. Schwander sagt in dem Vorwort zu seinem Buche<lb/>
&#x201E;Das Armenrecht in Elsaß-Lothringen" (1899), daß, abgesehen von einigen</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0400] Die verfassmigsfrage in Llsaß-Lothringen zu wollen . . , das kann doch wohl als ein unbegreiflicher Irrtum bezeichnet werden." — „Man war verblüfft, einen glorreichen preußischen Soldaten, Statthalter des deutschen Kaisers, hauptsächlich von Neichsfeinden umgeben zu sehen. Die Leute bemerkten gleich, wie er den frechsten unter ihnen Avancen und Besuche machte, die nicht einmal erwidert wurden, wie er den oft sehr unbescheidnen, ja gesetzwidrigen Begehrlichkeiten dieser Herren willfährig entgegenkam. Mit einem Worte: sie sahen alle rändigen Schafe angelockt und am Herzen gehegt, während der Deutschgesinnte an die Wand gedrückt wurde." Der beste Beweis für das unheilvolle Wirken Manteuffels sind die Reichstagswahlen vom 21. Februar 1837, die schwerste Niederlage, die die deutsche Sache jemals in Elsaß-Lothringen erlitten hat. Auf Grund der an¬ geführten Tatsachen erscheint die Behauptung gerechtfertigt, daß die günstigen politischen Verhältnisse, die heute in Elsaß-Lothringen bestehn, noch viel schneller und sicherer eingetreten wären, wenn die Verwaltung nach deu bewährten Grundsätzen des Oberpräsidenten von Möller weitergeführt worden wäre. Durch die Trennung der Reichs- von der Landesregierung ist nicht bloß die Macht der Landesregierung erhöht worden, sondern zugleich auch die Macht des Landesausschusses. Dieser hat nun den Machtzuwachs vielfach — besonders in sozialpolitischen Fragen — dazu benutzt, notwendige Reformen zu verhindern oder wenigstens zu verzögern. Dieser hemmende Einfluß des Landesausschusses zeigt sich am deutlichsten auf dem Gebiete der Armenpflege. In Elsaß-Lothringen besteht nicht die deutsche obligatorische Armenpflege, sondern die französische Art der freiwilligen Armenpflege. In Deutschland hat der Arme ein Recht auf Unterstützung, das er zwar nicht durch die Klage, wohl aber durch eine Beschwerde geltend machen kann. In Elsaß- Lothringen hat der Arme kein Recht, sondern nur einen moralischen Anspruch auf Unterstützung; kein Kommunalverband kann gezwungen werden, den mora¬ lischen Anspruch des Armen auf Unterstützung zu befriedigen. Das Maß der Unterstützung wird in Deutschland durch das Bedürfnis der Armen bestimmt; in Elsaß-Lothringen ist das Maß der Unterstützung von dein Betrage der vor- handnen Geldmittel abhängig. Die Mittel zur Unterstützung werden in Deutsch¬ land von den Kommunalverbänden, in Elsaß-Lothringen von den Armenrüten, Hospizen und Hospitälern aufgebracht; diese Anstalten haben in der Regel keine festen Einnahmen, sondern sind in der Hauptsache auf freiwillige Zu¬ wendungen von Privatpersonen und Gemeinden angewiesen. Im Landcsausschuß ist es üblich, große Lobreden auf das französische Verfahren der freiwilligen Armenpflege zu halten. Der Abgeordnete Winterer zum Beispiel hat in der Sitzung vom 3. Mürz 1896 behauptet, die freiwillige Unterstützung sei nicht blos; vorteilhafter, sondern auch edler als die Zwangs¬ unterstützung. Ganz anders dagegen lauten die Urteile, die Fachmänner wie Ruland und Schwander in ihren Schriften über das reichsländische Armen¬ wesen gefällt haben. Schwander sagt in dem Vorwort zu seinem Buche „Das Armenrecht in Elsaß-Lothringen" (1899), daß, abgesehen von einigen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/400
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/400>, abgerufen am 22.11.2024.