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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Der Marquis von Marigny

wollte, zurück. Er befühlte sich dabei, als müsse er auch sich selbst von seiner
körperlichen Existenz überzeugen.

Man hat also auch hier das alberne Märchen von meinem Tode erzählt?
fragte er, und ihr habt daran geglaubt?

Würden wir sonst die Kiste geöffnet haben? entgegnete Villeroi, indem er
nach den auf dem Tische ausgebreiteten Kostbarkeiten wies. Der Postmeister ließ
mich zu sich rufen und teilte mir mit, Sie seien am Morgen des 23, in Trier
ermordet ausgefunden worden.

Davon ist mir nichts bekannt, bemerkte Marigny trocken und mit einem leichten
Tone der Verstimmung, zu dem er sich nur zwang, weil er sich nicht merken lassen
wollte, wie froh er im Grunde war, daß dieser Besuch bei seinen Kindern ohne
die herzbewegende Versöhnungsszeue ablief, vor der er sich immer am meisten ge¬
fürchtet hatte. Wie ich sehe, bemerkte er mit einem Anflug von heiterer Laune,
habt ihr auch schon die Erbschaft euers ermordeten Vaters angetreten. Nun, mein
kleiner Bursch -- hier beugte er sich zu dem Enkel hinab, hob ihn auf und
tänzelte mit ihm durch das enge Gemach --, da hast du sie jn schon, die Kette!
Früher, als Großvater sichs damals ahnen ließ. Tut nichts, Bürschchen, tut nichts!
Wenn sie dir nur Freude macht!

Wie habt ihr deu Jungen eigentlich genannt? wandte er sich an seine
Tochter.

Claude Henri Bayard! antwortete diese.

Und welches ist der Rufname?

Claude.

Claude? Wahrhaftig? Kinder! Trotz allem habt ihr ihn Claude genannt?

Glauben Sie, Herr Marquis, daß Mißverständnisse geringfügiger Natur uns
hätten davon abhalten können, dem Jungen den Namen seines Großvaters zu
geben?

Ach, die Mißverständnisse! Henri, Marguerite! Wenn ihr wüßtet, wie ich
diese Mißverständnisse schon verflucht habe! Ich habe in mancher schlaflosen Nacht
darüber nachgegrübelt, was an diesen -- nun ja, ihr versteht mich schon -- die
Schuld tragt. Und da bin ich denn zu der Einsicht gekommen, es sei nichts andres
c>is unsre erbärmliche Charakterfestigkeit. Ja, Henri, das gilt dir mich, du hast
einen ebenso harten Schädel, wie wir Marignhs, also verteidige dich nicht! Der
emzrge Unterschied ist der. daß die Charakterfestigkeit bei uns ihres Ziels bewußter
und nachhaltiger auftritt als bei euch Villerois. Ihr seid sprunghafter in euern
Entschlüssen, ihr verrennt euch heute in dies und morgen in jenes, und dann
wundert ihr euch, wenn ihr weder vorwärts noch rückwärts könnt. -- Marguerite,
nimm mir doch einmal den Jungen ab, es kommt mir vor, als ob er nicht so
recht trocken wäre! -- In Zukunft werden wir gut daran tun, ein wenig aufein¬
ander Rücksicht zu nehmen, dann werden sich Mißverständnisse sicherlich vermeiden
lassen. Vorausgesetzt übrigens, daß ihr noch Lust habt, mit euerm alten Vater,
der nichts mehr sein nennt als die Kleider, die er ans dem Leibe trägt, zu Ver¬
kehren.

Sind diese Dinge dort plötzlich so sehr im Preise gesunken, daß Sie sie für
nchts rechnen? fragte Villeroi, indem er auf die Pretiosen deutete.

Mein Lieber, entgegnete Marigny. diese Dinge gehören, wie du weißt, nicht
mehr mir. Ich habe nie vernommen, daß ein Testator sein eignes Testament
hinterher angefochten hätte.

Erbschaften können doch erst angetreten werden, wenn der Erblasser auch
wirklich gestorben ist, bemerkte Henri.

Kinder, ihr werdet doch nicht verlangen, daß euer Vater, bloß um eine solche
Formalität zu erfüllen, sich hinlege und sterbe?

