Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.Der Marquis von Marigny liegen lassen konnte, weil das Sprichwort, daß böse Beispiele gute Sitten ver¬ Etwa um die nämliche Zeit flössen auch noch in einem zweiten Hanse der Villeroi, der seit der Abreise seines Schwiegervaters jeden Tag zur Post- Wenn Henri und Marguerite auch keine" Augenblick gezweifelt hatten, daß Er holte die Kiste nun aus ihrem Bersteck hervor und öffnete sie in Gegen¬ Meine Arbeit ist getan, sagte Villeroi, indem er die Zange beiseite legte und Marguerite erbrach mit zitternden Fingern die Siegel, band das Schlüsselchen Meine geliebte Tochter! Wenn du diese Zeilen zu Gesicht bekommen wirst, werde ich nicht mehr unter Der Marquis von Marigny liegen lassen konnte, weil das Sprichwort, daß böse Beispiele gute Sitten ver¬ Etwa um die nämliche Zeit flössen auch noch in einem zweiten Hanse der Villeroi, der seit der Abreise seines Schwiegervaters jeden Tag zur Post- Wenn Henri und Marguerite auch keine» Augenblick gezweifelt hatten, daß Er holte die Kiste nun aus ihrem Bersteck hervor und öffnete sie in Gegen¬ Meine Arbeit ist getan, sagte Villeroi, indem er die Zange beiseite legte und Marguerite erbrach mit zitternden Fingern die Siegel, band das Schlüsselchen Meine geliebte Tochter! Wenn du diese Zeilen zu Gesicht bekommen wirst, werde ich nicht mehr unter <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0376" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/241590"/> <fw type="header" place="top"> Der Marquis von Marigny</fw><lb/> <p xml:id="ID_1448" prev="#ID_1447"> liegen lassen konnte, weil das Sprichwort, daß böse Beispiele gute Sitten ver¬<lb/> derben, nirgends mehr Giltigkeit als gerade in der Obstkammer hat. Sie nahm<lb/> sie von ihrem Siechenbett ans Stroh auf und öffnete das Fenster, um sie nach<lb/> ihrer alten Gepflogenheit ins Freie zu befördern. Da sie aber nicht ganz bei der<lb/> Sache war, schleuderte sie den guten Apfel ins Ungewisse und behielt dafür die<lb/> faulen in ihrer Schürze zurück. Als sie dann, in ihrer Wohnstube wieder ange¬<lb/> langt, das Versehen bemerkte, konnte sie nicht umhin, eine gewisse Ähnlichkeit<lb/> zwischen ihrer Handlungsweise und der des Schicksals festzustellen. Und unter<lb/> einem erneuten Tränengusse stammelte sie: Der beste von alleu hat untergehn<lb/> müssen, und die andern, die gar nichts langen, leben ruhig weiter!</p><lb/> <p xml:id="ID_1449"> Etwa um die nämliche Zeit flössen auch noch in einem zweiten Hanse der<lb/> Stadt um den Marquis vou Marigny Tränen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1450"> Villeroi, der seit der Abreise seines Schwiegervaters jeden Tag zur Post-<lb/> halterei gegangen war, um nach Briefen zu fragen, war, als er wieder einmal<lb/> vorsprach, in das Privatzimmer des Postmeisters geführt worden, wo man ihn von<lb/> dem in Trier erfolgten Tode des alten Herrn in Kenntnis setzte. Der Postillon,<lb/> der am letzten Samstag von Kochen gekommen sei, habe die Nachricht mitgebracht,<lb/> es sei derselbe, der den Verstorbnen vor acht Tagen bis zur ersten Station ge¬<lb/> fahren habe und thu daher genau kenne und zu beschreiben vermöge. Nach allem,<lb/> was der Mann gesagt habe, dürfe man leider nicht daran zweifeln, daß der Herr<lb/> Marquis in der Tat der alte Franzose wäre, dessen Ermordung letzten Freitag in<lb/> Kochen durch Reisende, die aus Trier gekommen waren, gemeldet worden sei.</p><lb/> <p xml:id="ID_1451"> Wenn Henri und Marguerite auch keine» Augenblick gezweifelt hatten, daß<lb/> Marigny das Ziel seiner Reise unter den gegenwärtigen Umständen nie erreichen<lb/> werde, so wurden sie doch durch die so bald schon eingelnufue Nachricht von seinem<lb/> Tode muss höchste überrascht und erschüttert. Sie machten sich Vorwürfe, weil sie<lb/> jeden Versuch unterlassen hatte», den Vater vou seinem tollkühnen Vorsatz abzu¬<lb/> bringen, und suchten sich zugleich wieder vor sich selbst mit dem Hinweis ans die<lb/> plötzliche Abreise, die einen solchen Versuch unmöglich gemacht habe, zu rechtfertigen.<lb/> Sie hatten beide mit ihrem Kummer soviel zu tun, daß Henri sich erst nach einigen<lb/> Tagen der mit der Annahme der bewußten Kiste übernommnen Verpflichtung ent¬<lb/> sann, die darin eingeschlossene Kassette weiter zu befördern.</p><lb/> <p xml:id="ID_1452"> Er holte die Kiste nun aus ihrem Bersteck hervor und öffnete sie in Gegen¬<lb/> wart seiner Frau. Das versiegelte Papier, das am Deckel des eisernen Kästchens<lb/> befestigt war und offenbar den Schlüssel enthielt, trug die Aufschrift: „An Frau<lb/> Marguerite von Villeroi, geborne Marquise von Marigny."</p><lb/> <p xml:id="ID_1453"> Meine Arbeit ist getan, sagte Villeroi, indem er die Zange beiseite legte und<lb/> den Verband seiner Hand, der sich verschoben hatte, wieder in Ordnung brachte,<lb/> ich übergebe dir hiermit die Kassette in dem Zustande, wie ich sie der Kiste ent¬<lb/> nommen habe.</p><lb/> <p xml:id="ID_1454"> Marguerite erbrach mit zitternden Fingern die Siegel, band das Schlüsselchen<lb/> los und ließ den Deckel aufspringen. Sie fand znnüchst einen Brief, den sie hastig<lb/> auseinanderfaltete und mit ruhiger, nur zweimal von Schluchzen unterbrochner<lb/> Stimme dem Gatten vorlas. 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Der Marquis von Marigny
