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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Tolstoi

das sie nicht mehr glaubten, seien die guten Impulse der Kunst abhanden ge¬
kommen. Da dem Tolstoischen Kritiker selbstverständlich dieses religiöse Be¬
wußtsein fehlt, so ersetzt er das einzige sichere Kriterium einer guten Kunst
durch einen Maßstab der Willkür, den Geschmack der bestgebildetcn Menschen,
wodurch er bestimmte Dichter und Künstler, die einmal sür bedeutend an¬
gesehen wurden, die alten Griechen, Dante, Naffael, Beethoven usw. für groß
erklärt, und zwar in allen ihren Werken, auch den verfehltesten wie der Trans-
figuration oder der Neunten Symphonie; so stellt er den Künstlern seiner Zeit
Muster hin und veranlaßt Nachahmungen, Falsifikate aus künstlichen Effekten,
ohne eignes Gefühl, für das ihm ja selbst die Empfindung abgeht.

Wir überlassen es dem Leser, sich aus der Fülle der Beispiele aller Zeit¬
alter deu Tolftoischen Kanon für gute und schlechte Kunst zusanunenzustellen,
es ist gewiß von großem Interesse; er wird aber auch die Erfahrung machen,
daß das Kriterium des "religiösen Bewußtseins," so aufrichtig es gemeint ist,
und so vertrauensvoll und sicher es gehandhabt wird, ihn nicht vor den seltsamsten
Jrrgüngen hat bewahren können. Aber auch die Wunderlichkeiten sind bei
Tolstoi manchmal höchst geistreich und immer auf ihre Art vou Interesse oder
amüsant. Sehr uuterhnltend ist zum Beispiel eine weit ausgeführte Analyse der
Wagnerschen Nibelungen, deren Darstellung im Theater geistreich und witzig
mit der wirklichen Natur der dargestelltem Dinge verglichen wird. Was soll
ein erwachsener Arbeitsmeusch denken, wenn er sieht, daß Kahlköpfe mit grauen
Bärten, die Blüte der Gebildeten der höher" Klassen, sechs Stunden lang auf¬
merksam alle diese Dummheiten anhören, die ein siebenjähriges Kind kaum
noch für Ernst halten könnte. Ein Arbeiter von unverdorbnen Geschmack, also
nach Tolstoi ein ländlicher, kein städtischer, könne am besten echte Kunst von
falsifizierter unterscheiden, denn für ihn gebe es nur gesunde Gefühle, solche
der physischen und der sittlichen Kraft und Stärke oder des mitfühlenden Leides
und der Entsagung; die durch ihre Erziehung verbildete höhere Gesellschaft
könne sich allein nicht aus der Herrschaft der unechten Kunst befreien.

Wir halten hier inne, obwohl noch mindestens ein Drittel des Buches
unbesprochen übrig bleibt: die Gedanken wiederholen sich in immer neuen
Wendungen. Das Ergebnis ist sür Tolstoi, wie sich das von seiner ja durch¬
aus optimistisch-idealen Weltauffassung erwarten läßt, keineswegs negativ,
sondern voller Hoffnung sieht er in die Zukunft seiner wahren, echten und reichen
Kunst, deren Siegeslauf ihm so sicher ist wie der schließliche Untergang der
verderbten, für das Volk unverständlichen Klasscukunst unsrer Zeit. Wir lassen
das Zukunftsbild, zu dem wir nicht ebensoviel Vertrauen haben, auf sich beruhn,
meinen aber, daß die Kunst der Vergangenheit des Guten genug habe, was
sich auch zu einer Kunst des Volkes im Sinne Tolstois eignen würde, und
daß in seiner Betonung des Inhalts eines Kunstwerks und in seiner Wert¬
skala nach dem Werte der Gefühle, die das Kunstwerk mitteilt, neben vielen
Einseitigkeiten auch sehr viel richtiges liegt. Er faßt das Wesen und nament¬
lich auch den Zweck der Kunst tiefer, als z. B. viele unsrer sogenannten Kunst¬
erzieher, die das Volk immer nur "sehen" lehren wollen, d. h. auf das
Künstlerische achten. Dafür geht aber in seiner ganz auf seinen Begriff von


