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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Deutsch,: Rechtsaltertünier in unsrer heutigen deutschen Sprache

Zeit überliefert hat. So mag damals trotz der zahlreichen, aber immer wieder
übertretnen Landfriedensgesetze die Unsicherheit, besonders ans den Heerstraßen,
oft groß genug gewesen sein, sodnß "dem Frieden" oder genauer "dem Land¬
frieden nicht zu trauen" war, wie wir noch heute zu sagen Pflegen,
wenn uns etwas nicht recht glaubwürdig, sicher oder "geheuer" erscheint. Eine
andre, dem modernen Strafrecht glücklicherweise -- gleich den Raubrittern --
unbekannte besondre Gattung von Missetätern, und zwar weiblichen Geschlechts,
waren in älterer Zeit die Hexen oder vielmehr die unglücklichen Opfer, die ein
fanatischer Aberglaube für solche mit zauberischen, überirdischen Kräften ausgestattete
Wesen hielt., Mit dein Aufhören der entsetzlichen Hexenprozesse sind mich die ver¬
meintlichen Übeltäter, die man einst den Hexen zuschrieb (ausführlich geschildert z. B.
in den Kapiteln XI ff. des berüchtigten, von den Inquisitoren anch als Gesetz
gehandhabten "Hexeuhmnmers" von 1487, gedruckt 1489), im wesentlichen in
Vergessenheit geraten. Nur ein darauf bezüglicher Ausdruck hat sich im allge¬
meinen Sprachgebrauch bis in die Gegenwart hinein zu erhalten vermocht,
nämlich der "Hexenschuß" (für plötzlich eintretende rheumatische oder gichtische
Steifheit, besonders des Kreuzes), der noch gar manchem von uns Kindern des
zwanzigsten Jahrhunderts zu schaffen macht, obwohl Nur doch an die Ent¬
sendung unsichtbarer, Krankheit dringender Geschosse dnrch Hexen und böse Geister
schon längst nicht mehr glauben.'

Die allgemeinen Lehren des Strafrechts haben in der neuern Zeit
^ zum Teil infolge der Einwirkung des römischen und des kirchlichen Rechts --
ein wesentlich andres Gepräge erhalten, als sie uns zu deu Zeiten des Tacitus,
ja auch "och nach den Volksrechten und den frühmittelalterlichen Rechtsquellen
zeigen. Namentlich haben wir seitdem in der Zurechnung einer Handlang zur
Schuld ""verkennbare Fortschritte gemacht, indem wir von dem ursprünglichen,
vielen Naturvölker" "och jetzt geläufigen Prinzip bedingungsloser Haftung für
den äußern Erfolg, den das'altdeutsche Rechtssprichwort "Die Tat tötet den
Mann" (französisch: "ig !ni> feig'o 1'iwimnv") zutreffend bezeichnet, allmählich
zu immer feinerer Berücksichtigung des schuldhaften Willens vorgedrungen sind
(Unterscheidung zwischen Fahrlässigkeit, Vorsatz und Absicht; Strafbarkeit des
Versuchs und einzelner Vvrbereitnitgshandlungen). In einem wichtigen Grund¬
sätze der Schuldlehre stimmt aber das moderne Recht noch mit dein der alten
Germanen überein. darin nämlich, daß "bloße Bewegungen des Gemüts," also rein
innerliche Vorgänge, die noch gar nicht in äußern Handlungen hervorgetreten
sind, "für den menschlichen Richter, der nicht "Herz und Nieren" prüfen kann,
