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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

(katholische Landespartei), oder er bleibt überhaupt schmollend zuhause. Daß man bei
den sieben gewählten Klerikalen nicht ans deutsch-nationale Gesinnung rechnen darf,
ist ja klar; aber sie sind doch nicht als Protestler gewählt, sondern als Klerikale,
und man kann sagen, daß der Protest als solcher ini Wahlkampf ausgeschaltet blieb.

Der Klerikalismus hat eine nicht unbedeutende Niederlage erlitten, die um so
bemerkenswerter ist, als er mit allen erlaubten und recht vielen unerlaubten Mitteln
gekämpft hat. Eine geradezu ekelhaft gehässige Wahlagitation verirrte sich in Predigt
und Beichtstuhl, in Wohltätigkeitsanstalten, Krankenhäuser und Schulen und hat
vielleicht gerade durch ihre Zügellosigkeit den angestrebten Erfolg gefährdet. Während
die klerikale Landespartei im alten Reichstage neun Mitglieder hatte, besetzt sie
diesesmcil nur sieben Plätze; drei Wahlkreise, Straßbnrg Land, Metz und Saarburg-
Chateau-Salms, sind ihr verloren gegangen, einen Platz hat sie durch die Ver¬
drängung des Prinzen Alexander Hohenlohe im Wahlkreise Hagenau-Weißenburg
erobert. Inwieweit freilich die ohne Ausstellung eines Gegenkandidaten erfolgte Wahl
des "unabhängigen Lothringers" Labroise, der an die Stelle des alten Küchly
getreten ist, einen Verlust für die Klerikalen bedeutet, ist noch abzuwarten. Denn
die Bezeichnung "unabhängiger Lothringer" ist eine Gesamtetikette, unter der ver-
schiedne Richtungen Platz haben. Mit ihr beliebten sich auch Dr. Jaunez (Metz) und
sein Schwager de Schmid (Saargemünd-Forbach), bei deren Wahl nicht politische
Gründe das Treibende gewesen sind, sondern allein das Geld. Beiden hatten die
Klerikalen zwar eigne Kandidaten gegenübergestellt, ebenso wie dem unabhängigen
Lothringer Meroe; ein Erfolg war jedoch weder erwartet, noch -- wenigstens Jaunez
und Schmid gegenüber -- ernstlich erstrebt worden. Wild war dagegen der Kampf
in den Kreisen Hagenau-Weißenburg und Straßburg Laud, und wenn der eine dem
Klerikalismus gewonnen, der andre verloren wurde, so lag das dort an dem un¬
vorsichtigen Freimut des Prinzen, hier an der wenig erfreulichen Persönlichkeit des
Reichstagsabgeordneten Hauß. In Hagenau-Weißenburg wäre es der Sozialdemokratie
sehr leicht gelungen, dem Prinzen Hohenlohe zum Siege zu verhelfen; daß sie es
nicht getan hat, war vielleicht ein taktischer Fehler. Der Sieg des liberalen Demo¬
kraten Blumenthal, Rechtsanwalt beim Oberlandcsgcricht in Kolmar, mit andern
Worten, die Niederlage des Klerikalen Hauß ist nur durch die Hilfe der Sozial-
demokraten möglich gewesen. Betrachtet man die Stimmenzahl der Hauptwahlen,
die im Grunde doch noch deutlicher reden als die Wahlerfolge selbst, und zählt
man die für Labroise abgegebnen Stimmen den Klerikalen zu, so ist doch bei stark
steigender Bevölkerungszahl der Prozentsatz der für den Klerikalismus abgegebnen
Stimmen von 41 Prozent auf 40 Prozent gesunken, und er beträgt ohne die
Stimmen für Labroise sogar nur 35,7 Prozent. Bezieht man die Zahl der für die
klerikale Landespartei abgegebnen Stimmen nicht auf die Gesamtzahl der abgegebnen
Wahlzettel, sondern auf die Gesamtzahl der eingeschriebneu Wahlberechtigten, so
ergibt sich, daß diesesmcil von 372 729 wahlberechtigten Elsaß-Lothringern bei der
Hauptwahl 29,9 Prozent für klerikale Abgeordnete gestimmt haben. Und doch gelang
es diesen 29,9 Prozent Wählern, von deu fünfzehn Mandaten, die das Reichsland
hat, sieben zu besetzen, während die 18,4 Prozent sozialdemokratischer Wählern kein
einziges Mandat erobern konnten.