Tolstoi

das sie nicht mehr glaubten, seien die guten Impulse der Kunst abhanden ge¬
kommen. Da dem Tolstoischen Kritiker selbstverständlich dieses religiöse Be¬
wußtsein fehlt, so ersetzt er das einzige sichere Kriterium einer guten Kunst
durch einen Maßstab der Willkür, den Geschmack der bestgebildetcn Menschen,
wodurch er bestimmte Dichter und Künstler, die einmal sür bedeutend an¬
gesehen wurden, die alten Griechen, Dante, Naffael, Beethoven usw. für groß
erklärt, und zwar in allen ihren Werken, auch den verfehltesten wie der Trans-
figuration oder der Neunten Symphonie; so stellt er den Künstlern seiner Zeit
Muster hin und veranlaßt Nachahmungen, Falsifikate aus künstlichen Effekten,
ohne eignes Gefühl, für das ihm ja selbst die Empfindung abgeht.

Wir überlassen es dem Leser, sich aus der Fülle der Beispiele aller Zeit¬
alter deu Tolftoischen Kanon für gute und schlechte Kunst zusanunenzustellen,
es ist gewiß von großem Interesse; er wird aber auch die Erfahrung machen,
daß das Kriterium des „religiösen Bewußtseins," so aufrichtig es gemeint ist,
und so vertrauensvoll und sicher es gehandhabt wird, ihn nicht vor den seltsamsten
Jrrgüngen hat bewahren können. Aber auch die Wunderlichkeiten sind bei
Tolstoi manchmal höchst geistreich und immer auf ihre Art vou Interesse oder
amüsant. Sehr uuterhnltend ist zum Beispiel eine weit ausgeführte Analyse der
Wagnerschen Nibelungen, deren Darstellung im Theater geistreich und witzig
mit der wirklichen Natur der dargestelltem Dinge verglichen wird. Was soll
ein erwachsener Arbeitsmeusch denken, wenn er sieht, daß Kahlköpfe mit grauen
Bärten, die Blüte der Gebildeten der höher« Klassen, sechs Stunden lang auf¬
merksam alle diese Dummheiten anhören, die ein siebenjähriges Kind kaum
noch für Ernst halten könnte. Ein Arbeiter von unverdorbnen Geschmack, also
nach Tolstoi ein ländlicher, kein städtischer, könne am besten echte Kunst von
falsifizierter unterscheiden, denn für ihn gebe es nur gesunde Gefühle, solche
der physischen und der sittlichen Kraft und Stärke oder des mitfühlenden Leides
und der Entsagung; die durch ihre Erziehung verbildete höhere Gesellschaft
könne sich allein nicht aus der Herrschaft der unechten Kunst befreien.

Wir halten hier inne, obwohl noch mindestens ein Drittel des Buches
unbesprochen übrig bleibt: die Gedanken wiederholen sich in immer neuen
Wendungen. Das Ergebnis ist sür Tolstoi, wie sich das von seiner ja durch¬
aus optimistisch-idealen Weltauffassung erwarten läßt, keineswegs negativ,
sondern voller Hoffnung sieht er in die Zukunft seiner wahren, echten und reichen
Kunst, deren Siegeslauf ihm so sicher ist wie der schließliche Untergang der
verderbten, für das Volk unverständlichen Klasscukunst unsrer Zeit. Wir lassen
das Zukunftsbild, zu dem wir nicht ebensoviel Vertrauen haben, auf sich beruhn,
meinen aber, daß die Kunst der Vergangenheit des Guten genug habe, was
sich auch zu einer Kunst des Volkes im Sinne Tolstois eignen würde, und
daß in seiner Betonung des Inhalts eines Kunstwerks und in seiner Wert¬
skala nach dem Werte der Gefühle, die das Kunstwerk mitteilt, neben vielen
Einseitigkeiten auch sehr viel richtiges liegt. Er faßt das Wesen und nament¬
lich auch den Zweck der Kunst tiefer, als z. B. viele unsrer sogenannten Kunst¬
erzieher, die das Volk immer nur „sehen" lehren wollen, d. h. auf das
Künstlerische achten. Dafür geht aber in seiner ganz auf seinen Begriff von