liegen lassen konnte, weil das Sprichwort, daß böse Beispiele gute Sitten ver¬
derben, nirgends mehr Giltigkeit als gerade in der Obstkammer hat. Sie nahm
sie von ihrem Siechenbett ans Stroh auf und öffnete das Fenster, um sie nach
ihrer alten Gepflogenheit ins Freie zu befördern. Da sie aber nicht ganz bei der
Sache war, schleuderte sie den guten Apfel ins Ungewisse und behielt dafür die
faulen in ihrer Schürze zurück. Als sie dann, in ihrer Wohnstube wieder ange¬
langt, das Versehen bemerkte, konnte sie nicht umhin, eine gewisse Ähnlichkeit
zwischen ihrer Handlungsweise und der des Schicksals festzustellen. Und unter
einem erneuten Tränengusse stammelte sie: Der beste von alleu hat untergehn
müssen, und die andern, die gar nichts langen, leben ruhig weiter!
Etwa um die nämliche Zeit flössen auch noch in einem zweiten Hanse der
Stadt um den Marquis vou Marigny Tränen.
Villeroi, der seit der Abreise seines Schwiegervaters jeden Tag zur Post-
halterei gegangen war, um nach Briefen zu fragen, war, als er wieder einmal
vorsprach, in das Privatzimmer des Postmeisters geführt worden, wo man ihn von
dem in Trier erfolgten Tode des alten Herrn in Kenntnis setzte. Der Postillon,
der am letzten Samstag von Kochen gekommen sei, habe die Nachricht mitgebracht,
es sei derselbe, der den Verstorbnen vor acht Tagen bis zur ersten Station ge¬
fahren habe und thu daher genau kenne und zu beschreiben vermöge. Nach allem,
was der Mann gesagt habe, dürfe man leider nicht daran zweifeln, daß der Herr
Marquis in der Tat der alte Franzose wäre, dessen Ermordung letzten Freitag in
Kochen durch Reisende, die aus Trier gekommen waren, gemeldet worden sei.
Wenn Henri und Marguerite auch keine» Augenblick gezweifelt hatten, daß
Marigny das Ziel seiner Reise unter den gegenwärtigen Umständen nie erreichen
werde, so wurden sie doch durch die so bald schon eingelnufue Nachricht von seinem
Tode muss höchste überrascht und erschüttert. Sie machten sich Vorwürfe, weil sie
jeden Versuch unterlassen hatte», den Vater vou seinem tollkühnen Vorsatz abzu¬
bringen, und suchten sich zugleich wieder vor sich selbst mit dem Hinweis ans die
plötzliche Abreise, die einen solchen Versuch unmöglich gemacht habe, zu rechtfertigen.
Sie hatten beide mit ihrem Kummer soviel zu tun, daß Henri sich erst nach einigen
Tagen der mit der Annahme der bewußten Kiste übernommnen Verpflichtung ent¬
sann, die darin eingeschlossene Kassette weiter zu befördern.
Er holte die Kiste nun aus ihrem Bersteck hervor und öffnete sie in Gegen¬
wart seiner Frau. Das versiegelte Papier, das am Deckel des eisernen Kästchens
befestigt war und offenbar den Schlüssel enthielt, trug die Aufschrift: „An Frau
Marguerite von Villeroi, geborne Marquise von Marigny."
Meine Arbeit ist getan, sagte Villeroi, indem er die Zange beiseite legte und
den Verband seiner Hand, der sich verschoben hatte, wieder in Ordnung brachte,
ich übergebe dir hiermit die Kassette in dem Zustande, wie ich sie der Kiste ent¬
nommen habe.
Marguerite erbrach mit zitternden Fingern die Siegel, band das Schlüsselchen
los und ließ den Deckel aufspringen. Sie fand znnüchst einen Brief, den sie hastig
auseinanderfaltete und mit ruhiger, nur zweimal von Schluchzen unterbrochner
Stimme dem Gatten vorlas. Er lautete:
Meine geliebte Tochter!
Wenn du diese Zeilen zu Gesicht bekommen wirst, werde ich nicht mehr unter
den Lebenden weilen. Aber welches Schicksal mir auch bestimmt sein mag, das
eine weiß ich gewiß: mein letzter Gedanke wird meine Marguerite sein, und den
letzten Atemzug werde ich dazu verwenden, dich und die Deinen zu segnen. Was
zwischen uns gelegen hat, vergiß es, wie ich es längst vergessen habe. Ich habe
nie aufgehört, dich zu lieben, ja als einer, der sich zum Sterben bereit macht,
darf ich es bekennen: ich habe dich nie heißer geliebt, als von dem Augenblick an,
wo ich dich verloren hatte. Was uns trennte, war das, was uns auch verband:
das Blut der Marignys. Deinen Gatten bitte ich für all die Kränkungen, die ich
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