Wenn ich den Dorfbewohnern die notwendigsten Güter abnehme und in die Stadt bringe, um sie da genießen zu lassen, und wenn ich dann die, die mir aus Not gefolgt sind, durch meinen unsinnigen Luxus verführe und verderbe -- wer bin ich dann, der ich diesen Menschen helfen will? Ich arbeite ja nicht. Ich sehe, daß die Erzeugnisse der menschlichen Arbeit immer mehr aus den Hände" des arbeitenden Volks in die der nichtarbeitenden übergehn, daß den Menschen an Stelle des Ideals eines arbeitsvollen Lebens das Ideal des Geldbeutels erstanden ist. So kam es, daß ich fühlte, im Gelde selbst lüge etwas häßliches und unsittliches, ich fragte mich daher: Was ist Geld? Manche gebildeten Menschen behaupten, es stelle Arbeit dar und sogar die Arbeit derer, die es haben; er selbst hat zu seinem Bedauern früher diese Meinung geteilt, nun aber wendet er sich um Auskunft an die Wissenschaft, und der Leser, der bisher sein Gefühl zur Teilnahme hat anregen lassen, bekommt zum erstenmal eine Probe davon, wie der Sozialethiker Tolstoi seinen Verstand gebraucht. Wenn sich die Pseudowissenschaft der Nationalökonomen, die das Geld als Ware oder Tauschmittel betrachten, nicht wie alle juristische Wissenschaft das Ziel gesetzt Hütte, eine Apologie der Gewalt zu liefern, so könnte sie sich nicht der Erscheinung verschließen, daß die Verteilung des Reichtums, die Aus¬ schließung eines Teils der Menschheit von Laud- und Kapitalbesitz und die Knechtung der eiuen durch die audern nnr Folgen des Geldes sind. Die Sklaverei unsrer Zeit wird durch die Gewalt des Militarismus, die Aneignung des Grund und Bodens und die Erhebung von Geldsteuern erzeugt. Wer von der Mitschuld an diesem Zustand befreit werden will, muß aufhören, sich fremde Arbeit zunutze zu machen, sowohl durch Grundbesitz, als auch dadurch, daß er der Negierung dient, wie auch durch Geld. Dieser einfache Schluß ver¬ nichtet mit einem Schlage alle drei Ursachen, die uns hindern, den Armen zu helfen: die Ansammlung der Menschen in den Städten, die Trennung der Reichen und der Armen und den unsittlichen Zustand des Geldbesitzes. Der Mensch braucht nur darauf zu verzichten, Nutzen aus fremder Arbeit ziehn zu wollen, der Negierung zu dienen, Grund und Boden und Geld zu haben, er braucht nnr nach Möglichkeit seine Bedürfnisse selbst zu befriedigen, so wird es ihm nie in den Sinn kommen, das Dorf zu verlassen und in die Stadt zu zieh", so wird er mit dem arbeitenden Volke verschmelzen, so wird das über¬ flüssige, unnütze Geld aus unsern Taschen verschwinden. Dieses "er braucht nur," an dem alle Folgerungen hängen, hat sich bekanntlich der Menschenfreund Tolstoi aus freiem Willen auferlegt, da aber keine Macht die übrigen zwingen kann, ebenso zu tun, so bleibt sein Weltverbcsseruugsplan eine Utopie, für die die großen Kräfte des sozialen Lebens nicht existieren, der Trieb des Einzelnen zum Aufsteigen, der Verkehr, die Industrie, der Handel, kurz die ganze Welt¬ geschichte. Und doch könnte ihn schon der kleinste Vorfall im Alltäglichen lehren, wie alles miteinander zusammenhängt. "Mein Sohn schläft bis elf Uhr Morgens, er entschuldigt sich, es sei Feiertag, und der Bauernbursche im gleichen Alter ist schon früh aufgestanden und heizt nun schon den zehnten Ofen, während er schläft. Wenn der Mensch doch wenigstens nicht den Ofen heizen wollte, um diesen faule"! Leib zu erwärmen, dachte ich bei mir, aber ich erinnerte mich
Tolstoi