unzugänglich und daher straflos" sein müssen. (Reyscher in der "Zeitschrift
für deutsches Recht," Jahrg. V. 1841, S. 190.) Während nnn das abstrakt
denkende römische Recht dieses Prinzip mit den Worten: "(ZliAtatwm" xvvuaM
uomo Miwi" ausdrückte (vgl. l. 18. v. 48, 19), haben unsre Vorfahren dafür
einige Rechtssprichwörter gebildet, die dasselbe in einer konkreter", aber nicht
weniger deutlichen Form sagen. So heißt es z. B.: "Ums Denken kann man
niemand henken" oder "Schweigen und Denken tut niemand kränken"
oder auch in ungereimter Rede "Gedanken sind zollfrei" (anch wohl mit
dem Zusätze: "aber uicht höllenfrei"), indem unsern Altvordern "bei der Vor¬
stellung von der Innerlichkeit des Denkens und Empfindens das Bild vom
Zolle vorschwebte, das freilich in Deutschland immer sehr nahe lag" (Rehscher,
a- a. O., S. 191). Gerade diese letzte Fassung des Sprichworts ist aber be¬
kanntlich bis in die Gegenwart hinein bei uns auch in einem ganz allgemeinen,
keineswegs mehr bloß ans die ursprüngliche Bedeutung beschränkten Gebrauche
geblieben -- eine Erscheinung, zu der sich noch manche Seitenstücke anführen
lassen. So bezog sich z. V. anch das Sprichwort: "Not kennt kein Gebot" (oder
"Not bricht Eisen") einst wohl nur auf die Not im strafrechtlichen Sinne, den
"Notstand" und die "Notwehr," ebenso wie ganz ohne Zmeifel das bekannte


Deutsch,: Rechtsaltertünier in unsrer heutigen deutschen Sprache

Zeit überliefert hat. So mag damals trotz der zahlreichen, aber immer wieder
übertretnen Landfriedensgesetze die Unsicherheit, besonders ans den Heerstraßen,
oft groß genug gewesen sein, sodnß „dem Frieden" oder genauer „dem Land¬
frieden nicht zu trauen" war, wie wir noch heute zu sagen Pflegen,
wenn uns etwas nicht recht glaubwürdig, sicher oder „geheuer" erscheint. Eine
andre, dem modernen Strafrecht glücklicherweise — gleich den Raubrittern —
unbekannte besondre Gattung von Missetätern, und zwar weiblichen Geschlechts,
waren in älterer Zeit die Hexen oder vielmehr die unglücklichen Opfer, die ein
fanatischer Aberglaube für solche mit zauberischen, überirdischen Kräften ausgestattete
Wesen hielt., Mit dein Aufhören der entsetzlichen Hexenprozesse sind mich die ver¬
meintlichen Übeltäter, die man einst den Hexen zuschrieb (ausführlich geschildert z. B.
in den Kapiteln XI ff. des berüchtigten, von den Inquisitoren anch als Gesetz
gehandhabten „Hexeuhmnmers" von 1487, gedruckt 1489), im wesentlichen in
Vergessenheit geraten. Nur ein darauf bezüglicher Ausdruck hat sich im allge¬
meinen Sprachgebrauch bis in die Gegenwart hinein zu erhalten vermocht,
nämlich der „Hexenschuß" (für plötzlich eintretende rheumatische oder gichtische
Steifheit, besonders des Kreuzes), der noch gar manchem von uns Kindern des
zwanzigsten Jahrhunderts zu schaffen macht, obwohl Nur doch an die Ent¬
sendung unsichtbarer, Krankheit dringender Geschosse dnrch Hexen und böse Geister
schon längst nicht mehr glauben.'