Marguerite hatte inzwischen die Kapseln mit den Schmucksachen wieder in die
Kassette gelegt und den Deckel ins Schloß fallen lassen. Ihr Mann zog das


Der Marquis von Marigny

wollte, zurück. Er befühlte sich dabei, als müsse er auch sich selbst von seiner
körperlichen Existenz überzeugen.

Man hat also auch hier das alberne Märchen von meinem Tode erzählt?
fragte er, und ihr habt daran geglaubt?

Würden wir sonst die Kiste geöffnet haben? entgegnete Villeroi, indem er
nach den auf dem Tische ausgebreiteten Kostbarkeiten wies. Der Postmeister ließ
mich zu sich rufen und teilte mir mit, Sie seien am Morgen des 23, in Trier
ermordet ausgefunden worden.

Davon ist mir nichts bekannt, bemerkte Marigny trocken und mit einem leichten
Tone der Verstimmung, zu dem er sich nur zwang, weil er sich nicht merken lassen
wollte, wie froh er im Grunde war, daß dieser Besuch bei seinen Kindern ohne
die herzbewegende Versöhnungsszeue ablief, vor der er sich immer am meisten ge¬
fürchtet hatte. Wie ich sehe, bemerkte er mit einem Anflug von heiterer Laune,
habt ihr auch schon die Erbschaft euers ermordeten Vaters angetreten. Nun, mein
kleiner Bursch — hier beugte er sich zu dem Enkel hinab, hob ihn auf und
tänzelte mit ihm durch das enge Gemach —, da hast du sie jn schon, die Kette!
Früher, als Großvater sichs damals ahnen ließ. Tut nichts, Bürschchen, tut nichts!
Wenn sie dir nur Freude macht!

Wie habt ihr deu Jungen eigentlich genannt? wandte er sich an seine
Tochter.

Claude Henri Bayard! antwortete diese.

Und welches ist der Rufname?

Claude.

Claude? Wahrhaftig? Kinder! Trotz allem habt ihr ihn Claude genannt?

Glauben Sie, Herr Marquis, daß Mißverständnisse geringfügiger Natur uns
hätten davon abhalten können, dem Jungen den Namen seines Großvaters zu
geben?

Ach, die Mißverständnisse! Henri, Marguerite! Wenn ihr wüßtet, wie ich
diese Mißverständnisse schon verflucht habe! Ich habe in mancher schlaflosen Nacht
darüber nachgegrübelt, was an diesen — nun ja, ihr versteht mich schon — die
Schuld tragt. Und da bin ich denn zu der Einsicht gekommen, es sei nichts andres
c>is unsre erbärmliche Charakterfestigkeit. Ja, Henri, das gilt dir mich, du hast
einen ebenso harten Schädel, wie wir Marignhs, also verteidige dich nicht! Der
emzrge Unterschied ist der. daß die Charakterfestigkeit bei uns ihres Ziels bewußter
und nachhaltiger auftritt als bei euch Villerois. Ihr seid sprunghafter in euern
Entschlüssen, ihr verrennt euch heute in dies und morgen in jenes, und dann
wundert ihr euch, wenn ihr weder vorwärts noch rückwärts könnt. — Marguerite,
nimm mir doch einmal den Jungen ab, es kommt mir vor, als ob er nicht so
recht trocken wäre! — In Zukunft werden wir gut daran tun, ein wenig aufein¬
ander Rücksicht zu nehmen, dann werden sich Mißverständnisse sicherlich vermeiden
lassen. Vorausgesetzt übrigens, daß ihr noch Lust habt, mit euerm alten Vater,
der nichts mehr sein nennt als die Kleider, die er ans dem Leibe trägt, zu Ver¬
kehren.

Sind diese Dinge dort plötzlich so sehr im Preise gesunken, daß Sie sie für
nchts rechnen? fragte Villeroi, indem er auf die Pretiosen deutete.

Mein Lieber, entgegnete Marigny. diese Dinge gehören, wie du weißt, nicht
mehr mir. Ich habe nie vernommen, daß ein Testator sein eignes Testament
hinterher angefochten hätte.

Erbschaften können doch erst angetreten werden, wenn der Erblasser auch
wirklich gestorben ist, bemerkte Henri.

Kinder, ihr werdet doch nicht verlangen, daß euer Vater, bloß um eine solche
Formalität zu erfüllen, sich hinlege und sterbe?