Wenn ich den Dorfbewohnern die notwendigsten Güter abnehme und in die Stadt bringe, um sie da genießen zu lassen, und wenn ich dann die, die mir aus Not gefolgt sind, durch meinen unsinnigen Luxus verführe und verderbe — wer bin ich dann, der ich diesen Menschen helfen will? Ich arbeite ja nicht. Ich sehe, daß die Erzeugnisse der menschlichen Arbeit immer mehr aus den Hände» des arbeitenden Volks in die der nichtarbeitenden übergehn, daß den Menschen an Stelle des Ideals eines arbeitsvollen Lebens das Ideal des Geldbeutels erstanden ist. So kam es, daß ich fühlte, im Gelde selbst lüge etwas häßliches und unsittliches, ich fragte mich daher: Was ist Geld? Manche gebildeten Menschen behaupten, es stelle Arbeit dar und sogar die Arbeit derer, die es haben; er selbst hat zu seinem Bedauern früher diese Meinung geteilt, nun aber wendet er sich um Auskunft an die Wissenschaft, und der Leser, der bisher sein Gefühl zur Teilnahme hat anregen lassen, bekommt zum erstenmal eine Probe davon, wie der Sozialethiker Tolstoi seinen Verstand gebraucht. Wenn sich die Pseudowissenschaft der Nationalökonomen, die das Geld als Ware oder Tauschmittel betrachten, nicht wie alle juristische Wissenschaft das Ziel gesetzt Hütte, eine Apologie der Gewalt zu liefern, so könnte sie sich nicht der Erscheinung verschließen, daß die Verteilung des Reichtums, die Aus¬ schließung eines Teils der Menschheit von Laud- und Kapitalbesitz und die Knechtung der eiuen durch die audern nnr Folgen des Geldes sind. Die Sklaverei unsrer Zeit wird durch die Gewalt des Militarismus, die Aneignung des Grund und Bodens und die Erhebung von Geldsteuern erzeugt. Wer von der Mitschuld an diesem Zustand befreit werden will, muß aufhören, sich fremde Arbeit zunutze zu machen, sowohl durch Grundbesitz, als auch dadurch, daß er der Negierung dient, wie auch durch Geld. Dieser einfache Schluß ver¬ nichtet mit einem Schlage alle drei Ursachen, die uns hindern, den Armen zu helfen: die Ansammlung der Menschen in den Städten, die Trennung der Reichen und der Armen und den unsittlichen Zustand des Geldbesitzes. Der Mensch braucht nur darauf zu verzichten, Nutzen aus fremder Arbeit ziehn zu wollen, der Negierung zu dienen, Grund und Boden und Geld zu haben, er braucht nnr nach Möglichkeit seine Bedürfnisse selbst zu befriedigen, so wird es ihm nie in den Sinn kommen, das Dorf zu verlassen und in die Stadt zu zieh», so wird er mit dem arbeitenden Volke verschmelzen, so wird das über¬ flüssige, unnütze Geld aus unsern Taschen verschwinden. Dieses „er braucht nur," an dem alle Folgerungen hängen, hat sich bekanntlich der Menschenfreund Tolstoi aus freiem Willen auferlegt, da aber keine Macht die übrigen zwingen kann, ebenso zu tun, so bleibt sein Weltverbcsseruugsplan eine Utopie, für die die großen Kräfte des sozialen Lebens nicht existieren, der Trieb des Einzelnen zum Aufsteigen, der Verkehr, die Industrie, der Handel, kurz die ganze Welt¬ geschichte. Und doch könnte ihn schon der kleinste Vorfall im Alltäglichen lehren, wie alles miteinander zusammenhängt. „Mein Sohn schläft bis elf Uhr Morgens, er entschuldigt sich, es sei Feiertag, und der Bauernbursche im gleichen Alter ist schon früh aufgestanden und heizt nun schon den zehnten Ofen, während er schläft. Wenn der Mensch doch wenigstens nicht den Ofen heizen wollte, um diesen faule»! Leib zu erwärmen, dachte ich bei mir, aber ich erinnerte mich
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[0035]
Tolstoi
Wenn ich den Dorfbewohnern die notwendigsten Güter abnehme und in die
Stadt bringe, um sie da genießen zu lassen, und wenn ich dann die, die mir
aus Not gefolgt sind, durch meinen unsinnigen Luxus verführe und verderbe —
wer bin ich dann, der ich diesen Menschen helfen will? Ich arbeite ja nicht.