Die allgemeinen Lehren des Strafrechts haben in der neuern Zeit
^ zum Teil infolge der Einwirkung des römischen und des kirchlichen Rechts —
ein wesentlich andres Gepräge erhalten, als sie uns zu deu Zeiten des Tacitus,
ja auch „och nach den Volksrechten und den frühmittelalterlichen Rechtsquellen
zeigen. Namentlich haben wir seitdem in der Zurechnung einer Handlang zur
Schuld »»verkennbare Fortschritte gemacht, indem wir von dem ursprünglichen,
vielen Naturvölker» »och jetzt geläufigen Prinzip bedingungsloser Haftung für
den äußern Erfolg, den das'altdeutsche Rechtssprichwort „Die Tat tötet den
Mann" (französisch: „ig !ni> feig'o 1'iwimnv") zutreffend bezeichnet, allmählich
zu immer feinerer Berücksichtigung des schuldhaften Willens vorgedrungen sind
(Unterscheidung zwischen Fahrlässigkeit, Vorsatz und Absicht; Strafbarkeit des
Versuchs und einzelner Vvrbereitnitgshandlungen). In einem wichtigen Grund¬
sätze der Schuldlehre stimmt aber das moderne Recht noch mit dein der alten
Germanen überein. darin nämlich, daß „bloße Bewegungen des Gemüts," also rein
innerliche Vorgänge, die noch gar nicht in äußern Handlungen hervorgetreten
sind, „für den menschlichen Richter, der nicht »Herz und Nieren« prüfen kann,
unzugänglich und daher straflos" sein müssen. (Reyscher in der „Zeitschrift
für deutsches Recht," Jahrg. V. 1841, S. 190.) Während nnn das abstrakt
denkende römische Recht dieses Prinzip mit den Worten: „(ZliAtatwm» xvvuaM
uomo Miwi" ausdrückte (vgl. l. 18. v. 48, 19), haben unsre Vorfahren dafür
einige Rechtssprichwörter gebildet, die dasselbe in einer konkreter», aber nicht
weniger deutlichen Form sagen. So heißt es z. B.: „Ums Denken kann man
niemand henken" oder „Schweigen und Denken tut niemand kränken"
oder auch in ungereimter Rede „Gedanken sind zollfrei" (anch wohl mit
dem Zusätze: „aber uicht höllenfrei"), indem unsern Altvordern „bei der Vor¬
stellung von der Innerlichkeit des Denkens und Empfindens das Bild vom
Zolle vorschwebte, das freilich in Deutschland immer sehr nahe lag" (Rehscher,
a- a. O., S. 191). Gerade diese letzte Fassung des Sprichworts ist aber be¬
kanntlich bis in die Gegenwart hinein bei uns auch in einem ganz allgemeinen,
keineswegs mehr bloß ans die ursprüngliche Bedeutung beschränkten Gebrauche
geblieben — eine Erscheinung, zu der sich noch manche Seitenstücke anführen
lassen. So bezog sich z. V. anch das Sprichwort: „Not kennt kein Gebot" (oder
„Not bricht Eisen") einst wohl nur auf die Not im strafrechtlichen Sinne, den
„Notstand" und die „Notwehr," ebenso wie ganz ohne Zmeifel das bekannte


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[0367] Deutsch,: Rechtsaltertünier in unsrer heutigen deutschen Sprache Zeit überliefert hat. So mag damals trotz der zahlreichen, aber immer wieder übertretnen Landfriedensgesetze die Unsicherheit, besonders ans den Heerstraßen, oft groß genug gewesen sein, sodnß „dem Frieden" oder genauer „dem Land¬ frieden nicht zu trauen" war, wie wir noch heute zu sagen Pflegen, wenn uns etwas nicht recht glaubwürdig, sicher oder „geheuer" erscheint. Eine andre, dem modernen Strafrecht glücklicherweise — gleich den Raubrittern — unbekannte besondre Gattung von Missetätern, und zwar weiblichen Geschlechts, waren in älterer Zeit die Hexen oder vielmehr die unglücklichen Opfer, die ein fanatischer Aberglaube für solche mit zauberischen, überirdischen Kräften ausgestattete Wesen hielt., Mit dein Aufhören der