Aber die Sozialdemokratie muß mit dem, was sie erreicht hat, doch sehr zu¬
frieden sein. Ihr Anwachsen im Reichslande verlangt ganz besondre Beachtung. Bei
oberflächlicher Betrachtung der Wahlergebnisse könnte es ja den Anschein haben, als
ob die Behauptung des Staatssekretärs von Koller, im Reichslande sei kein Boden
für die Sozialdemokratie, den Tatsachen entspreche. Für jeden Kenner der Verhält¬
nisse liegt das Gegenteil auf der Hand. Der Gegensatz zwischen Arm und Reich
ist hier sehr groß; die reichlich vorhandne Industrie bietet, auch wenn sich der
Verkehr zwischen Unternehmer und Arbeiter noch in so stark patriarchalischen Formen
bewegt, wie hier, immer einen guten Nährboden sür die sozialistischen Lehren, denen
entgegenzuarbeiten die oppositionelle Stellung des Klerus keineswegs geeignet ist-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

(katholische Landespartei), oder er bleibt überhaupt schmollend zuhause. Daß man bei
den sieben gewählten Klerikalen nicht ans deutsch-nationale Gesinnung rechnen darf,
ist ja klar; aber sie sind doch nicht als Protestler gewählt, sondern als Klerikale,
und man kann sagen, daß der Protest als solcher ini Wahlkampf ausgeschaltet blieb.

Der Klerikalismus hat eine nicht unbedeutende Niederlage erlitten, die um so
bemerkenswerter ist, als er mit allen erlaubten und recht vielen unerlaubten Mitteln
gekämpft hat. Eine geradezu ekelhaft gehässige Wahlagitation verirrte sich in Predigt
und Beichtstuhl, in Wohltätigkeitsanstalten, Krankenhäuser und Schulen und hat
vielleicht gerade durch ihre Zügellosigkeit den angestrebten Erfolg gefährdet. Während
die klerikale Landespartei im alten Reichstage neun Mitglieder hatte, besetzt sie
diesesmcil nur sieben Plätze; drei Wahlkreise, Straßbnrg Land, Metz und Saarburg-
Chateau-Salms, sind ihr verloren gegangen, einen Platz hat sie durch die Ver¬
drängung des Prinzen Alexander Hohenlohe im Wahlkreise Hagenau-Weißenburg
erobert. Inwieweit freilich die ohne Ausstellung eines Gegenkandidaten erfolgte Wahl
des „unabhängigen Lothringers" Labroise, der an die Stelle des alten Küchly
getreten ist, einen Verlust für die Klerikalen bedeutet, ist noch abzuwarten. Denn
die Bezeichnung „unabhängiger Lothringer" ist eine Gesamtetikette, unter der ver-
schiedne Richtungen Platz haben. Mit ihr beliebten sich auch Dr. Jaunez (Metz) und
sein Schwager de Schmid (Saargemünd-Forbach), bei deren Wahl nicht politische
Gründe das Treibende gewesen sind, sondern allein das Geld. Beiden hatten die
Klerikalen zwar eigne Kandidaten gegenübergestellt, ebenso wie dem unabhängigen
Lothringer Meroe; ein Erfolg war jedoch weder erwartet, noch — wenigstens Jaunez
und Schmid gegenüber — ernstlich erstrebt worden. Wild war dagegen der Kampf
in den Kreisen Hagenau-Weißenburg und Straßburg Laud, und wenn der eine dem
Klerikalismus gewonnen, der andre verloren wurde, so lag das dort an dem un¬
vorsichtigen Freimut des Prinzen, hier an der wenig erfreulichen Persönlichkeit des
Reichstagsabgeordneten Hauß. In Hagenau-Weißenburg wäre es der Sozialdemokratie
sehr leicht gelungen, dem Prinzen Hohenlohe zum Siege zu verhelfen; daß sie es
nicht getan hat, war vielleicht ein taktischer Fehler. Der Sieg des liberalen Demo¬
kraten Blumenthal, Rechtsanwalt beim Oberlandcsgcricht in Kolmar, mit andern
Worten, die Niederlage des Klerikalen Hauß ist nur durch die Hilfe der Sozial-
demokraten möglich gewesen. Betrachtet man die Stimmenzahl der Hauptwahlen,
die im Grunde doch noch deutlicher reden als die Wahlerfolge selbst, und zählt
man die für Labroise abgegebnen Stimmen den Klerikalen zu, so ist doch bei stark
steigender Bevölkerungszahl der Prozentsatz der für den Klerikalismus abgegebnen
Stimmen von 41 Prozent auf 40 Prozent gesunken, und er beträgt ohne die
Stimmen für Labroise sogar nur 35,7 Prozent. Bezieht man die Zahl der für die
klerikale Landespartei abgegebnen Stimmen nicht auf die Gesamtzahl der abgegebnen
Wahlzettel, sondern auf die Gesamtzahl der eingeschriebneu Wahlberechtigten, so
ergibt sich, daß diesesmcil von 372 729 wahlberechtigten Elsaß-Lothringern bei der
Hauptwahl 29,9 Prozent für klerikale Abgeordnete gestimmt haben. Und doch gelang
es diesen 29,9 Prozent Wählern, von deu fünfzehn Mandaten, die das Reichsland
hat, sieben zu besetzen, während die 18,4 Prozent sozialdemokratischer Wählern kein
einziges Mandat erobern konnten.