Marguerite hatte inzwischen die Kapseln mit den Schmucksachen wieder in die
Kassette gelegt und den Deckel ins Schloß fallen lassen. Ihr Mann zog das


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[0379] Der Marquis von Marigny wollte, zurück. Er befühlte sich dabei, als müsse er auch sich selbst von seiner körperlichen Existenz überzeugen. Man hat also auch hier das alberne Märchen von meinem Tode erzählt? fragte er, und ihr habt daran geglaubt? Würden wir sonst die Kiste geöffnet haben? entgegnete Villeroi, indem er nach den auf dem Tische ausgebreiteten Kostbarkeiten wies. Der Postmeister ließ mich zu sich rufen und teilte mir mit, Sie seien am Morgen des 23, in Trier ermordet ausgefunden worden. Davon ist mir nichts bekannt, bemerkte Marigny trocken und mit einem leichten Tone der Verstimmung, zu dem er sich nur zwang, weil er sich nicht merken lassen wollte, wie froh er im Grunde war, daß dieser Besuch bei seinen Kindern ohne die herzbewegende Versöhnungsszeue ablief, vor der er sich immer am meisten ge¬ fürchtet hatte. Wie ich sehe, bemerkte er mit einem Anflug von heiterer Laune, habt ihr auch schon die Erbschaft euers ermordeten Vaters angetreten. Nun, mein kleiner Bursch — hier beugte er sich zu dem Enkel hinab, hob ihn auf und tänzelte mit ihm durch das enge Gemach —, da hast du sie jn schon, die Kette! Früher, als Großvater sichs damals ahnen ließ. Tut nichts, Bürschchen, tut nichts! Wenn sie dir nur Freude macht! Wie habt ihr deu Jungen eigentlich genannt? wandte er sich an seine Tochter. Claude Henri Bayard! antwortete diese. Und welches ist der Rufname? Claude. Claude? Wahrhaftig? Kinder! Trotz allem habt ihr ihn Claude genannt? Glauben Sie, Herr Marquis, daß Mißverständnisse geringfügiger Natur uns hätten davon abhalten können, dem Jungen den Namen seines Großvaters zu geben? Ach, die Mißverständnisse! Henri, Marguerite! Wenn ihr wüßtet, wie ich diese Mißverständnisse schon verflucht habe! Ich habe in mancher schlaflosen Nacht darüber nachgegrübelt, was an diesen — nun ja, ihr versteht mich schon — die Schuld tragt. Und da bin ich denn zu der Einsicht gekommen, es sei nichts andres c>is unsre erbärmliche Charakterfestigkeit. Ja, Henri, das gilt dir mich, du hast einen ebenso harten Schädel, wie wir Marignhs, also verteidige dich nicht! Der emzrge Unterschied ist der. daß die Charakterfestigkeit bei uns ihres Ziels bewußter und nachhaltiger auftritt als bei euch Villerois. Ihr seid sprunghafter in euern Entschlüssen, ihr verrennt euch heute in dies und morgen in jenes, und dann wundert ihr euch, wenn ihr weder vorwärts noch rückwärts könnt. — Marguerite, nimm mir doch einmal den Jungen ab, es kommt mir vor, als ob er nicht so recht trocken wäre! — In Zukunft werden wir gut daran tun, ein wenig aufein¬ ander Rücksicht zu nehmen, dann werden sich Mißverständnisse sicherlich vermeiden lassen. Vorausgesetzt übrigens, daß ihr noch Lust habt, mit euerm alten Vater, der nichts mehr sein nennt als die Kleider, die er ans dem Leibe trägt, zu Ver¬ kehren. Sind diese Dinge dort plötzlich so sehr im Preise gesunken, daß Sie sie für nchts rechnen? fragte Villeroi, indem er auf die Pretiosen deutete. Mein Lieber, entgegnete Marigny. diese Dinge gehören, wie du weißt, nicht mehr mir. Ich habe nie vernommen, daß ein Testator sein eignes Testament hinterher angefochten hätte. Erbschaften können doch erst angetreten werden, wenn der Erblasser auch wirklich gestorben ist, bemerkte Henri. Kinder, ihr werdet doch nicht verlangen, daß euer Vater, bloß um eine solche Formalität zu erfüllen, sich hinlege und sterbe? Marguerite hatte inzwischen die Kapseln mit den Schmucksachen wieder in die Kassette gelegt und den Deckel ins Schloß fallen lassen. Ihr Mann zog das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/379>, abgerufen am 23.11.2024.