entsetzlichen Hexenprozesse sind mich die ver¬ meintlichen Übeltäter, die man einst den Hexen zuschrieb (ausführlich geschildert z. B. in den Kapiteln XI ff. des berüchtigten, von den Inquisitoren anch als Gesetz gehandhabten „Hexeuhmnmers" von 1487, gedruckt 1489), im wesentlichen in Vergessenheit geraten. Nur ein darauf bezüglicher Ausdruck hat sich im allge¬ meinen Sprachgebrauch bis in die Gegenwart hinein zu erhalten vermocht, nämlich der „Hexenschuß" (für plötzlich eintretende rheumatische oder gichtische Steifheit, besonders des Kreuzes), der noch gar manchem von uns Kindern des zwanzigsten Jahrhunderts zu schaffen macht, obwohl Nur doch an die Ent¬ sendung unsichtbarer, Krankheit dringender Geschosse dnrch Hexen und böse Geister schon längst nicht mehr glauben.' Die allgemeinen Lehren des Strafrechts haben in der neuern Zeit ^ zum Teil infolge der Einwirkung des römischen und des kirchlichen Rechts — ein wesentlich andres Gepräge erhalten, als sie uns zu deu Zeiten des Tacitus, ja auch „och nach den Volksrechten und den frühmittelalterlichen Rechtsquellen zeigen. Namentlich haben wir seitdem in der Zurechnung einer Handlang zur Schuld »»verkennbare Fortschritte gemacht, indem wir von dem ursprünglichen, vielen Naturvölker» »och jetzt geläufigen Prinzip bedingungsloser Haftung für den äußern Erfolg, den das'altdeutsche Rechtssprichwort „Die Tat tötet den Mann" (französisch: „ig !ni> feig'o 1'iwimnv") zutreffend bezeichnet, allmählich zu immer feinerer Berücksichtigung des schuldhaften Willens vorgedrungen sind (Unterscheidung zwischen Fahrlässigkeit, Vorsatz und Absicht; Strafbarkeit des Versuchs und einzelner Vvrbereitnitgshandlungen). In einem wichtigen Grund¬ sätze der Schuldlehre stimmt aber das moderne Recht noch mit dein der alten Germanen überein. darin nämlich, daß „bloße Bewegungen des Gemüts," also rein innerliche Vorgänge, die noch gar nicht in äußern Handlungen hervorgetreten sind, „für den menschlichen Richter, der nicht »Herz und Nieren« prüfen kann, unzugänglich und daher straflos" sein müssen. (Reyscher in der „Zeitschrift für deutsches Recht," Jahrg. V. 1841, S. 190.) Während nnn das abstrakt denkende römische Recht dieses Prinzip mit den Worten: „(ZliAtatwm» xvvuaM uomo Miwi" ausdrückte (vgl. l. 18. v. 48, 19), haben unsre Vorfahren dafür einige Rechtssprichwörter gebildet, die dasselbe in einer konkreter», aber nicht weniger deutlichen Form sagen. So heißt es z. B.: „Ums Denken kann man niemand henken" oder „Schweigen und Denken tut niemand kränken" oder auch in ungereimter Rede „Gedanken sind zollfrei" (anch wohl mit dem Zusätze: „aber uicht höllenfrei"), indem unsern Altvordern „bei der Vor¬ stellung von der Innerlichkeit des Denkens und Empfindens das Bild vom Zolle vorschwebte, das freilich in Deutschland immer sehr nahe lag" (Rehscher, a- a. O., S. 191). Gerade diese letzte Fassung des Sprichworts ist aber be¬ kanntlich bis in die Gegenwart hinein bei uns auch in einem ganz allgemeinen, keineswegs mehr bloß ans die ursprüngliche Bedeutung beschränkten Gebrauche geblieben — eine Erscheinung, zu der sich noch manche Seitenstücke anführen lassen. So bezog sich z. V. anch das Sprichwort: „Not kennt kein Gebot" (oder „Not bricht Eisen") einst wohl nur auf die Not im strafrechtlichen Sinne, den „Notstand" und die „Notwehr," ebenso wie ganz ohne Zmeifel das bekannte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/367>, abgerufen am 25.11.2024.