Aber die Sozialdemokratie muß mit dem, was sie erreicht hat, doch sehr zu¬
frieden sein. Ihr Anwachsen im Reichslande verlangt ganz besondre Beachtung. Bei
oberflächlicher Betrachtung der Wahlergebnisse könnte es ja den Anschein haben, als
ob die Behauptung des Staatssekretärs von Koller, im Reichslande sei kein Boden
für die Sozialdemokratie, den Tatsachen entspreche. Für jeden Kenner der Verhält¬
nisse liegt das Gegenteil auf der Hand. Der Gegensatz zwischen Arm und Reich
ist hier sehr groß; die reichlich vorhandne Industrie bietet, auch wenn sich der
Verkehr zwischen Unternehmer und Arbeiter noch in so stark patriarchalischen Formen
bewegt, wie hier, immer einen guten Nährboden sür die sozialistischen Lehren, denen
entgegenzuarbeiten die oppositionelle Stellung des Klerus keineswegs geeignet ist-


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[0384] Maßgebliches und Unmaßgebliches (katholische Landespartei), oder er bleibt überhaupt schmollend zuhause. Daß man bei den sieben gewählten Klerikalen nicht ans deutsch-nationale Gesinnung rechnen darf, ist ja klar; aber sie sind doch nicht als Protestler gewählt, sondern als Klerikale, und man kann sagen, daß der Protest als solcher ini Wahlkampf ausgeschaltet blieb. Der Klerikalismus hat eine nicht unbedeutende Niederlage erlitten, die um so bemerkenswerter ist, als er mit allen erlaubten und recht vielen unerlaubten Mitteln gekämpft hat. Eine geradezu ekelhaft gehässige Wahlagitation verirrte sich in Predigt und Beichtstuhl, in Wohltätigkeitsanstalten, Krankenhäuser und Schulen und hat vielleicht gerade durch ihre Zügellosigkeit den angestrebten Erfolg gefährdet. Während die klerikale Landespartei im alten Reichstage neun Mitglieder hatte, besetzt sie diesesmcil nur sieben Plätze; drei Wahlkreise, Straßbnrg Land, Metz und Saarburg- Chateau-Salms, sind ihr verloren gegangen, einen Platz hat sie durch die Ver¬ drängung des Prinzen Alexander Hohenlohe im Wahlkreise Hagenau-Weißenburg erobert. Inwieweit freilich die ohne Ausstellung eines Gegenkandidaten erfolgte Wahl des „unabhängigen Lothringers" Labroise, der an die Stelle des alten Küchly getreten ist, einen Verlust für die Klerikalen bedeutet, ist noch abzuwarten. Denn die Bezeichnung „unabhängiger Lothringer" ist eine Gesamtetikette, unter der ver- schiedne Richtungen Platz haben. Mit ihr beliebten sich auch Dr. Jaunez (Metz) und sein Schwager de Schmid (Saargemünd-Forbach), bei deren Wahl nicht politische Gründe das Treibende gewesen sind, sondern allein das Geld. Beiden hatten die Klerikalen zwar eigne Kandidaten gegenübergestellt, ebenso wie dem unabhängigen Lothringer Meroe; ein Erfolg