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[0039] Tolstoi das sie nicht mehr glaubten, seien die guten Impulse der Kunst abhanden ge¬ kommen. Da dem Tolstoischen Kritiker selbstverständlich dieses religiöse Be¬ wußtsein fehlt, so ersetzt er das einzige sichere Kriterium einer guten Kunst durch einen Maßstab der Willkür, den Geschmack der bestgebildetcn Menschen, wodurch er bestimmte Dichter und Künstler, die einmal sür bedeutend an¬ gesehen wurden, die alten Griechen, Dante, Naffael, Beethoven usw. für groß erklärt, und zwar in allen ihren Werken, auch den verfehltesten wie der Trans- figuration oder der Neunten Symphonie; so stellt er den Künstlern seiner Zeit Muster hin und veranlaßt Nachahmungen, Falsifikate aus künstlichen Effekten, ohne eignes Gefühl, für das ihm ja selbst die Empfindung abgeht. Wir überlassen es dem Leser, sich aus der Fülle der Beispiele aller Zeit¬ alter deu Tolftoischen Kanon für gute und schlechte Kunst zusanunenzustellen, es ist gewiß von großem Interesse; er wird aber auch die Erfahrung machen, daß das Kriterium des „religiösen Bewußtseins," so aufrichtig es gemeint ist, und so vertrauensvoll und sicher es gehandhabt wird, ihn nicht vor den seltsamsten Jrrgüngen hat bewahren können. Aber auch die Wunderlichkeiten sind bei Tolstoi manchmal höchst geistreich und immer auf ihre Art vou Interesse oder amüsant. Sehr uuterhnltend ist zum Beispiel eine weit ausgeführte Analyse der Wagnerschen Nibelungen, deren Darstellung im Theater geistreich und witzig mit der wirklichen Natur der dargestelltem Dinge verglichen wird. Was soll ein erwachsener Arbeitsmeusch denken, wenn er sieht, daß Kahlköpfe mit grauen Bärten, die Blüte der Gebildeten der höher« Klassen, sechs Stunden lang auf¬ merksam alle diese Dummheiten anhören, die ein siebenjähriges Kind kaum noch für Ernst halten könnte. Ein Arbeiter von unverdorbnen Geschmack, also nach Tolstoi ein ländlicher, kein städtischer, könne am besten echte Kunst von falsifizierter unterscheiden, denn für ihn gebe es nur gesunde Gefühle, solche der physischen und der sittlichen Kraft und Stärke oder des mitfühlenden Leides und der Entsagung; die durch ihre Erziehung verbildete höhere Gesellschaft könne sich allein nicht aus der Herrschaft der unechten Kunst befreien. Wir halten hier inne, obwohl noch mindestens ein Drittel des Buches unbesprochen übrig bleibt: die Gedanken wiederholen sich in immer neuen Wendungen. Das Ergebnis ist sür Tolstoi, wie sich das von seiner ja durch¬ aus optimistisch-idealen Weltauffassung erwarten läßt, keineswegs negativ, sondern voller Hoffnung sieht er in die Zukunft seiner wahren, echten und reichen Kunst, deren Siegeslauf ihm so sicher ist wie der schließliche Untergang der verderbten, für das Volk unverständlichen Klasscukunst unsrer Zeit. Wir lassen das Zukunftsbild, zu dem wir nicht ebensoviel Vertrauen haben, auf sich beruhn, meinen aber, daß die Kunst der Vergangenheit des Guten genug habe, was sich auch zu einer Kunst des Volkes im Sinne Tolstois eignen würde, und daß in seiner Betonung des Inhalts eines Kunstwerks und in seiner Wert¬ skala nach dem Werte der Gefühle, die das Kunstwerk mitteilt, neben vielen Einseitigkeiten auch sehr viel richtiges liegt. Er faßt das Wesen und nament¬ lich auch den Zweck der Kunst tiefer, als z. B. viele unsrer sogenannten Kunst¬ erzieher, die das Volk immer nur „sehen" lehren wollen, d. h. auf das Künstlerische achten. Dafür geht aber in seiner ganz auf seinen Begriff von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/39>, abgerufen am 09.11.2024.