Ich sehe, daß die Erzeugnisse der menschlichen Arbeit immer mehr aus den
Hände» des arbeitenden Volks in die der nichtarbeitenden übergehn, daß den
Menschen an Stelle des Ideals eines arbeitsvollen Lebens das Ideal des
Geldbeutels erstanden ist. So kam es, daß ich fühlte, im Gelde selbst lüge
etwas häßliches und unsittliches, ich fragte mich daher: Was ist Geld? Manche
gebildeten Menschen behaupten, es stelle Arbeit dar und sogar die Arbeit derer,
die es haben; er selbst hat zu seinem Bedauern früher diese Meinung geteilt,
nun aber wendet er sich um Auskunft an die Wissenschaft, und der Leser, der
bisher sein Gefühl zur Teilnahme hat anregen lassen, bekommt zum erstenmal
eine Probe davon, wie der Sozialethiker Tolstoi seinen Verstand gebraucht.
Wenn sich die Pseudowissenschaft der Nationalökonomen, die das Geld als
Ware oder Tauschmittel betrachten, nicht wie alle juristische Wissenschaft das
Ziel gesetzt Hütte, eine Apologie der Gewalt zu liefern, so könnte sie sich
nicht der Erscheinung verschließen, daß die Verteilung des Reichtums, die Aus¬
schließung eines Teils der Menschheit von Laud- und Kapitalbesitz und die
Knechtung der eiuen durch die audern nnr Folgen des Geldes sind. Die
Sklaverei unsrer Zeit wird durch die Gewalt des Militarismus, die Aneignung
des Grund und Bodens und die Erhebung von Geldsteuern erzeugt. Wer von
der Mitschuld an diesem Zustand befreit werden will, muß aufhören, sich
fremde Arbeit zunutze zu machen, sowohl durch Grundbesitz, als auch dadurch,
daß er der Negierung dient, wie auch durch Geld. Dieser einfache Schluß ver¬
nichtet mit einem Schlage alle drei Ursachen, die uns hindern, den Armen zu
helfen: die Ansammlung der Menschen in den Städten, die Trennung der
Reichen und der Armen und den unsittlichen Zustand des Geldbesitzes. Der
Mensch braucht nur darauf zu verzichten, Nutzen aus fremder Arbeit ziehn zu
wollen, der Negierung zu dienen, Grund und Boden und Geld zu haben, er
braucht nnr nach Möglichkeit seine Bedürfnisse selbst zu befriedigen, so wird es
ihm nie in den Sinn kommen, das Dorf zu verlassen und in die Stadt zu
zieh», so wird er mit dem arbeitenden Volke verschmelzen, so wird das über¬
flüssige, unnütze Geld aus unsern Taschen verschwinden. Dieses „er braucht
nur," an dem alle Folgerungen hängen, hat sich bekanntlich der Menschenfreund
Tolstoi aus freiem Willen auferlegt, da aber keine Macht die übrigen zwingen
kann, ebenso zu tun, so bleibt sein Weltverbcsseruugsplan eine Utopie, für die
die großen Kräfte des sozialen Lebens nicht existieren, der Trieb des Einzelnen
zum Aufsteigen, der Verkehr, die Industrie, der Handel, kurz die ganze Welt¬
geschichte. Und doch könnte ihn schon der kleinste Vorfall im Alltäglichen lehren,
wie alles miteinander zusammenhängt. „Mein Sohn schläft bis elf Uhr Morgens,
er entschuldigt sich, es sei Feiertag, und der Bauernbursche im gleichen Alter
ist schon früh aufgestanden und heizt nun schon den zehnten Ofen, während
er schläft. Wenn der Mensch doch wenigstens nicht den Ofen heizen wollte,
um diesen faule»! Leib zu erwärmen, dachte ich bei mir, aber ich erinnerte mich
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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/35>, abgerufen am 25.11.2024.
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