war jedoch weder erwartet, noch — wenigstens Jaunez und Schmid gegenüber — ernstlich erstrebt worden. Wild war dagegen der Kampf in den Kreisen Hagenau-Weißenburg und Straßburg Laud, und wenn der eine dem Klerikalismus gewonnen, der andre verloren wurde, so lag das dort an dem un¬ vorsichtigen Freimut des Prinzen, hier an der wenig erfreulichen Persönlichkeit des Reichstagsabgeordneten Hauß. In Hagenau-Weißenburg wäre es der Sozialdemokratie sehr leicht gelungen, dem Prinzen Hohenlohe zum Siege zu verhelfen; daß sie es nicht getan hat, war vielleicht ein taktischer Fehler. Der Sieg des liberalen Demo¬ kraten Blumenthal, Rechtsanwalt beim Oberlandcsgcricht in Kolmar, mit andern Worten, die Niederlage des Klerikalen Hauß ist nur durch die Hilfe der Sozial- demokraten möglich gewesen. Betrachtet man die Stimmenzahl der Hauptwahlen, die im Grunde doch noch deutlicher reden als die Wahlerfolge selbst, und zählt man die für Labroise abgegebnen Stimmen den Klerikalen zu, so ist doch bei stark steigender Bevölkerungszahl der Prozentsatz der für den Klerikalismus abgegebnen Stimmen von 41 Prozent auf 40 Prozent gesunken, und er beträgt ohne die Stimmen für Labroise sogar nur 35,7 Prozent. Bezieht man die Zahl der für die klerikale Landespartei abgegebnen Stimmen nicht auf die Gesamtzahl der abgegebnen Wahlzettel, sondern auf die Gesamtzahl der eingeschriebneu Wahlberechtigten, so ergibt sich, daß diesesmcil von 372 729 wahlberechtigten Elsaß-Lothringern bei der Hauptwahl 29,9 Prozent für klerikale Abgeordnete gestimmt haben. Und doch gelang es diesen 29,9 Prozent Wählern, von deu fünfzehn Mandaten, die das Reichsland hat, sieben zu besetzen, während die 18,4 Prozent sozialdemokratischer Wählern kein einziges Mandat erobern konnten. Aber die Sozialdemokratie muß mit dem, was sie erreicht hat, doch sehr zu¬ frieden sein. Ihr Anwachsen im Reichslande verlangt ganz besondre Beachtung. Bei oberflächlicher Betrachtung der Wahlergebnisse könnte es ja den Anschein haben, als ob die Behauptung des Staatssekretärs von Koller, im Reichslande sei kein Boden für die Sozialdemokratie, den Tatsachen entspreche. Für jeden Kenner der Verhält¬ nisse liegt das Gegenteil auf der Hand. Der Gegensatz zwischen Arm und Reich ist hier sehr groß; die reichlich vorhandne Industrie bietet, auch wenn sich der Verkehr zwischen Unternehmer und Arbeiter noch in so stark patriarchalischen Formen bewegt, wie hier, immer einen guten Nährboden sür die sozialistischen Lehren, denen entgegenzuarbeiten die oppositionelle Stellung des Klerus keineswegs geeignet ist-

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/384>, abgerufen am 27.07.2024.